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Nepomuk, das kleine Kaiserkrokodil
"Es geht los!"
Der aufgeregte Ruf weckt die Kaiserkrokodile aus ihrem Mittagsschlaf.
Die Zeit des großen Schlüpfens hat begonnen.
"Oh, seht doch, da ist ein Riss in der Eierschale."
"Da, die Nasenspitze guckt schon raus."
Innerhalb weniger Minuten hat sich das beschauliche Nilufer in eine wilde Kinderstube verwandelt.
"Lukas, nicht so schnell"
"Emma, bleib hier, du hast noch Schale hinter den Ohren"
"Anton? Hat jemand Anton gesehen?"
Die kleinen Krokos sind nicht zu bremsen. Unbeholfen tapsen sie zwischen den Resten der Eierschalen umher, stets verfolgt von ihren besorgten Müttern. Hektisch versuchen diese, ihre Gruppe zusammen zu halten.
Begleitet wird dieses schweißtreibende Unterfangen von einem einzigen Ruf aus Dutzenden kleiner Krokokodilkehlen: "Huuungeeer!"
Geschäftig eilen Mütter und Väter zwischen den Gelegen hin und her, um den lieben Kleinen das Bäuchlein zu füllen.
Nur ein Ei liegt immer noch unversehrt in seinem Nest.
"Na, dein Nachwuchs lässt sich aber Zeit, Lana", meint Rudolf.
"In der Tat, ich kenne kein Kaiserkrokodil, das so lange auf sich warten ließ", knurrt Nikolai.
"Vielleicht hat es zu lange in der Sonne gelegen?", überlegt Kasper
"Quatsch, so ein Ei kann gar nicht genug Sonne bekommen", widerspricht Benedikt.
Die Ratskrokodile Nikolai, Rudolf, Kasper und Benedikt wollen der Sache auf den Grund gehen.
Während sich die frisch geschlüpften Krokokinder schon satt und erschöpft in ihren Nestern zusammengerollt haben, drängen sich nun auch die anderen Rudelmitglieder neugierig um Lanas Gelege.
Es herrscht ehrfürchtiges Schweigen als Nikolai, der Ratsälteste sich dem Ei nähert.
Vorsichtig, Millimeter für Millimeter klopft er die Schale ab.
TOCK ... TOCK ... TOCK...
Alle Krokodile lauschen gespannt.
RUMPEL
Verwundert runzelt Nikolai die Stirn, was bei einem Krokodil recht komisch wirkt.
Aber "RUMPEL" ist ein Geräusch, das noch keiner der Anwesenden gehört hat.
Schon gar nicht aus einem Ei. Eier rumpeln nunmal nicht.
Vorsichtig legt Nikolai ein Ohr an die Kalkschale und lauscht.
Nach und nach kommen auch die anderen drei Ratsmitglieder näher.
RUMPEL!
Da ist es wieder, dieses merkwürdige Geräusch. Diesmal lauter als zuvor.
RUMPEL!
Plötzlich ertönt ein lautes KNACK! und ein Paar kleiner, frecher Krokodilaugen schaut aus dem Ei heraus. Direkt in Nikolais überraschtes Gesicht.
"Mama?", piepst das neue Rudelmitglied fragend.
Aus dem angespannten Schweigen wird schallendes Gelächter.
"Mama Nikolai! Haha, hihi, hoho ..."
Die umstehenden Krokodile halten sich die Bäuche vor Lachen.
Behutsam hilft Lana ihrem kleinen Sohn dabei, sich von der klebrigen Schale zu befreien. "Hunger!", ertönt erneut das zarte Stimmchen des kleinen Krokodils.
Alle Augen richten sich amüsiert auf den Neuankömmling.
Plötzlich verstummt das Lachen.
"Aber, er ist ja ROT!"
"Also doch zu lange in der Sonne gelegen", vermutet Kasper.
"Vielleicht verwächst sich das noch?", überlegt Benedikt.
"Und wenn es eine Krankheit ist, vielleicht sogar ansteckend?", fragt Rudolf ängstlich.
"Jetzt bleibt mal im Panzer", sagt Nikolai, "lasst uns erstmal eine Nacht drüber schlafen. Doktor Erasmus soll sich den Kleinen morgen früh mal ansehen."
