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Negerkönig sagt man nicht

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05.10.2016
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Negerkönig sagt man nicht

Er sah ja nichts mit den Augenklappen, lag den ganzen Tag auf der Couch und konnte nur hören, was um ihn herum passierte. Ja, seine Ohren. Die würden ihm bleiben, dachte er, die müsste er jetzt trainieren, um einen neuen Sinn auszubilden, weil die Augen, die konnte er vergessen. Der Doktor hatte einen Tonfall in der Stimme, das merkte er genau, dass er ernst war, sehr ernst, so ernst, dass es dem Martin ganz schwarz vor den Augen würde, aber sie blickten ohnehin ins Schwarze, auf zwei schwarze Deckel, die ihm der Arzt aufgelegt hatte.
„Frau Kieland, bitte kommen Sie mit heraus“, hörte er den Doktor sagen und da spitzte er seine Ohren, und das leise Flüstern drang zu ihm, als wenn sie neben ihm sprechen würden, weil nichts ihn ablenkte, nicht die dummen Augen, mit denen er durch das Loch gestarrt hatte, stundenlang, und jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, würde der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen.

„Konjunktivitis“, drang es deutlich an sein Ohr, „Bindehautentzündung in einer schwereren Form. Wahrscheinlich eine bakterielle Infektion durch einen verschleppten Keim. Auch eine mechanische Reizung der Bindehaut wäre denkbar. Aber die verläuft nicht so gravierend. Möglicherweise hat sich ein Bakterium eingenistet in das gereizte Gewebe. Ich habe einen Abstrich gemacht. Der kommt ins Labor, dann sehen wir weiter. “
„Wird er?“, fragte Ottilie, seine Mutter, und ihre Stimme stockte.
„Man wird sehen. Ist Ihr Sohn allergisch, hatte er Herpes in letzter Zeit, oder war er in der Zugluft?“
„Martin war nicht in der Zugluft“, sagte Ottilie. „Martin, warst du in der Zugluft?“, rief sie in das Wohnzimmer.
„Nein“, antwortete er mit brüchiger Stimme. Und dabei war er natürlich in der Zugluft gestanden, oder besser gesagt, seine Augen standen in der Zugluft und alles wegen der Titten. Alles wegen ein wenig Fleisch in dem gottverdammten Gang, den man sowieso abreißen würde, weil das neue Freibad daneben schon fast fertig war. Und nun hatte ihn der Gang zum Abschied blind gemacht, bevor er zertrümmert wird. Blind sein, wie schlimm wäre das? Mit einem Hund könnte er sich anfreunden, der ihn über die Straße führt, ein langer Stock lag hinter dem Haus. Mit ihm würde er wie mit einer Sense vor sich herumfahren und die Leute im Umkreis von zwei Metern verscheuchen, die ihn mitleidig anglotzten. „Glotzt nicht so dumm“, würde er sie anbrüllen. Aber wie sollte er wissen, dass sie dumm schauten? Er könnte es ja nicht sehen. Und alles wegen der paar Titten und Max meinte, es sei so geil in dem Gang und durch die Löcher könnte man wunderbar die Badenden sehen, wie sie sich ausziehen und anziehen und bei den Mädchen wäre es besonders interessant. Und jetzt sollte er mit seinem Augenlicht dafür bezahlen, dass er geguckt hatte, stundenlang. Max an einem Loch, und er an dem anderen.

Jemand strich über seine Stirn. Es war Ottilie, die lautlos hereingekommen war, und er hatte sie nicht gehört, weil er nur an den Max dachte, den Idioten, der ihn verführte.
„Wie geht es dir?“, fragte ihn Ottilie ganz sanft und strich ihm über die Wange. Er hielt ihre Hand fest und fragte: „Mama, werde ich blind?“
Und dass sie eine Weile mit der Antwort wartete, war für ihn eine Antwort, und er deutete es als schlimmes Zeichen und drückte ihre Hand ganz fest auf sein Gesicht, dass es in den Augen noch mehr wehtat.
„Es wird wieder gut“, brachte sie dann heraus und er merkte, wie ihre Stimme zitterte und wie sie leise schluchzte. Er hörte, wie sie dagegen ankämpfte, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, um nicht sagen zu müssen: „Wir werden sehen, Martin, möglicherweise verlierst du dein Augenlicht.“ Aber sie strengte sich an und sagte es nicht und dass sie das tat, berührte ihn noch mehr und er spürte, wie sich seine mit Eiter und Schleim überzogenen Augen mit Tränen füllten, dass es höllisch brannte. Dann träufelten sie unter den Augenklappen hervor.
„Versuche, zu schlafen“, sagte sie ganz sanft und ihre Stimme klang wieder fester und tröstlicher als vorher.
„Ja, ich versuche es“, sagte Martin und dachte an die letzte Nacht, in der er kein Auge zugetan hatte, obwohl beide zu waren, obwohl er nichts als Schwarz sah, aber an nichts anderes denken konnte, als an den Gang im Freibad, der für sie verboten war.

„Da ist ein Gang hinter den Kabinen im Badehaus. Und da sind Astlöcher. Und da wirst du staunen“, hatte Max ihn angelockt. Martin folgte ihm und er könnte sich verfluchen dafür, dass er ihm gefolgt war. Weil er jetzt eben die Strafe dafür bezahlte, dass er den ganzen Tag nackte Leute durch das Loch angestarrt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, bis die Bindehaut ausgetrocknet war, dass sie juckte und brannte. Mit einem Hund würde er leben können und mit einem Stock auch. Und die Ohren würde er spitzen, wie ein Verrückter. Es gab blinde Klavierspieler, das hatte er schon gesehen. Sehen! Nie wieder würde er einen blinden Klavierspieler sehen können. Aber es gab sie und sie spielten unglaublich gut. Und es gab Blinde, die auf den Mount Everest gestiegen sind. Das könnte er auch. Das traute er sich zu. Aber Lesen. Wie sollte er jemals Blindenschrift lernen können?

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Da lernst du Blindenschrift, dann kannst du alles lesen. Da gibt es Bücher, die sind alle in Blindenschrift geschrieben.“

Der Trottel, dachte er. Einmal, im Aufzug im Krankenhaus, als sie Oma besuchten, hatte er neben den Knöpfen mit der Stockwerksangabe die Blindenschrift befühlt. Er spürte nichts als ein paar Erhebungen, die unregelmäßig angeordnet waren. Wie sollte er das jemals lernen? Auf seinem Bauch lag die Wärmflasche aus Gummi. Ottilie hatte sie ihm gebracht, obwohl ihm am Bauch nichts fehlte. Er fühlte die Noppen der Flasche, fuhr darüber und stellte sich vor, dass ein Blinder, der die Blindenschrift beherrschte, daraus wahrscheinlich eine Geschichte herauslesen könnte, oder vielleicht keine Geschichte, aber Wörter, Begriffe, irgendwas. Aber er konnte nichts daraus lesen. Für ihn waren es nur stumme Noppen auf einer Wärmflasche. Niemals würde er das lernen, niemals würde er Geschichten lesen können aus Noppen, die sich kaum vom Grund abhoben.

