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- 14.02.2007
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Nekrotin
sie sind süchtig!
ihr atem stinkt! ihre haare stinken! ihre kleidung! ihre haut!
ihre finger zittern, immer an den hosentaschen herumfummelnd. sie sind intollerant, ignorant und egozentrisch. wenn sie glücklich sind, wenn sie ihre sucht befriedigen können, sind sie bestenfalls herablassend. wie sie immer in den dunklen ecken stehen, wie nutten und dirnen.
sie sind huren ihrer sucht!
um an ihr mittel zu gelangen, würden sie alles tun. das macht sie schwach.
ein grund, sie zu töten.
Die Augen waren nebelig und blickten ins Leere; die Haut in einem leichten Grauton verfärbt. Der ganze Körper stank. Stank nach Tabakrauch. Ein weiteres Opfer des Serienmörders mit dem zu allem Überfluss so poetisch klingenden Namen Smoker. Und wieder war es auf einem öffentlichen Platz in Lissabon.
Die erste Fahrt der Eléctrico 28 - der beliebten Straßenbahnlinie - endete hier, nahe dem Castelo de Sao Jorge und der Alfama. Kommissarin Ana Maria Taraves kniete sich zu der Leiche. Die letzten Beweisfotos wurden geschossen, dann wurde der Körper fortgeschafft.
Sie sah den Männern nach, die die Leiche in den bereitstehenden Krankenwagen schafften und eine leichte Migräne überfiel sie. In letzter Zeit schlief sie nicht gut, sah immer wieder die Morde; so schrecklich real. Sie würde den Smoker-Fall wohl abgeben, wenn diese Albträume nicht aufhören würden. Das ganze Geschehen belastete sie zu sehr.
"Wer tut so etwas nur?", murmelte sie geistesabwesend, strich dabei mit einem Finger über die Kreidemarkierungen auf dem Boden.
"Jemand mit einem Gerechtigkeitssinn", flüsterte eine Stimme in ihr Ohr. Ana Maria fuhr vor Schreck zusammen.
"Grego!“
Gregorio, ihr Partner, liebte es wohl, sie zu erschrecken. Er verkniff sich sein schelmisches Lächeln nicht einmal.
"Das kannst du nicht denken!", ermahnte sie ihn sogleich.
"Doch, das tue ich. Komm schon: Geht es dir anders? Seit dem Aufkommen dieser Zicarren ist Portugal - ganz Europa - nicht mehr das, was es mal war. Alles geht vor die Hunde, weil die Leute süchtig nach diesem Schund werden und die Indios sich so eine reiche Nase verdienen. Ist es da nicht gerecht, dass jemand die Tabak-Süchtigen bestraft, diese im Normalfall ach so geschätzten Mitglieder der Gesellschaft?"
"Es ist schlichtweg falsch Leute für ihre ... Dummheit zu töten", erwiderte die Kommissarin ernst, obwohl in ihr Stimmen waren, die ihrem Kollegen Recht gaben.
Tabak. Diese verdammte Pflanze, die so abhängig machte, dass die ehemaligen Kolonien Großbritanniens und der anderen europäischen Nationen unter der mittelbaren Kontrolle der Indios standen. Die Revolutionen der Neuengland-Kolonien waren absehbar, weil sie vom Mutterland schlecht behandelt wurden. Doch die Kontrolle und Instrumentalisierung der Kolonisten durch die Indios und deren Tabakmonopol war ein Schock. Seit Francesco Prodii, der im Auftrag Georg III. von England gehandelt hatte, statt einen Seeweg nach Indien 1816 einen neuen Kontinent entdeckte, brachten die Exporte jener Region den Menschen in Europa - und Ana Maria selbst - nur Unheil und Probleme.
"Willst du wirklich, dass sich dieses Verbrechen an der Gesellschaft hier in Europa durchsetzt, hier Fuß fassen kann?", fragte Gregorio sie, sichtlich erregt von dem polarisierenden Thema, "... noch mehr als es ohnehin der Fall ist? Sollen wir bald alle wie die Neuengländer als willenlose und abhängige Mittelsmänner der Indios fungieren?"
Gregorio redete sich in Rage und wurde laut. Die Menschentraube, die sich um den Tatort bildete, wurde langsam unruhig. Überall tuschelte man über den Mord, aber auch über Gregorios Aussagen.
Ana Maria nahm sich ihren Partner zur Brust: "Können wir das bitte auf dem Revier klären, ja?", zischte sie. "Du bringst die Leute noch um den Verstand!"