Den ganzen Morgen muss Nepomuk, so hat Lana ihren kleinen Sohn genannt, Untersuchungen über sich ergehen lassen. Er wird gemessen und gewogen. Er muss sein Maul so weit wie möglich öffnen, damit der Doktor seine Zähne begutachten kann und dann wird auch noch Fieber gemessen. Alles sehr anstrengend für ein kleines Krokodil.
Erasmus schreibt alle Ergebnis ordentlich auf:
KROKO-AKTE 1307
Name: Nepomuk
geboren: im Sommer, mit etwas Verspätung
Größe: normal
Gewicht: krokodiltypisch
Auch die übrigen Untersuchungsergebnisse werden genauestens dokumentiert:
Zähne: gesund
Schwanzzacken: 7 (normal)
2 Vorderbeine, 2 Hinterbeine (normal)
1 Kopf mit 1 Nase, 2 Augen, 1 Maul (völlig normal)
Körpertemperatur: krokodilstandard
Farbe: ROT! (absolut nicht normal)
Befund: ???
"Also, Rotfleckenfieber ist es nicht." Erasmus kratzt sich am Kopf und zuckt mit den Schultern.
"Und was ist es dann?", fragt Rudolf.
"Irgendwas muss es doch sein", ergänzt Benedikt.
"Erasmus, du muss der Sache auf den Grund gehen."
Erasmus ist das schlaueste Krokodil im Rudel. Niemand hat so viele Bücher gelesen wie er.
Deswegen ist er ja auch der Doktor. Die ganze Nacht hat er in seinen Büchern nach einer Antwort gesucht. Ihm ist schon ganz schwindelig von der Leserei.
"Komisch. Sehr komisch." Erasmus weiß sich keinen Rat.
"Nepomuk ist kerngesund. Kein Fieber, kein Belag auf der Zunge, kein Ausschlag. Nichts, was auf die Rotfleckenkrankheit oder etwas Ähnliches hinweist. Alles im grünen Bereich, wenn ich das so sagen darf. Bis auf die Farbe."
Aber Erasmus lässt sich so leicht nicht entmutigen. Wenn er keine Lösung findet, wer dann?
"Ich hab's!", sagt er, "Eine Therapie. Jawohl, eine Therapie wird helfen."
Therapien sind das Spezialgebiet des Doktors.
"Eine gute Therapie hat noch keinem geschadet", pflegt er immer zu sagen.
Erasmus verordnete gerne Therapien. Vor allem, wenn er nicht genau wusste, was er sonst tun sollte. Für Nepomuk hatte er dann auch eine ganz spezielle Behandlung parat:
Die GRÜNFUTTER-THERAPIE
(nach der Erasmus-Methode)
entwickelt von Dr. krok. Erasmus
zur Behandlung akuter Rotfärbung
Dauer: 3 Wochen
Durchführung: Der Patient darf über den Zeitraum der Therapie ausschließlich grüne Nahrung zu sich nehmen.
Erlaubt sind: grüne Äpfel, Spinat, Seegras, Gurken, Grünkohl, Waldmeistergrütze, Salat, grüne Paprika, Grünkernpuffer, -brot, - suppe, -auflauf, Limetten, Avocado
und alles was GRÜN ist.
Drei Tage später ist es dann tatsächlich soweit: Nepomuk zeigt deutliche Anzeichen einer grünen Farbe an der Nasenspitze. Aber ist das bei diesem Speiseplan ein Wunder?
Im Bauch des kleinen Krokodils tanzen sämtliche grünen Nahrungsmittel durcheinander.
"Mir ist ja soooooooooo schlecht", seufzt Nepomuk und rollt sich unter seiner Kuscheldecke zusammen.
Während Nepomuk sich noch von der Grünfutter-Therapie erholt, wird im Rudel schon wieder fleißig über ihn geredet:
"Ein rotes Krokodil, das hat es ja noch nie gegeben."
"Normal ist das nicht. Krokodile müssen grün sein."
"Genau. Grün und nicht anders. Das war schließlich schon immer so."
"Und der Name: Nepomuk! Was soll das denn für ein Name sein?"
"Keine Ahnung. Komisches Krokodil, komischer Name."
"Was hat eigentlich Doktor Erasmus gesagt?"
"Ansteckend soll es ja nicht sein."
"Aber die Behandlung hat auch nicht angeschlagen."
"Und wie soll es jetzt weitergehen? Ein rotes Krokodil... Am ganzen Nilufer macht man sich schon lustig über uns."