Dieser verfluchte Gang, der Gang hinter den Kabinen, der dem Untergang geweiht war. Er war verbotene Zone. Nur über das Wachzimmer des Bademeisters konnte man ihn betreten. Aber entweder war der Bademeister, so wusste Max, selbst damit beschäftigt, durch die Löcher in die Kabinen zu glotzen, oder er stand breitbeinig mit seiner roten Badehose vor dem Badehaus und unterhielt sich den ganzen Nachmittag mit blonden Frauen und streckte ihnen seine Hüften entgegen, die sich im Schritt dabei ausbeulten. „Keule“ nannte ihn Max, obwohl er Helmut hieß, und das war auch der Alarmruf, falls er kommen sollte.
„Ich rufe: ‚Keule kommt‘, sobald er sich nähert. Dann schnell den Gang entlang und durch das Fenster da hinten, siehst du? Eine sichere Geschichte. Wir werden unseren Spaß haben“, sagte Max. Aber Keule kam nicht, weil er vor seinem Wachzimmer stand und Frauen anmachte und sie hatten den ganzen Nachmittag Zeit. Hätte er nur nicht auf Max gehört, auf diesen Deppen, der meinte, er wüsste, wie man das macht. Aber er hatte auch Glück. Seine Augen waren in Ordnung am Ende des Tages. Der Wind ging ganz sanft und wenn man die Hand an das Loch hielt, spürte man nur leicht, wie er sich durch die kleine Öffnung hindurchzwängte, fühlte man einen leichten Druck auf der Haut. Dem Max machte es nichts aus. Aber für ihn, für den Martin, da reichte das bisschen Zugluft, dass es für seine Augen war, wie in einem Windkanal. Und er, er könnte sich verfluchen. Er musste ja unbedingt das Auge wechseln, wenn ihm das eine brannte. Da nahm er das andere und wechselte hin und her. Mit einem Auge, da hätte er noch sehen können. In das andere hätte er sich ein Glasauge gestopft, wobei ihn nur die Vorstellung ekelte, in die Augenhöhle zu fassen und ganz hinten kam ja schon sein Hirn. Aber immerhin hätte er ein Auge gehabt und Polyphem, das hatten sie zuletzt in Latein übersetzt, der einäugige Riese, machte auch dem Odysseus das Leben schwer, obwohl er nur ein Auge besaß. Und das stach ihm Odysseus aus mit dem Holzpflock. Aber ihm könnte man nicht einmal mehr ein Auge ausstechen mit einem Holzpflock, weil er gar keines mehr hätte.

Dabei war es ja am Anfang so lustig, wie der dicke Herr Breitsamer in die Kabine kam, der, wie Max immer sagte, eine Wampe hat, dass er sich nach hinten lehnen muss, um nicht umzufallen. Wie er gerade noch in die Kabine passte, das konnte Martin genau beobachten, wie er keuchend die Hose herunterstreifte und seinen behaarten Hintern dem Martin entgegenstreckte. Da winkte er den Max her, und der sah auch den Hintern vom Breitsamer als riesige Scheibe in der Umkleidekabine und sie hielten sich die Nasen zu, weil sie fast geplatzt wären vor Lachen, wie der Breitsamer auch noch anfing zu grunzen, wie ein Vieh, als er sich in seine enge Badehose zwängte und sich zwischen den Beinen rieb. Sie schlichen dann den Gang hinaus durch das Wachzimmer und atmeten nicht, weil sie sonst schon drinnen lauthals gelacht hätten, und dann hätte jeder gemerkt, was sie dort trieben. Also schlichen sie hinaus und durch das Wachzimmer von Bademeister Keule und als sie draußen waren, hielten sie es nicht mehr aus und juchzten in hohen Tönen, dass die Badegäste ringsherum auf sie schauten und sich wunderten. Da kam der Breitsamer aus der Umkleide und ging mit finsterem Gesicht an ihnen vorbei, und sie mussten nur auf seine Badehose schauen und prusteten, bis sie keine Luft mehr bekamen.

Das hatte ja der alte Pastor Helfrich schon im Konfirmationsunterricht gesagt, dass man sich nicht lustig machen soll über das Gebrechen anderer Leute, und das hatten er und Max ja weidlich getan, hatten ihn ausgelacht, den Breitsamer mit seiner knackengen Hose, über die ihm der Bauch hing, wie ein nasser Sandsack. Martin musste in seinem Leid kurz auflachen, wenn er an seinen finsteren Blick dachte und daran, wie er sich zwischen den Beinen rieb. Hatte ihm das also Gott nicht verziehen? Hatte er ihn gestraft, dachte Martin, weil er sich lustig gemacht hatte über einen Fetten, der kaum in die Kabine passte?
„Gott droht zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht gegen seine Gebote handeln“, sagte der alte Pastor Helfrich und schaute sie streng an. Den kleinen Katechismus, den hatte er ja gelernt für die Konfirmation, obwohl ihm der Gott ziemlich egal war. Er freute sich auf Geld und auf Geschenke. Und jetzt hatte er den Dreck, die Strafe in seinen Augen. Und alles wegen dem alten Holzschuppen von Badehaus, das sowieso demnächst abgerissen wird und ihm als letzte Hinterlassenschaft die Blindheit vermachte. Tanzen würde er um den Holzhaufen, ein Streichholz anzünden und Benzin in die Flammen schütten, dass es hoch in den Himmel lodert, weil es ihm Recht geschehe, dass es restlos zertrümmert wird, ausgelöscht, jede Spur getilgt. Aber Martins Spur würde nicht getilgt, er würde immer an das Badehaus denken müssen und an das, was ihm der läppische Gegenwind angetan hat.

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Im Fernsehen wird jetzt ganz viel mit Gebärdensprache übersetzt für die Behinderten.“ Und der Martin schrie ihn an, was er für ein Blödmann sei, weil ein Blinder die Gebärdensprache nicht sehen könnte. Die sei für die Gehörlosen, das kapiere doch jeder Depp.

Vielleicht aber, dachte Martin, war es auch die Strafe wegen der Frau Pelletier, der Französin, die seit langem in der Nachbarschaft wohnte und rief: „Wo ist denn der liebö Martä“, wenn er ihr helfen sollte. Er ging ja gerne zu ihr und riss das Unkraut in ihrem Garten aus, sammelte heruntergefallene Äpfel und mähte den Rasen, weil ihm ganz schummrig wurde, wenn sie ihn ansah mit den langen Wimpern und den tiefblauen Augen, und ihm das Herz in die Hose rutschte, wenn sie ihm über das Haar strich und hauchte: „Die bist eine so Liebör. Ich wünschte mir eine Sonn, wie du.“
„Pelletier, ach komm zu mir“, dichtete Max immer und es half nichts, dass ihn der Martin berichtigte, dass man es französisch ausspricht: „Pelletje.“ Aber dann dachte es Martin selbst, als er sie durch das Loch sah, „Pelletier, ach komm zu mir“, und sein Mund wurde ganz trocken und er bekam ihn gar nicht mehr zu, als sie aus dem luftigen Sommerkleid stieg, das sie sich nur von den Schultern zu streifen brauchte und schon stand sie fast nackt in der Kabine, nur ein kleiner Schwupps, und sie hatte nichts mehr an. Nur den schwarzen Büstenhalter sah er von hinten, den Verschluss, und am liebsten wäre er mit den Fingern durch das Loch geschlüpft und hätte die Haken geöffnet, aber die Pelletier machte das mit ihren anmutigen Händen und streifte den Halter über ihre Brüste. Und dann stand sie seitlich und er sah ihre Brüste im Profil, die zu den Brustwarzen hin anstiegen, wie zwei Skisprungschanzen. Da tauchte die Pelletier ihre Hand in einen Topf. Die Finger waren ganz weiß mit einer Schmiere bedeckt, die sie auf dem ganzen Körper verteilte, und ein Duft drang in Martins Nase, ein Duft aus Mandarinen und gebrannten Mandeln, und er ließ sein Auge offen, obwohl es unbedingt blinzeln wollte, aber er konnte keinen Augenblick verpassen, als sie mit ihren Händen zuerst ihre Beine eincremte bis oben hin, dann den Bauch und dann um ihre Brüste fuhr und die Masse mit schmatzenden Geräuschen in ihre Haut knetete. Er drückte seine Hüfte an die Wand, wetzte daran hin und her und steckte eine Hand in die Hose. Da pfiff Max, der von seinem Loch gerade aufsah, leise herüber und zischte: „He, wichst du?“ Und da erschrak Martin, zuckte zurück und schnellte wieder nach vorne, dass sein Kopf an die Wand knallte. Gleich ging er in die Hocke unter dem Loch und fühlte genau, wie das Auge der Pelletier darin erschien und unruhig hin- und herwanderte. „Ist da wör?“, rief sie und über sich spürte er, wie ein Strahl suchend den Korridor ausleuchtete, wie das Auge vom Polyphem, bevor es der Odysseus ausstach, aber er war darunter und sie konnte ihn nicht sehen.