"Ist vielleicht besser so", sagte er schlicht und drehte ihr den Rücken zu. Er wollte wohl gerade zu seinem Fahrzeug gehen, als ihm etwas auf dem Boden, im Schienenbett der Straßenbahn, auffiel. Ana Maria sah nicht, was er aufhob, doch er stockte auf einmal in seiner Bewegung, hielt inne.
"Was ist-", wollte sie gerade fragen, doch in jenem Moment sprang er geradezu auf und ging schnellen Schrittes fort.
"W-wir sehen uns auf dem Revier. Ich m-muss was überprüfen!", stammelte er sichtlich verwirrt, während er die Straße zu seinem Fahrzeug hinunter raste, auf der eine Stunde später wieder die Eléctrico 28 verkehrte.
Ana Maria sah ihm unschlüssig hinterher. Ihr Blick blieb dabei an einem Werbeschild hängen, das Teil der neuen Nekrotin-Kampagne war, einem Projekt mehrerer Großkonzerne: Ein gehetzt wirkender Mann mit ungesunder Hautfarbe, der inmitten einer tropischen Landschaft einen Rollkragenpullover trug und unter dem zu lesen stand: "Rauchen bewirkt eine Zunahme des Herzschlags und Abnahme der Körpertemparatur!"
sie sind unsozial!
sie können ihre sucht nicht einmal in der öffentlichkeit verbergen. im gegenteil noch: sie stellen sie offen zur schau. sie geben sich manchen gar noch so, als wollten sie bewunderung für ihre taten. diese provokation verleitet unwissende zu trugschlüssen.
ihre widerwärtigkeit verdient keinen respekt oder achtung, nicht einmal verachtung.
ein weiterer Grund, sie zu töten.
Aber er kam nicht auf das Revier. Als Ana Maria Taraves sich bei ihren Kollegen nach Gregorio erkundigte, war dieser angeblich gar nicht auf der Wache aufgetaucht. Also fuhr sie zu seiner Wohnung. Vielleicht konnte sie ihn dort finden.
Seine Zwei-Zimmer-Wohnung lag weitab solcher Gegenden wie der Baixa, der Unterstadt. Das noble Handels- und Bankenviertel Lissabons war eine eigene, isolierte Welt. Dort gab es - offiziell - keine Kriminalität, keine Diebstähle und keinen Mord.
Doch hier war es anders.
Ana Maria fand Gregorio.
Die erstaunlich lange Fahrt vom Revier bis zu seiner Wohnung verbrachte sie fast in einer Art Trance. Der Blick auf sein offenes Schlafzimmerfenster erst ließ sie wieder wach werden. Sie blinzelte und sah nach rechts, auf den Beifahrersitz. In der Sitznische lag ihre alte Goldkette mit dem Jesuskreuz als Anhänger. Sie hatte schon befürchtet, dieses geliebte Kleinod gestern verloren zu haben.
Die leicht verschmutzte Kette wieder anlegend zog sie den Wagenschlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus dem Auto.
Als sie vor Gregorios offener Wohnungstür im dritten Obergeschoss stand, griff ihre Hand automatisch zu ihrer Waffe.
Mit der linken Hand die Konturen des Kettenanhängers umfassend, atmete sie ruhig ein und aus. Langsam, jeden unnötigen Laut vermeidend, schlich sie in die Wohnung ihres Kollegen, die sie nach der letztjährigen Weihnachtsfeier besser kennenlernt hatte, als ihr lieb und für ihre professionelle Beziehung gut war.
Sie sah sich im Wohnzimmer um. Ihr Herz raste. Über allem lag ein leichter Nebel und ein ... merkwürdig vertrauter Geruch.
Ihr fröstelte als ihr klar wurde, woher sie diesen Geruch kannte!
Sie tat einen schnellen Schritt, war im hellen Schlafzimmer und suchte mit beiden Händen ihre Waffe umklammernd den Raum ab. Das Fenster stand weit offen, wie es Ana Maria bereits vom Parkplatz aus gesehen hatte.
Nur eines sah sie nicht.
„Grego!“
Der Mann lag mit nacktem Oberkörper rücklings auf seinem Bett. Sein Gesicht war von Nebel verhüllt. Denn sein Kopf steckte in einem Glaswürfel.
Ein mit Tabakrauch gefüllter Glaswürfel, dessen war sich Ana Maria sicher!
Diesen Anblick hatte sie bereits ein halbes Dutzend Mal zuvor erblickt. Smoker tötete auf diese Weise. Erstickte seine Opfer mit Tabakrauch. Als bereite es ihm eine perverse Freude, das Produkt ihrer Sucht als Mordwerkzeug zu benutzen.
Das war zu viel für Ana Maria und sie brach innerlich zusammen. Sie torkelte zurück, stieß einen Beistelltisch um und wurde von diesem selbst so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht, dass sie stürzte.