Von diesem Gerede bekommt Nepomuk nichts mit. Er ist nämlich viel zu aufgeregt. Denn nun,
da feststeht, dass er nicht an Rotfleckenfieber erkrankt ist und Doktor Erasmus auch andere ansteckende Krankheiten ausgeschlossen hat, darf er, wie die anderen Krokokinder auch, endlich zur Schule gehen. Nepomuk freut sich sehr darauf. Schließlich will er mindestens so schlau werden wie Doktor Erasmus. Deswegen passt das kleine rote Krokodil besonders gut auf im Unterricht und strengt sich mächtig an. Aber das macht ihn leider nur noch mehr zum Sonderling.
Nepomuk löst die schwierigsten Mathematikaufgaben, beim Schwimmen ist er den anderen Krokodilkindern immer eine Nasenlänge voraus und auf jede noch so kniffelige Frage hat er eine passende Antwort.
Nur Freunde, Freunde hat das kleine Krokodil nicht.
"Sei vorsichtig. Nepomuk ist kein richtiges Kaiserkrokodil. Wer weiß, vielleicht führt er etwas im Schilde", mahnen die Eltern ihre Kinder.
"Er mag ja schlau sein, aber erst ist keiner von uns", sagen sie.
Deshalb mag auch keines der anderen Krokokinder mit Nepomuk spielen. Stattdessen lachen sie ihn aus und rufen ihm nach: "Seht den roten Nepomuk, der durch unser Delta spukt!"
Nepomuk ist sehr traurig. Niedergeschlagen trottet er nach Hause.
"Mama? Was haben die anderen Kinder nur gegen mich? Ich bin doch auch ein Krokodil, oder?"
"Natürlich, mein Kleiner." Lana streicht ihm liebevoll über den Kopf.
"Aber weißt du, dein Panzer ist rot, nicht grün, wie der der anderen. Und wir haben oft Angst vor Dingen, die anders, die fremd sind."
"Bin ich denn wirklich soooooooo viel anders als die anderen, Mama?"
"Aber nein. Du bist ein Krokodil wie wir. Nur eben ein rotes Krokodil. Manchmal übersieht man die vielen Gemeinsamkeiten, weil das Fremde die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Verstehst du das?"
Nepomuk überlegt einen Moment. Dann nickt er. "Ja, ich glaube schon. Du meinst, die anderen sehen nur meine rote Farbe und nicht das Krokodil, das ich bin?"
Lana lächelt. "Genau. Du bist wirklich ein sehr, sehr schlaues Krokodil, Nepomuk."
Am nächsten Morgen wird Lana von einem aufgeregten Nepomuk geweckt:
"Mama, Mama! Ich habe eine Idee!"
"Was ist denn los? Die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Warum bist du denn schon wach?" Verschlafen blinzelt Lana das kleine Krokodil an.
"Ich brauche einen Anzug."
Augenblicklich ist Nepomuks Mutter hellwach.
"Einen Anzug?", ungläubig sieht sie in Nepomuks blitzende Krokodilaugen.
"Ja, ja, ja, einen Anzug. Einen grünen Anzug. Kaiserkrokodilgrün. Und Farbe."
"Farbe?"
Was ist nur in Nepomuk gefahren? So aufgeregt hat Lana ihren Sohn noch nie erlebt. Doch bevor sie etwas anderes sagen kann, erklärt das kleine Krokodil ihr seinen Plan:
"Du hast doch gesagt, dass die anderen nur so gemein zu mir sind, weil sie nicht mich, sondern nur die Farbe meines Panzers sehen. Wenn sie meinen roten Panzer also nicht sehen, weil ich einen grünen Anzug trage und mein Gesicht und meine Klauen grün anmale, dann erkennen sie vielleicht, dass ich so bin wie sie - ein ganz normales kleines Krokodil."
Gesagt, getan. In den nächsten Nächten sitzt Lana wach im Mondenschein und näht.
Bald hat sie den Anzug fertig und er passt Nepomuk wie angegossen. Nicht eine einzige rote Hornplatte ist mehr zu sehen, nachdem auch Klauen und Gesicht in grüner Farbe leuchten. Fröhlich macht sich Nepomuk auf den Weg zur Schule. Irritierte Blicke folgen ihm.
"Sag mal, wer ist das denn?"
"So ein elegantes Krokodil!"
"Hast du den Anzug gesehen?"
"Wie vortrefflich geschneidert."
Wer auch immer Nepomuk sieht, keiner erkennt ihn.