Ein gnädiger Gott, das hatte der alte Helfrich gesagt, ein gnädiger Gott, danach hätte der Luther gesucht. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, rief er immer. Dazu machte er große Augen und seine buschigen Augenbrauen richteten sich auf wie schwarze Pinsel. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Das wäre Luthers Frage gewesen. Dann soll doch, so dachte Martin, der verdammte Gott mit ihm auch gnädig sein, an ihm seine Gnade erweisen und ihn, trotz der Sünden, von der Blindheit verschonen. Nie wieder wollte er, so schwor er, an Brüste denken, nie wieder sich anfassen, nie wieder unkeusch denken, wie es im Katechismus stand. Aber je mehr er versuchte, die Brüste der Pelletier zur Seite zu schieben, desto stärker kamen sie zurück und türmten sich vor ihm doppelt, dreifach, hundertfach zu einem Gebirge aus Brüsten auf, und er fuhr mit den Skiern über die Brustberge hinunter und sprang über die Brustwarze in die Tiefe, die ihn in einer trostlosen Dunkelheit verschlang. Nein, er könnte nicht keusch leben, das würde er nicht schaffen, er würde die Brüste nicht aus seinem Schädel bekommen, immer mehr würden sie zurückkommen, über ihn herfallen und ihn unter sich begraben, dass er nichts mehr sähe, nur noch Schwarz, aber das würde er sowieso. Und seine Hände, die er vorher artig neben die Schenkel gelegt hatte, fuhren wieder in der Körpermitte zusammen und verzweifelt zerrte er an seinem Schwanz, der sich nicht ausreißen ließ und stattdessen anschwoll zu einem beträchtlichen Stamm, der Keule alle Ehre gemacht hätte. Und so lag er da, der Martin, und umklammerte seine aufgepflanzte Stange und schluchzte laut auf vor Mitleid mit seinen Augen, seiner Mutter, seinem Schwanz und sich selbst.

Dann war es Abend und die Sonne stand schon tief. Viele Kabinentüren waren offen, und das Licht drang herein und warf durch die Astlöcher gebündelte Strahlen in den Gang. Martin sah den beleuchteten Staubflocken zu, die darin herumflogen. Er saß auf dem Boden und Max neben ihm, und er blinzelte in die Lichtstäbe, die ihm vorkamen wie aus einer anderen Welt, als hätte jemand Löcher in den Himmel gestoßen, und aus einer fremden Galaxie würde eine fremde Sonne in ihre Gangwelt scheinen. Das Kreischen der spielenden Kinder draußen war leiser geworden, das Raunen der Gespräche und das Wasserplantschen verebbte. Das Bad leerte sich. Da quietschte noch einmal die Tür, und Martin stand noch einmal auf und sah durch sein Guckloch den roten Haarschopf von Rebecca.
Er wendete sich erschreckt zur Seite. Sie hatte ihn am Vormittag noch gefragt, ob er ihr bei der Übersetzung vom Odysseus helfen könnte, weil sie immer mit dem Perfekt Schwierigkeiten hätte und mit dem AcI. Und er bekam einen roten Kopf und sagte: „Klar helfe ich dir, ist nicht so schwierig“, und schaute ihr nach, wie sie mit den langen roten Haaren vor der Schule nach links ging und er nach rechts. Und der Max sagte immer: „Was willst du mit der. Die hat ja Feuer auf dem Kopf.“ Aber das war Martin egal, oder gerade wegen dem Feuer wurde er immer feuerrot, wenn er sie sah und sie sich ihm näherte. Und plötzlich stand sie kurz vor Badeschluss in der Kabine und die Augen vom Martin waren schon gereizt, und er rieb sich immer wieder über das Gesicht und fuhr mit dem Finger in das eine Lid und dann in das andere, weil er meinte, es sei ein Staubkorn drin, oder eine Holzfaser. Und dabei waren die Augen so blutunterlaufen, dass der Max sagte: „Mensch, deine Augen sind ja blutrot.“ So rot wurde Martins Kopf, als Rebecca kam und er sich abwendete, aber dann doch wieder schaute, als sie ihren Bikini auszog. Aber auf einmal schämte er sich und drehte sich weg. Nein, auf keinen Fall wollte er die Rebecca nackt sehen. Nur von hinten wollte er sie anschauen, wie ihr die leuchtenden Haare über den Rücken fielen, oder ihr Gesicht, ihre blasse, schimmernde Haut, von der sich ihr Mund rot geschwungen absetzte. Davon hätte er nicht genug bekommen. Aber sie durch das Loch anstarren, das konnte er nicht und er spürte, wie ihm das Herz im Hals pochte und er war nur froh, durch die Wand Rebecca nahe zu sein und er legte die Hände auf das Holz und streichelte es. Dann hörte er, wie sie drinnen ihr Haar kämmte und leise das Lied sang, das sie am Vormittag in der Musikstunde gesungen hatten: „When I find myself in times of trouble mother Mary comes to me.
Speaking words of wisdom: Let it be.“ Und er lehnte an der Wand und seine Lippen bewegten sich stumm mit den ihren.

Und jetzt lag er da mit den Augenklappen und statt Schwarz sah er Rot, weil er an die Haare Rebeccas dachte und an den AcI und an ihr blasses Gesicht. Und vielleicht würde er das nie mehr sehen können, aber fühlen, das könnte er immerhin noch und er fuhr wieder über die Noppen der Wärmflasche, die, wenn sie schon nicht lesbar waren für ihn, doch fühlbar waren, und fühlen könnte er die Rebecca und mit dem Finger den zarten Schwung ihrer Lippen nachfahren, den sanften Bogen ihrer Nase, die weiche Kurve ihres Kinns. "When I find myself of trouble speak words with me”, improvisierte er mit seiner kratzigen Stimmbruchstimme, schluckte ein paar Mal, weil er an Rebecca dachte, wie sie singend in der Kabine stand und ihr Haar bürstete, und da hoffte er, dass das Hören schon reichen würde und das Riechen und das Fühlen, und dass es schon irgendwie werde. „Let it be, let it be, let it be“, krächzte er weiter und seine Mutter hörte ihn und sagte: „Martin, du singst ja“. Und er antwortete: „Ja Mama, ich singe.“

„Wenn du blind wirst, lese ich dir immer was vor, was du magst“, sagte Siegfried, sein Bruder. „Auch die Geschichten vom Humer, die mich gar nicht interessieren, das griechische Zeugs. Weil die hatten ja nicht mal richtige Pistolen.“ Und der Martin streckte seine Hand aus und suchte nach dem Kopf vom Siegfried und strich ihm über das Haar.