Noch im Fallen, diesem Sekundenbruchteil, sah sie einen Laufzettel vor sich flattern, der zuvor auf dem Tisch lag, und der gegen Tabak-Konsum warb: "Tabakrauch enthält circa viertausend Chemikalien; davon allein vierzig krebserregende!"
sie sind anstandslos!
sie glauben, dass ihre sucht sie zu einem besseren menschen macht. dass sie außerhalb der gesetze stehen, unnahbar für alle. Dass jeder mensch in unserer toleranten gesellschaft sie für ihre taten verstehen werde.
sie können ja nichts für ihre sucht. sie sind ja nur opfer der anderen.
lügen. lügen! nichts als lügen!
der letzte grund, sie zu töten. und der beste!
anstand ist ein zeichen von zivilisation. doch ihr gabt ihn für eure droge her.
Sie nahm die warme Decke dankend an, während das Schlafzimmer Gregorios notdürftig abgesperrt wurde. Ana Maria hatte nach ihrem Erwachen ihre Kollegen herbeigerufen.
Ihr Vorgesetzter, Oberkommissar Luís Saramago, sah sie mit einem undefinierbaren Blick an, als er das Protokoll aufnahm.
Nachdem dies beendet war, betrachtete er sie eindringlich und fragte mit seiner tiefen Bassstimme: "Geht es Ihnen gut?"
"Nein", gab Ana Maria nach einem kurzen Moment und mit zittriger Stimme zu.
"Ich glaube, dass ich dem Smoker-Fall nicht mehr gewachsen bin", sprach sie mit einem ruhigen Unterton in der Stimme und so als begreife sie selbst erst ihre Worte nachdem sie sie ausgesprochen hatte. "Gregorio passt nicht ins Opferprofil, aber die Tat wurde nach dem typischen Muster begangen. Es ist kein Trittbrettfahrer, da bin ich mir sicher. Und Gregorio rauchte keine Zicarren, das wüsste ich. Ich verstehe das nicht - und will es auch gar nicht. Ich gebe den Fall ab, will damit nichts mehr zu tun haben."
"Wie Sie wünschen."
Sie wünschte auch, die kommende Nacht in ihren eigenen vier Wänden zubringen zu dürfen, was der Oberkommissar erst zuließ, als sie sich bereit erklärte, eine Streife vor dem Haus zu dulden. Sie fuhr mit ihrem Wagen nach Hause, blendete alles Geschehene aus.
Sie wollte einfach nicht mehr daran denken müssen, wollte nicht mehr einschlafen und von den Morden träumen. Jetzt, wo noch einer dazu kam.
Also setzte sie sich mit hochprozentigem Schnaps aus der Alkohol-Geschenke-Vitrine vor den Fernseher; ließ sich berieseln und ablenken. Sie wollte das alles nicht fassen.
Und sie hasste sich. Hasste sich, dass sie in diesem Moment wieder daran dachte. Sie war seit Jahren sauber, rauchte nicht mehr. Doch sie hatte sich unter einigen losen Holzdielen ihrer Kleiderkammer einen kleinen Vorrat bewahrt. Sie wusste bis heute nicht, warum.
Der Mord an Gregorio trieb sie jedoch dazu, es einmal noch zu tun, einfach nur, um zu vergessen. Sie stand auf, ging zur Schranktür und öffnete sie.
Mit einem Brieföffner stemmte sie die leichten Dielen hoch und sah die Holzkiste im darunter liegenden Hohlraum. Sie nahm die Kiste heraus und öffnete sie.
Alles war da. Papier zum Rollen, ein Stopfer, der Klebstoff zum Verschließen.
Alles ... nur kein Tabak!
Ana Maria sah in den Plastikbeutel, in dem der Tabak gelagert war, doch er war leer.
Und plötzlich überkam es sie, wusste sie alles wieder! Ihr Doppelleben, ihre pervertierte zweite Identität breitete sich vor ihrem inneren Auge aus, synchron mit einem Werbespot des Initiatorskonzerns der Nekrotin-Kampagne im TV: "Rauchen verringert irreversibel die Leistungsfähigkeit des Gehirns! Die langfristigen Folgen sind nicht abzuschätzen! Eine Gesellschaft zerfällt, wenn sie sich der Sucht hingibt. Bleiben Sie standhaft!"
Diese Worte waren purer Hohn.
Sie waren Verachtung.
was wäre, wenn tabak eine völlig andere oder hundertfach stärkere wirkung hätte?
hundertfache lust.
hundertfache sucht.
hundertfache andersartigkeit...