Selbst in der Schule weiß niemand zu sagen, wer dieses elegant gekleidete Krokodil ist.
"Es wird ein neuer Schüler sein", denkt sich Kaspar, der die Krokoklasse unterrichtet.
"Warum hat mir denn niemand Bescheid gesagt, dass ein neuer Schüler kommt? Und wo ist eigentlich Nepomuk?"
Tage vergehen. Nepomuk hat inzwischen viele Freunde gefunden. Nur wissen sie nicht, dass Nepomuk eben Nepomuk ist. Für die Kaiserkrokodile ist er nur das elegante Krokodil, das immer auf alle Fragen eine Antwort hat, schneller schwimmt als jedes andere und auch die schwierigsten Rechenaufgaben löst. An das kleine rote Krokodil scheint niemand mehr zu denken. Bis zum Tag des großen Regens.
Vier Monate im Jahr wird das Nildelta nämlich zu einer einzigen roten Schlammgrube. Es regnet ununterbrochen. Tag und Nacht. Die Tiere des Tales freuen sich. Sie wissen, wenn der Regen wieder aufhört, wird das Tal eine blühende, fruchtbare Oase sein und jeder wird genug zu fressen haben.
Sobald die ersten Gewitterwolken das Herannahen des Monsumes, so nennt man den großen Regen, ankündigen, machen sich die Kaiserkrokodile auf den Weg zu ihrer Höhle am Rande des Tales. Dort werden sie die Zeit von Juli bis Oktober verbringen, da ihre Gruben von den gewaltigen Schlammmassen überflutet werden und daher unbewohnbar sind.
Die Vorbereitungen für das Monsumfest sind schon in vollem Gange. Voller Vorfreude werden die über das Jahr extra für diesen Tag gelagerten Vorräte aus den Speisekammern geholt. Die Krokodildamen eilen geschäftig in der Höhle hin und her, rühren in großen Kesseln, putzen, schneiden, dünsten, garen... . Es duftet nach allerlei Köstlichkeiten und nicht selten versucht ein vorwitziges Krokodilkind sich eine Leckerei zu stibitzen. Überhaupt ist es für die kleinen Kaiserkrokodile die schönste Zeit im ganzen Jahr, denn sie haben schulfrei und verbringen den lieben langen Tag mit Spielen, Essen und Faulenzen.
Aber wie alle Kinder drängt es sie danach, draußen zu spielen. Auf die Dauer wird den kleinen Rackern selbst die größte Höhle zu klein.
"Dürfen wir raus, in den Schlammgruben spielen, Nikolai? Bitte, bitte, bitte?!"
Nikolai versteht den Tatendrang der Kleinen nur zu gut, schließlich war auch er einmal so jung wie sie, aber er weiß auch, dass es in der Zeit der Nilschwemme draußen viel zu gefährlich für die Krokokinder ist.
Mitleidig schüttelt er den Kopf.
"Tut mir Leid, Kinder. Ihr wisst, der Nil ist über die Ufer getreten. Stellt euch nur vor, was passiert, wenn einer von euch in seine Fluten stürzt. Ihr würdet mitgerissen werden und jämmerlich ertrinken."
Maulend trottet die Rasselbande in ihre Spielecke zurück. Ein weiterer Tag neigt sich dem Ende und bald ist ohnehin Schlafenszeit.
Am nächsten Morgen ist Emma, ein vorwitziges Krokodilmädchen, noch vor allen anderen wach. Gähnend reibt sie sich die Augen. Es ist wirklich noch sehr früh. Die großen Krokodile schlafen noch tief und fest. Hier und da hört man lautes Schnarchen. Auch Emmas Altersgenossen liegen noch träumend in ihren Ecken. Was soll sie jetzt tun? Voller Tatendrang versucht sie der Reihe nach Lukas und Anton, ihre Freunde, zu wecken. Aber vergebens, die beiden schlafen so fest, dass sie nicht einmal merken, wie Emma ihnen in die Nackenzacken beisst. Also beschließt sie, trotz Nikolais Warnung, nachzusehen, wie es außerhalb der Höhle aussieht.
"Ich will ja auch nur gucken. Wenn ich direkt vor der Höhle stehen bleibe, kann mir gar nichts passieren", sagt sie sich und kriecht in Windeseile auf den Ausgang zu.
Schwupps, ist sie auch schon draußen.