Martin stand neben Keule und sie schauten dem Bagger zu. Der machte sich gerade mit offenem Maul über das Gebälk des Badehauses her und Martin kam der Bagger vor wie ein Tyrannosaurus, der aus seinem Opfer enorme Fleischbrocken herausreißt und sich dann aufrichtet, den Kopf wild schüttelt und mit weiten Augen in die Urlandschaft stiert, während ihm das Blut von den Lippen tropft . Dann löste der Bagger seine Klappe und ließ die Schaufel mit Wucht herabsausen, dass die Dachkonstruktion krachend zusammenbrach.
„Schade“, sagte Keule. „Ich werde sie vermissen, die alte Bude. Da habe ich mich sehr wohlgefühlt.“ Er wippte mit der Hüfte vor und zurück. Martin dachte an Max, der erzählt hatte, dass das neue Freibad blöd sei, weil da gäbe es keinen Gang hinter den Kabinen, das hätte er schon ausgespäht und das mache ja gar keinen Spaß ohne Gang.
„Aber du hast Glück gehabt. Ein Auge ist ja schon wieder frei“, sagte Keule.
„Das andere wird auch wieder, hat der Doktor gesagt“, gab Martin zurück.
„Na also, da siehst du im Herbst ja wieder ganz normal. Und jetzt bleibst Du noch ein wenig, wie der Papa von Pippi Langstrumpf mit der Augenklappe. Wie nannte sie ihn gleich wieder? Ah, Negerkönig“, sagte Keule und lachte.
Martin blieb noch eine Weile stehen und betrachtete stumm, wie der Bagger den Gang einriss und die Bretter der Kabinen zersplitterten. Dann ging er, wendete sich um und rief Keule zu: „Negerkönig sagt man nicht!“

 
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Hola rieger,

Dein Gegenwind-Beitrag ist der Knaller der Saison! Seit ewigen Zeiten hab ich beim Lesen nicht so oft gelacht wie bei Deinem Text. Das ist wirklich saugut geschrieben.
Toll, wie Deine Sprache mit dem ‚Jugend’-tag zusammengeht.
Amüsant finde ich auch, dass ich Deinen Humor stets als etwas akademisch eingeschätzt habe – und hier spüre ich eine herrliche Erdnähe. Ich hatte so viel Spaß beim Lesen, dass mir erst nach dem letzten Punkt klar wurde, was Du da mit größter Sorgfalt für ein Meisterwerk eingestellt hast.
Ich könnte dutzendweise wunderschöne Gags zitieren, bin echt begeistert. Wenn man schon über dieses eigensinnige Ding zwischen unseren Beinen schreibt, dann finde ich Deine Art und Weise am intelligentesten. Denn es ist wirklich ein Fluch, besonders wenn man an die Folgen denkt, hier z. B.:

... jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, ...
Dieses Blindsein vor lauter Geilheit – oh Gott, wenn ich nur daran denke!

Meinen Dank für diesen Lesespaß, liebe/r rieger. Fabelhaftes Beispiel für den gekonnten Umgang mit Sprache. Damit wirst Du wohl den Vogel abschießen.
Und das gönne ich Dir von ganzem Herzen!

José

 

Hallo rieger,

ich gebe josefelipe in jedem Punkt recht. Ich habe die ganze Zeit beim Lesen gegluckst. Ist das ein hinreißender Unglücksrabe! Du führst mich immer im Kreis, mit Martins Selbstvorwürfen, seinem Zorn, seiner Tapferkeit und dabei von Höhepunkt zu Höhepunkt. Der Siegfried als Running Gag ist großartig.

Und dabei war er natürlich in der Zugluft gestanden, oder besser gesagt, seine Augen standen in der Zugluft und alles wegen der Titten.

:D Und du schaffst es tatsächlich diesen Schwung den ganzen Text durchzuhalten, diesen knorrigen Humor noch zu steigern.


Aber es gab sie und sie spielten unglaublich gut. Und es gab Blinde, die auf den Mount Everest gestiegen sind. Das könnte er auch. Das traute er sich zu. Aber Lesen. Wie sollte er jemals Blindenschrift lernen können?

So rührend, wie er darum ringt, das Beste aus der Situation zu machen.

Auf seinem Bauch lag die Wärmflasche aus Gummi. Ottilie hatte sie ihm gebracht, obwohl ihm am Bauch nichts fehlte.

Klasse. Der Junge ist krank, der muss eine Wärmflasche haben. Logisch.

Er fühlte die Noppen der Flasche, fuhr darüber und stellte sich vor, dass ein Blinder, der die Blindenschrift beherrschte, daraus wahrscheinlich eine Geschichte herauslesen könnte, oder vielleicht keine Geschichte, aber Wörter, Begriffe, irgendwas.

Ja, man könnte jetzt fast jeden Satz zitieren.

Und er, er könnte sich verfluchen, weil er musste auch unbedingt das Auge wechseln, wenn ihn das eine brannte. Da nahm er das andere und wechselte hin und her. Und mit einem Auge, da hätte er noch sehen können. In das andere hätte er sich ein Glasauge gestopft, wobei ihn nur die Vorstellung ekelte, in die Augenhöhle zu fassen und ganz hinten kam ja schon sein Hirn. Aber immerhin hätte er ein Auge gehabt und Polyphem, das hatten sie zuletzt in Latein übersetzt, der einäugige Riese, machte auch dem Odysseus das Leben schwer, obwohl er nur ein Auge besaß. Und das stach ihm Odysseus aus mit dem Holzpflock. Aber ihm könnte man nicht einmal mehr ein Auge ausstechen mit einem Holzpflock, weil er gar keines mehr hätte.

:lol: Ist das dein erster Text mir Humor, oder gibt es da noch mehr?

Dabei war es ja am Anfang so lustig, wie der dicke Herr Breitbesamer in die Kabine kam, der, wie der Max immer sagte, eine Wampe hat, dass er sich nach hinten lehnen muss, um nicht umzufallen.

"Herr Breitbesamer" das ist schon fast über den Punkt. Aber ich kauf es. Und denke plötzlich nicht an Max und Martin, sondern an Max und Moritz.

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Im Fernsehen wird jetzt ganz viel mit Gebärdensprache übersetzt für die Behinderten.“ Und der Martin schrie ihn an, was er für ein Blödmann sei, weil ein Blinder die Gebärdensprache nicht sehen könnte. Die sei für die Gehörlosen, das kapiere doch jeder Depp.

Großartig. Und auch so süß, wie die Brüder sich am Ende näher kommen.

Die Szene mit der Frau Pelletier hast du absolut stilsicher gebracht. Man sieht die Jungs an den Astlöchern kleben, man sieht sein Auge immer röter werden.

So rot wurde Martins Kopf, als die Rebecca kam und er sich abwendete, aber dann doch wieder schaute, als sie ihren Bikini auszog. Aber auf einmal schämte er sich so und drehte sich weg. Nein, auf keinen Fall wollte er die Rebecca nackt sehen.

Und dann noch eine Liebesgeschichte, rieger, da ist dir echt was gelungen. Man ahnt, dass es gut ausgehen wird.

„Na also, da siehst du im Herbst ja wieder ganz normal. Und jetzt bleibst Du noch ein wenig, wie der Papa von Pippi Langstrumpf mit der Augenklappe. Wie nannte sie ihn gleich wieder? Ah, Negerkönig“, sagte Keule und lachte.
Martin blieb noch eine Weile stehen und betrachtete stumm, wie der Bagger den Gang einriss und die Bretter der Kabinen zersplitterten. Dann ging er, wendete sich um und rief Keule zu: „Negerkönig sagt man nicht!“

Und kaum kann er halbwegs aus einem Auge gucken, hat er wieder Oberwasser.

