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Nemoj da me zhalite - Don't cry for me
Die Friedhofskapelle war abgrundtief hässlich. Mein Vater ist Architekt. Er hätte normalerweise niemals freiwillig den widerlichen Bau aus kaltem Stahlbeton betreten. Mein Vater sagt oft, Architektur sei gefrorene Musik, aber dieses erdrückende Gebäude, dem der Tod eine bedrohliche Note verlieh, hatte überhaupt nichts musikalisches. Doch Paul war einer unserer ältesten Freunde und um ihm die letzte Ehre zu erweisen, hätte mein Vater noch viel geschmacklosere Bauwerke betreten.
Im Juli 2001 ist Paul an Leukämie gestorben. Es war unerträglich heiß. 40 Grad im Schatten. Ich war zehn Jahre alt und Pauls Frau Emilie war am Abend vor seinem Tod in unserer Küche gesessen. Wir alle haben Emilie als Kinder angebetet. Mit ihren orangenfarbenen Pullovern und dem zwitscherndem Lachen war sie für uns eine Art Zweitmutter. Sie ist ein unglaublicher Mensch. Im Freundeskreis meiner Eltern ist es allgemein üblich, sich auch um die Kinder der Anderen zu kümmern. Natürlich nicht so sehr wie um die eigenen Kinder, aber trotzdem bin ich mit einer Vielzahl von alternativen Ansprechpartnern aufgewachsen, von denen mir Emilie am liebsten war.
Sammael und Anna waren auch mit ihren Eltern gekommen und wir standen nebeneinander in der vollgestopften Friedhofskapelle. An meinem Platz hinter der rechten Bankreihe, neben der Wendeltreppe, die zur Orgel führte, konnte ich nicht alles sehen. Ein Mann mit Schnauzer versperrte mir die Sicht auf den Sarg. Sammael, der damals in mich verliebt war, zupfte die ganze Zeit am langen Ärmel meiner Bluse, bei der ein Knopf fehlte, wie ich jetzt bemerkte. Meine Mutter hielt eine Rede.
An den Pfarrer kann ich mich noch gut erinnern. Sein fettes, freundliches Gesicht und die hängenden Augenlider zitterten, als er mit dröhnender Ernsthaftigkeit die Dinge sagte, die ein Pfarrer auf einer Beerdigung eben sagt. Vor dem Sarg lagen ein Haufen Blumensträuße mit bunten Bändern und Teelichter, die den Raum in warmes Licht hüllten. Religiöse Bräuche waren mir sehr fremd, da meine Familie atheistisch war, doch sie übten deswegen eine gewisse Faszination auf mich aus. Der Sermon des Pfarrers langweilte mich nicht, er hatte eine verwirrende Wirkung auf mich.
Weil Emilie schrecklich weinte, musste auch ich ein wenig schluchzen, worauf Anna missbilligend ihren nussbraunen Pferdeschwanz schüttelte und mit der Zunge schnalzte. Ich schob die Ärmel meiner Bluse über den Handballen und zog die Schultern hoch um mich in dem mattschwarzen Stoff zu verstecken. Der Pfarrer predigte sehr lange und Sammael schielte immerzu aus runden, dunklen Jungenaugen in meine Richtung. Er war ein seltsamer Junge. Er schien niemals Angst zu haben, weinte nicht und war auch nicht albern. Er lächelte. Viele verstanden sich gut mit ihm, aber nur mir war er ein wirklicher Freund. Immer an meiner Seite schien er auf etwas zu warten. Fast besitzergreifend. Und in ihm war es sehr ruhig.
Ich dachte daran, wie sehr ich mich vor dem kalten, blauen Körper in dem Sarg fürchtete und wie schrecklich es sein musste, zu sterben, als ich ein Summen an meinem rechten Ohr hörte. Die rausanfte Kinderstimme sang sehr leise und nah. Ein altes ausländisches Volkslied. Ich kannte es gut. Wir hatten es oft am Lagerfeuer, auf Festen oder einfach zur Gitarrenmusik gesungen. "Ako umram, il zaginam, Nemoj da me zhalite". Ich lächelte Sammael an. Der Text bedeutet:"Wenn ich sterbe, oder getötet werde, weint nicht um mich.". Er summte und summte die Melodie in mein Ohr und ich fasste sein Handgelenk, um ihn am Aufhören zu hindern.
Später, nach dem Leichenschmaus würden wir Verstecken spielen und es riskieren, herumzuschreien bis jemand uns schimpfte. Und die Erwachsenen würden reden, trauern und sich erinnern und betrinken und wir alle würden froh sein, am Leben zu sein.