Das Delta ist nicht mehr wieder zu erkennen. Der Nil, sonst ruhig fließend, ist zu einem reißenden Strom geworden, der selbst die Affenbrotbäume zum Wanken bringt. Alle Tiere haben sich in ihren Schlupfwinkeln verkrochen und erwarten das Ende der Regentage. Emma ist ganz gefangen von dem Anblick, der sich ihr bietet. So hat sie das Tal noch nie gesehen. Ohne darauf zu achten, wohin sie geht, entfernt sie sich immer weiter von der Höhle. Und schon ist es passiert. Der Boden unter ihren Füßen gibt nach, Emma verliert den Halt, stürzt in die Fluten des Nils und wird mitgerissen.
"HILFE! HILFE! HIIIIIIILFEEEEEEE!"
Emmas verzweifelter Schrei durchdringt die ganze Höhle. Schlagartig erwachen die Kaiserkrokodile. Verschlafen blinzeln sie in die Runde, ohne zu wissen, was vor sich geht. Doch mit einem Mal entdeckt Kaspar Emmas leeren Schlafplatz.
"Emma? EMMA?! Hat einer von euch Emma gesehen?"
Suchend schauen sich nun auch die anderen Krokos in der Höhle um.
"HILFE! Ich kann nicht mehr schwimmen!" Immer kläglicher wird Emmas Rufen.
Plötzlich herrscht helle Aufregung unter den Rudelmitgliedern.
"Um Himmels Willen, sie ist draußen!"
Nikolai, Erasmus, Kaspar, Benedikt und Rudolf stürzen, ihrer Aufgabe als Älteste entsprechend, zum Höhlenausgang und was sie sehen, verschlägt ihnen den Atem:
Etliche Meter von der Höhle entfernt hat Emma sich an einem tief hängenden Ast festgeklammert und kämpft gegen die Fluten. Doch lange wird sie der Baum nicht mehr halten können, denn die Wurzeln verlieren ihren Halt in dem aufgeweichten Boden.
"Was sollen wir tun?", fragt Erasmus. "Niemand von uns ist in der Lage bei dieser Strömung zu schwimmen."
Während die Ältesten noch darüber nachdenken, wie sie Emma retten können, hat Nepomuk, der wie die anderen durch Emmas Hilferuf aus dem Schlaf gerissen wurde, schon eine Entscheidung gefällt. Blitzschnell zwängt er sich an den vor Schreck gelähmten Krokodilen vorbei in Richtung Höhlenausgang. Ohne auf die warnenden Rufe von Nikolai, Erasmus und den anderen Ratsältesten zu achten, klettert er den Felsvorsprung hinab und springt mutig in die reißenden Fluten.
Tapfer kämpft er gegen die gewaltige Strömung an. Gerade noch rechtzeitig erreicht er den Baum, an dessen Ast Emma verzweifelt Halt sucht. Keinen Augenblick zu früh kann Nepomuk das Krokodilmädchen fassen. Mit letzter Kraft schwimmt er mit ihr an das rettende Ufer, wo sich mittlerweile auch die Ältesten versammelt haben. Erleichtert nehmen sie Nepomuk und Emma in Empfang und tragen sie unter den Jubelrufen der anderen Krokodile zur Höhle zurück.
Aber was ist das? Immer größer werden die Augen der wartenden Rudelmitglieder. Je näher die "Rettungstruppe" kommt, desto deutlicher ist es zu erkennen: das strahlende Rot von Nepomuks Panzer.
Die wilde Nilflut hat den Anzug des kleinen Krokodils völlig auseinander gerissen und dort, wo die Morgensonne auf seine Haut trifft, funkelt sie rubinrot.
Die Kaiserkrokodile sind mehr als verwirrt. Das elegante, von ihnen allen geachtete Krokodil soll Nepomuk gewesen sein? Der Nepomuk, den sie verspottet und gemieden haben, nur weil er nicht so grün war wie sie? Das Rudel ist verblüfft und sprachlos. Doch kaum sind Kaspar, Erasmus, Rudolf und Benedikt mit dem erschöpften Nepomuk und der vor Furcht und Kälte noch immer zitternden Emma auf dem Rücken an der Höhle angekommen, brechen sie erneut in laute Jubelrufe aus:
"Nepomuk, er lebe hoch!"
"Ein dreifach Hoch auf Nepomuk!"
Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, dass das kleine Krokodil vom Kopf bis zur Schwanzspitze rot geschuppt ist.