Es ist ein bisschen Bullerbü in frivol, hach, tut auch mal gut. Mir fällt gerade nichts zum Verbessern ein, wenn doch noch, melde ich mich. Du hast mir echt den Abend versüßt. Vielen Dank, rieger!;)

Liebe Grüße von Chutney

 

Lieber rieger

Er sah ja nichts mit den Augenklappen, lag den ganzen Tag auf der Couch und konnte nur hören, was um ihn herum passierte. Ja, seine Ohren. Die würden ihm bleiben, dachte er, die müsste er jetzt trainieren, um einen neuen Sinn auszubilden, weil die Augen, die könnte er vergessen. Der Doktor hatte einen Tonfall in der Stimme, das nahm er genau wahr, dass er ernst war, sehr ernst, so ernst, dass es dem Martin ganz schwarz vor den Augen würde, aber sie blickten ohnehin ins Schwarze, auf zwei schwarze Deckel, die ihm der Arzt aufgelegt hatte.
„Frau Kieland, bitte kommen Sie mit heraus“, hörte er den Doktor sagen und da spitzte er seine Ohren, und das leise Flüstern drang zu ihm, als wenn sie neben ihm sprechen würden, weil nichts ihn ablenkte, nicht die dummen Augen, mit denen er durch das Loch gestarrt hatte, stundenlang, und jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, würde der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen. „Konjunktivitis“, drang es deutlich an sein Ohr, „Bindehautentzündung in einer schwereren Form.

Etwas viel Konjunktiv, habe ich mir gedacht, und mir dann bei "Konjunktivitis" verwundert die Augen gerieben. Falls du das absichtlich gemacht hast: :huldig:

Dennoch würde ich das "könnte" durch "konnte" ersetzten, passt glaub besser.

Ich melde mich die Tage noch ausführlicher, aber das musste ich unbedingt loswerden. Grandiose Geschichte, so viel kann ich schon mal sagen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
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Hallo rieger,

deine Geschichte hat einen tollen Humor. Nicht so aufgesetzt, sondern teilweise fast schon verzweifelt, also aus Martins Sicht, dass ich ein paar Mal echt grinsen musste. Einer meiner Lieblingssätze ist wohl der hier:

Es gab blinde Klavierspieler, das hatte er schon gesehen. Sehen! Nie wieder würde er einen blinden Klavierspieler sehen können.

Was du machst, ist teilweise lange Sätze mit vielen "und"s schreiben und vielen Wortwiederholungen und so vielen Wiederholungen, dass es vielleicht nerven könnte, aber es nervt nicht, nein, gar nicht, weil es ist eben der Martin und der Martin hat tausend komische Gedanken im Kopf und dazu ist er auch noch blind und geil und weiß nicht, wohin damit, denn der Pfaffe sagt "das darfst du nicht", aber es gefällt dem Martin und dann entzünden sich auch noch seine Augen, weil der Wind so durch das Glotzloch zieht. Muahaha, geile Idee. Wirklich. Als ich gecheckt habe, dass das der Auslöser ist, der Wind, der durch das Loch pfeift, da musste ich echt lachen.

So, also die Art und Weise und auch die Idee gefallen mir echt gut. Das einzige, was ich ein wenig ermüdend fand, waren diese religiösen Absätze, also diese ganzen Sachen aus dem Konfirmationsunterricht. Ich überlege, ob die wirklich so ausführlich sein müssen ... Mich haben sie eher immer wieder ausgebremst.

Dass er gerade bei Rebecca nicht durch das Guckloch glotzen kann, ist natürlich zuckersüß ;)

Ja, also bis auf diese paar Absätze, die ich ein wenig zu ausführlich fand, hat mich das echt mitgerissen. Gefällt mir.

Liebe Grüße
RinaWu

 

Hej rieger,

wunderbar, dass ich so rasch in den Genuss einer Geschichte von dir komme. Lustig auch, dass wir beide zwei Protagonisten in der Challenge haben, die eine aufregende Zeit im Sommer verbringen. Beides Kinder.

Naja, aber bei dieser hier konnte ich mich gut amüsieren.

Gleich vom ersten Satz an gibst du genau an, wer hier den Ton angibt. Herrlich kindlich und dramatisch. Und ich habe augenblicklich einen Jungen vor Augen. :shy:

Aber die verläuft nicht so gravierend, aber möglicherweise hat sich ein Bakterium eingenistet in das gereizte Gewebe.

Für die Aussage eine Arztes kommt mir das doppelte aber unangebracht vor. Aber sicherlich ist das lediglich aus dem Gedächtnis des Jungen nacherzählt.

„Martin war nicht in der Zugluft“, sagte Ottilie. „Martin, warst du in der Zugluft?“, rief sie in das Wohnzimmer.

Ach, eine typische Mama. Er aussagen, dann fragen. ;)

Ganz zauberhaft wie du mich an seinen Gedanken teilhaben lässt und das ist sehr berührend, doch nicht anrührend, sondern ich war bemüht, nicht zu sehr zu lächeln, um ihn nicht in seinem Leid zu kränken, überzeugt von seiner Erblindung. rieger, das ist schön geworden.

Sehr gut gefällt mir die Erwähnung des Katechismus, der mir dann auch sein schlechtes Gewissen und die mehrmalige Wiederholung seiner "Tat" erklärt.

„Ja, ich versuche es“, sagte Martin und dachte an die letzte Nacht, in der er kein Auge zugetan hatte, obwohl beide zu waren, obwohl er nichts als Schwarz sah, aber an nichts anderes denken konnte, als an den Gang im Freibad, der für sie verboten war.

Ein zu und zu reizendes Menschenkind. Ich bin ganz bei ihm und sehr gespannt, was er sich hat zuschulden kommen lassen. Krumen in Form von Fleisch und
Titten[/QUOTE. ]hast du ja ausgestreut. Und dennoch zweifle ich, dank deiner Sprache und der Wichtung, keine Sekunde an seiner vollständigen Heilung. Danke schon mal dafür.

Ach und die Namen: Pelletier (unfranzösich :)), Helfrich für den Pastor und Breitbesamer für einen Spanner.

Martin sah den beleuchteten Staubflocken zu, die darin herumflogen. Er saß auf dem Boden und der Max neben ihm, und er blinzelte in die Lichtstäbe, die ihm vorkamen wie aus einer anderen Welt, als hätte jemand Löcher in den Himmel gestoßen, und aus einer fremden Galaxie würde eine fremde Sonne in ihre Gangwelt scheinen

Du entwirfst einen äußerst komplexen Jungen, der zwischen den Welten seiner Existenz steht: seiner Kindheit und der der Erwachsenen. Mit beidem hast du dir sehr viel Mühe im Detail gegeben und ich liebe das sehr. Es ist ein großes Vergnügen, ihn dabei ein kleines Stück zu begleiten.

Und vielleicht würde er das nie mehr sehen können, aber fühlen, das könnte er immerhin noch und er fuhr wieder über die Noppen der Wärmflasche, die, wenn sie schon nicht lesbar waren für ihn, doch fühlbar waren, und fühlen könnte er die Rebecca und mit dem Finger den zarten Schwung ihrer Lippen nachfahren, den sanften Bogen ihrer Nase, die weiche Kurve ihres Kinns.

Heidewitzka, wat'n Satz. Und wofür eine Wärmflasche für einen phantasievollen, träumerischen Jungen so herhalten kann. Ganz wunderbar, wie du bei allem bleibst, was sich Innerhalb der Geschichte bewährt. Sowohl inhaltlich, als auch sprachlich.

„Wenn du blind wirst, lese ich dir immer was vor, was du magst“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Auch die Geschichten vom Humer, die mich gar nicht interessieren, das griechische Zeugs. Weil die hatten ja nicht mal richtige Pistolen.“ Und der Martin streckte seine Hand aus und suchte nach dem Kopf vom Siegfried und strich ihm über das Haar

So verschieden und doch so vereint. Sehr zart und deutlich dargestellt.

„Aber du hast Glück gehabt. Ein Auge ist ja schon wieder frei. Und mit dem Zweiten sieht man ja besser“, sagte Keule.

Falls es nach mir ginge, würde ich den letzten Satz lieber nicht in deiner Geschichte lesen. :shy:

Und dann komme ich zum Schluß auch noch zum Titel, dessen Wahl ich leider nicht verstanden habe. Ich komme einfach nicht dahinter, warum das von so großer Bedeutung sein soll, wo es sich doch lediglich um ein äußeres Merkmal handelt. Vielleicht erklärst du es ja innerhalb deiner Antworten. Ich werde ihnen mit Freude folgen.

Danke für diese Geschichte und lieber Gruß, Kanji

 

Hallo rieger,

bei dem Begeisterungssturm hier möchte ihr doch noch etwas Gegenwind dazu beitragen. Höhö...

Es freut mich, dass die Geschichte so gut ankommt. Es fasziniert mich auch. Weil ich irgendwie nichts damit anfangen kann. Ich finde es interessant bei Geschichten, die mir nicht gefallen, bei dem Großteil der Leser hier am gut ankommen, zu überlegen warum das so ist. Bin ich irgendwie komisch? Hab ich was nicht verstanden?

Negerkönig sagt man nicht
Den Titel finde ich erstmal gut, macht neugierig. Schade, dass er dann eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun hat.

Alles wegen ein wenig Fleisch in dem gottverdammten Gang, den man sowieso abreißen würde, weil das neue Freibad daneben schon fast fertig war.
Die Idee mit dem Gegenwind im Guckloch ist cool.
Du schreibst 18 Mal das Wort „Gang“ und wiederholst so oft, dass sie da standen in diesem Gang, der ja bald abgerissen wird. Mich stört das.

Und diese Beschreibungen von dicken Männern und Frauen mit spitzen Brüsten in der Kabine, und dann noch der Pastor und der dumme Siegfried – ich weiß nicht, ich finde das anstrengend. Ich muss zugeben am Ende einiges übersprungen zu haben. Irgendwie kam mir alles gleich vor.

Wegen mir könnte man die Pelletier und den Pastor streichen, aber dann würden hier wahrscheinlich einige aufschreien.

Irgendwie bin ich unfähig in Worte zu fassen, was mir nicht gefällt, es tut mir echt leid. Vielleicht ist es dieses Gelaber, die Wiederholungen. Diese Beschreibung von allerlei Alltagskram und Gedanken, die Martin durch den Kopf schießen jetzt wo er nichts mehr sieht. Das ist mir einfach zu viel, ich vierlier den Faden, warum sollte ich noch mal am Ball bleiben?

Und jetzt bleibst Du noch ein wenig, wie der Papa von Pippi Langstrumpf mit der Augenklappe. Wie nannte sie ihn gleich wieder? Ah, Negerkönig
Was ist das für ein merkwürdiger Gedankengang? Nur weil er eine Augenklappe trägt? Musstest den Titel noch irgendwo unterkriegen, hmmm? :p

Keine Ahnung, ob mein Geschreibsel jetzt hilfreich ist. Es scheint auf jeden Fall gut zu laufen, mit dir und der Challenge. :thumbsup:

Liebe Grüße,
Nichtgeburtstagskind

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo rieger,

da brauch ich gar nicht zu den anderen Kommentaren zu schielen. Ich weiß jetzt schon, du wirst ganz oben im Ranking der Challenge landen.

Eine Geschichte wie aus einem Guss, trotz ihrer Länge. Ich lese L. Thomas "Lausbubengeschichten" auf protestantisch und modernisiert. Was dieser Junge für ein Karussell im Kopf hat und eins im Herzen mit den Bildern vom so faszinierenden Verbotenen, von Neugierde und Ängsten und der Achterbahn von Hoch- und Schuldgefühlen!

Die Astlöcher in Zäunen und Wänden sind früher ganz wichtig gewesen für den Anschauungsunterricht über das richtige Leben. Ich glaube, das war in jedem älteren Schwimmbad so. Heute allerdings gibt es Smartphones. Man braucht als Knabe auch nicht mehr zur Nachbarin gehen, um in deren Illustrierten Werbung für Damenunterwäsche anzusehen. (hat mir mein Sohn, Vater eines Dreizehnjährigen, jüngst gestanden).

Auch das Spielen mit den Fremdsprachen gefällt mir, ebenso mit der gymnasialen Bildung, Humer und Polyphem

Pelletier, ach komm zu mir ,wirklich witzig. Die Aussprache des Französischen ist für manche Zungen nicht ganz einfach.

Dass der Knabe aber nach der Genesung darauf besteht, dass "Negerkönig" gegen die political correctness verstößt, zeigt, in seinem Reifeprozess ist er deutlich fortgeschritten.

Ganz begeistert
wieselmaus

 

Hey rieger,

eine ganz zauberhafte Geschichte. Sweet geradezu, auch wenn es eigentlich ein Drama ist, wenn man um sein Augenlicht bangen muss.

Nichtgeburtstagskind schrieb:
Vielleicht ist es dieses Gelaber, die Wiederholungen.

Das ist witzig, weil mir beim Lesen wieder mal aufgefallen ist, was für ein tolles Stilmittel die Wiederholung ist, wenn sie denn gekonnt eingesetzt wird. Und das tust Du für mich. Ich habe mich jedes Mal darüber gefreut, war gar nicht genervt. Aber ich kann auch verstehen, wenn es anderen da ganz anders mit geht. Zum Glück sind die Vorlieben und Geschmäcker verschieden.

Großartige Idee, tolle Umsetzung, feiner Humor - mir hat es total gut gefallen. Mehr hab ich nicht beizutragen, aber ich glaub, das stört Dich nicht weiter.

Danke für die schöne Lesezeit. Und ja, eine gute Jugendgeschichte hat so schon mal die Challenge gerockt, mit Jugend identifiziert sich jeder gern - die Zielgruppe schließt praktisch niemanden aus ;). Aber da sind ja auch noch andere Geschichten mit ordentlich Gegenwind im Spiel.

Beste Grüße,
Fliege

 

Hallo rieger,

auf einen wohlwollenden Kommentar mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an – deshalb kommt von mir jetzt auch noch einer: Was für eine tolle Geschichte!
Ich könnte jetzt auch ganz viel zitieren, was ich richtig schön fand, aber das haben andere schon zur Genüge getan.

Na doch, stellvertretend für so Vieles nur mal das hier:

Er fühlte die Noppen der Flasche, fuhr darüber und stellte sich vor, dass ein Blinder, der die Blindenschrift beherrschte, daraus wahrscheinlich eine Geschichte herauslesen könnte, oder vielleicht keine Geschichte, aber Wörter, Begriffe, irgendwas.
Das ist sooo schön, sich vorzustellen, dass einer eine Geschichte aus einer bekloppten Wärmflasche lesen könnte!

Irgendwie hatte ich beim Lesen lange den Eindruck, die Geschichte würde viel früher spielen, Zwanziger/Dreißiger Jahre vielleicht - sie wirkt so richtig schön aus der Zeit gefallen, und bestimmt wolltest du das so. Mit diesen Namen: Ottilie und Helmut und Siegfried … Und dem Badhaus. Ich hatte immer solche Bilder im Kopf wie die Illustrationen von Emil und die Detektive.
Bis ich gemerkt habe, Ah, es gibt ja schon Fernsehen. Da habe ich auf Fünfziger/Sechziger Jahre getippt, aber dann kam Green Day: Wake Me Up When September Ends, und das ist zwar auch nicht mehr neu, aber schon unsere Zeit. Aber das ist ja bei dieser Geschichte auch völlig egal, weil solche „Lausbubengeschichten“ zu jeder Zeit ähnlich funktionieren. Irgendwer hatte hier ja auch Max und Moritz erwähnt - Max ist ja auch da, und Martin – standen da vielleicht zufällig die Heiden von Kummerow Pate?

Was ich übrigens auch etwas irritierend fand - das wurde hier auch schon gesagt – dass der Arzt extra nach Hause kommt. Aber früher war das ja sicher so ...

Auf jeden Fall hatte ich sehr viel Spaß mit deiner Geschichte.

Viele Grüße von Raindog

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Rieger, ich sag so gut wie gar nichts. Jedenfalls im Vergleich mit meiner momentanen Kommentarlänge. Ich lob nur. Und das furchtbar gerne.

Ich habe so gelacht.
Zum Beispiel darüber:

Und nun hatte ihn der Gang zum Abschied blind gemacht, bevor er zertrümmert wird. Blind sein, wie schlimm wäre das? Mit einem Hund könnte er sich anfreunden, der ihn über die Straße führt, ein langer Stock lag hinter dem Haus. Mit ihm würde er wie mit einer Sense vor sich herumfahren und die Leute im Umkreis von zwei Metern verscheuchen, die ihn mitleidig anglotzten. „Glotzt nicht so dumm“, würde er sie anbrüllen. Aber wie sollte er wissen, dass sie dumm schauten? Er könnte es ja nicht sehen. Und alles wegen der paar Titten

ich glaube mit am meisten gefallen mir immer die Stellen wo du so ulkig mit dem Sehen, der Tätigleit der Augen, dem Inhalt des Sehens und der Strafe dafür spielst. Das ist schon so in dem Satz, den ich in dem "Schöne Sätze Faden" gepostet habe - und bei dem folgenden ist es auch so.
Weil er jetzt eben die Strafe dafür bezahlte, dass er den ganzen Tag nackte Leute durch das Loch angestarrt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, bis die Bindehaut ausgetrocknet war, dass sie juckte und brannte.

Aber ihm könnte man nicht einmal mehr ein Auge ausstechen mit einem Holzpflock, weil er gar keines mehr hätte.
:D

Und dann die Namen: Keule, Herr Breitbesamer, Pastor Helfrich, Frau Pelletier.

Oder der Bruder mit seinen hilfreichen Vorschlägen:

„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Im Fernsehen wird jetzt ganz viel mit Gebärdensprache übersetzt für die Behinderten.“
:D

Aber je mehr er versuchte, die Brüste der Pelletier zur Seite zu schieben, desto stärker kamen sie zurück und türmten sich vor ihm doppelt, dreifach, hundertfach zu einem Gebirge aus Brüsten auf, und er fuhr mit den Skiern über die Brustberge hinunter und sprang über die Brustwarze in die Tiefe, die ihn in einer trostlosen Dunkelheit verschlang.
Die habens schon schwer, die Buben in der Pubertät.

Und dann, das ist so süß, wenn er trotz allen Dranges nicht mehr auf die weiblichen Rundungen starren kann, das ist einfach goldig, ja, da weiß man, er ist verliebt.

Irgendwie wallt und wabert das so in deiner Geschichte und ist so urtümlich derb und gleichzeitig ganz fein und zart und voller Zuneigung.
Es hat mächtig Spaß gemacht, das zu lesen. Richtig groß!!

Viele Grüße von Novak


Und eine kleine Edit anbei kriegste noch als Zuckerl obendrauf:

Er hörte, wie sie dagegen ankämpfte, ihn nicht mit der Wahrheit zu konfrontieren, um nicht sagen zu müssen: „Wir werden sehen, Martin, möglicherweise verlierst du dein Augenlicht.“
Also ich hab ja immer Probleme mit der doppelten Verneinung. Aber ich frage mal vorsichtshalber nach: Wolltest du wriklich sagen, dass Ottilie darum kämpft, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren. Das steht nämlich hier: Er hörte, wie sie dagegen ankämpfte, ihn nicht mit der Wahrheit zu konfrontieren. Ich kämpfe dagegen an, etwas zu tun. Hier: jemanden NICHT mit der Wahrheit zu konfrontieren. Also kämpfe ich darum, sie ihm zu sagen.
Das hier aber behauptet das Gegenteil: ... um nicht sagen zu müssen: „Wir werden sehen, Martin, möglicherweise verlierst du dein Augenlicht.“

 

Hallo josefelipe,
vielen Dank für Deine Lesezeit und es freut mich natürlich, dass sie vergnüglich war. Ja, ich dachte mir, ich probiere mal etwas Lustiges aus. Obwohl es ja so lustig gar nicht ist. Immerhin bangt der Martin ja um sein Augenlicht. Aber dann ist es im Zusammenhang mit der Thematik Badehaus so komödiantisch geworden. Das lag einfach auf der Hand. Bedenken hatte ich tatsächlich, dass e zu sehr Haudraufhumor wird, zu sehr Knaller, der berechnet wirkt, weil man über den gewählten Gegenstand einfach am besten lachen kann. Aber Deine Einschätzung freut mich da sehr, weil für Dich die Baöance wohl gehalten zwischen Gaffen und Würde. Das hat mich auch beschäftigt. Aber dann beruhigte ich mich mit dem Konzept der Innenschau. Es ist ja Martin, der das denkt und fühlt, nicht der Autor. Dahinter habe ich mich versteckt, um Dinge zur Sprache zu bringen, die sonst nicht so leicht gingen. Also nochmal besten Dank und herzliche Grüße
rieger


Hallo Bea Milena,
gut, dass Du ein paar sprachliche Dinge aufdeckst und mich ein wenig auf Löcher stößt! Ich muss mir mit der Korrektur ein wenig Zeit lassen. Ich werde aber ganz sicher über den Text gehen und Einwände und Vorschläge bedenken. Ja, in der Provinz soll es noch Ärzte geben, die nach Hause kommen. Obwohl das auch selten wird. Aber das hast Du ganz genau lokalisiert. Ja, mit den unds habe ich gehadert. Letztlich war es ein Ergebnis eines Schreibprozesses, der so gering wie möglich gefiltert war und das ist es auch, was Du am Ende bemerkst. Das ist, wenn ich es richtig einordne, so ein Stream of Consciousness-Ding, das gedanklich herumfährt in Bögen und Assoziationen und den chaotischen Gedankenstrom nachfährt. Daher auch die Motivwiederholungen und Endlossätze, die eigentlich keine Konstruktionen sind, sondern Würmer, die mit unds verbunden werden. Das wollte ich mal ausprobieren und da hat sich das Thema angeboten, nur eine Innensicht zu machen mit dem Martin, der da liegt. Aber beim Lesen kam es mir auch manchmal sehr und-lastig vor und das werde ich noch näher unter die Lupe nehmen. Besten Dank für Deinen Kommentar jedenfalls, für die Lesezeit und schön, dass es Dir gefallen hat! Sicher, ein Roman wäre in der Sprache schon eine schwierige Nummer. AcI ist eine Konstruktion aus der Lateingrammatik, mit der sich alle Lateinpennäler herumschlagen müssen.
Herzlich
rieger


Hallo Chutney,
freut mich sehr, dass Dich der Text an der Stange hält und Du nicht den Eindruck hast, dass er nach den ersten Anspielungen sich im Nichts verliert. Als Text ja, das ist der erste, der humorig angelegt ist. Mit Humor, Komik, wie Pointen funktionieren, damit habe ich mich schon ein wenig beschäftigt. Da gibt es ja so Grundprinzipien, die ich versucht habe, zu berücksichtigen. Aber es gibt nichts auf der Halde, was in die Richtung geht. Aber das hat sich hier einfach auch angeboten. Klar, Themen unter der Gürtellinie gehen immer und der Schabernack damit ist auch eine sichere Sache. Soweit ich lese, ist es für die meisten nicht zu derb, sondern kann die Waage halten. Und sicher, der Breitbesamer geht dann schon an die Grenze zur Comedy. Aber die Namen sind einfach auch Teil der Komik und das ist schon rustikal, das stimmt schon. Mit Max und Moritz liegst Du ja auch richtig und wieselmaus schreibt Ludwig Thoma als Vorbild, der mit seinen Lausbubengeschichten einen Standard gesetzt hat, obwohl er wie mehr war, als ein Lausbubenautor, im Gegenteil. Aber auch politisch brisant und gefährlich. Im Nachhinein habe ich aber gemerkt, wie der Tonfall Thomas da ein wenig hereingeschwungen ist mit den „der Martin“, „der Max“, „der Siegfried“, statt der einfachen Namensnennung. Das ist das bayerische Kolorit, das da ein wenig zu spüren ist vielleicht. Und Bullerbü natürlich auch mit der sommerlichen Idylle, die sich aber eigentlich als fundamentale Entwicklungsgeschichte herausstellt, so dachte ich es zumindest ursprünglich.
Ganz herzliche Grüße
rieger

Lieber Peeperkorn,
die vielen Konjunktive und, wie Bea Milena anmerkte, die vielen „und“, die haben mich auch überrascht. Ursprünglich waren es noch mehr. Aber das „konnte“ übernehme ich gerne gleich, weil es tatsächlich glatter klingt.
Beste Grüße
rieger


Hallo RinaWu
Wie schön, Deine Zusammenfassung und schön, dass Dich die Endlosteile von Sätzen nicht nerven, obwohl ich es verstehen kann, wie Nichtgeburtstagskind es sieht. Genau, wie Du es schreibst, habe ich es im Grunde gedacht: Tausend Gedanken, die dem Martin durch den Kopf gehen, eine Melange aus Erinnerung, Schuldgefühlen, Hoffnung, Verzweiflung, alle Höhen und Tiefen, die einem beim blinden Liegen auf der Couch kommen. Um das mit den Schuldgefühlen ein wenig tiefer zu bohren, habe ich die religiöse Komponente reingenommen. Ich bin mir nicht sicher. Aber heutzutage wird im Konfirmandenunterricht sicher nicht mehr die Moralkeule geschwungen, wie früher. Deshalb auch der alte Pastor, der das noch nach alter Art macht. Aber der kleine Katechismus dürfte da schon noch eine Rolle spielen. Ich dachte auch, dass es dann ein wenig mehr in die Richtung geht, wie es wieselmaus gesehen hat. Letztlich als unfreiwillige Initiation, als gewaltsames Ritual des Erwachsenwerdens, das ihn nachdenken lässt und auch spüren lässt in allen Facetten, was er eigentlich gemacht hat. Er hat ja nicht Schlimmes gemacht. Aber doch ist eine Grenze überschritten, er ist ein Spanner, der sich lustig gemacht hat. Diesen Zwiespalt wollte ich damit zeigen und das schien mir auch wichtig. Besten Dank für Deine Zeit!
Liebe Grüße
rieger


Hej Kanji,
ja, und in beiden Geschichten spielt die Badeanstalt eine beträchtliche Rolle. Wobei sie bei Dir eher als geheimnisvolle Sphäre erscheint, bei mir ja als Hauptschauplatz in aller Deutlichkeit. Stimmt, das „aber“ habe ich rausgenommen. Der Katechismus ist tatsächlich die Grundlage für das schlechte Gewissen und das freut mich, dass Du das so siehst. Und es freut mich auch, wie Du die Ambivalenz Martins zwischen Kindheit und Kindlichkeit und schmerzlichem Erwachsenwerden begleitest. Und dann war im Grunde die Idee, wie ich vorher schon schrieb, dass es sich für ihn um ein Ritual des Erwachsenwerdens handelt, ein gewaltsames, wie wenn man Kinder in afrikanischen Stämmen mit gefährlichen Situationen konfrontiert und dann öffnet sich für sie die Tür zum Erwachsenen in einem Prozess, den man dann wirklich als Adoleszenz bezeichnen kann. Der Effekt wäre dann, dass er die Welt nachher anders wahrnimmt, dass er die kindliche Lust am Sich-lustig-machen verliert, weil er merkt, dass es Grenzen gibt, den Begriff Würde vielleicht, den er an Rebecca erlebt, dass er sie eben nicht anglotzen kann, weil sich da was anderes regt, als die archaische Triebhaftigkeit. Und dann sagt er eben zu Keule: Negerkönig sagt man nicht. Das bringt es für mich auf den Punkt. Er sieht, oder ahnt zumindest, dass man aufgrund einer Verantwortung, aufgrund einer anderen Weltsicht den Nigger nicht Nigger nennen kann, weil da Jahrhunderte an Ungerechtigkeit im Hintergrund herunterrauschen. So war das eigentlich gedacht. Allerdings wird das ganz unterschiedlich beurteilt, wie ich sehe. Ja, der Titel hat natürlich einen reißerischen Ton. Mal sehen. Sehr herzlichen Dank jedenfalls für Deine Zeit und liebe Grüße!
rieger


Hallo Nichtgeburtstagskind,
besonderen Dank Dir, weil Du Dich trotz Nichtgefallen ein Statement abgibst und auf die Suche nach den Ursachen gehst. Cool!
Was Du bemängelst, leuchtet mir völlig ein. Es ist aber dann wohl schlichtweg Ansichtssache, ob man den verschwurbelten Gedanken Martins folgen mag und ja: Mit der Reihe „Dicke – Nackte – Brüste – Pastor“ sprichst Du eine Kette von Klischees an, die man in so einer Geschichte finden will und die sie, das war schon ein wenig meine Befürchtung, zu marktschreierisch, zu anbiedernd machen könnte und auch zu angestrengt, wie Du es beschreibst. Ich dachte es aber so, dass ich die Figuren aus Martin Kopf ableite, mich als Schreiber im Grunde hinter ihm verstecke und dadurch, wie ich weiter oben schon mal geschrieben habe, die Klischees raushauen kann in der Obszönität, in der derben Direktheit, wie @Nowak schreibt. Gleichzeitig habe ich versucht, mit der religiösen Komponente und mit dem Erscheinen Rebeccas, das die Bewertung des Spannermotivs in eine andere Richtung lenkt, den Ton von der kracherten Lederhose wegzulenken. Und das dann in den langen Satzschlangen, die sich wiederholen. Ja, das ist sicher auch Geschmackssache. Ich habe, wie auch schon gesagt, das als eine Art Action-writing praktiziert, wie die Jungen Wilden in der Malerei: Einfach mal hinschmieren, und dann schauen, was es geworden ist. Dann allerdings schon eine klare Korrekturphase. Aber es bleibt dann das Moment der Spontaneität, andererseits aber auch viele Wortgirlanden, die manisch um bestimmte Patterns kreisen. Zum Titel habe ich Kanji schon einiges geschrieben. Für mich passt er deshalb, weil sich darin der Wandel, den Martin als Heranwachsender durchmacht und der sich dann nach der Geschichte vollzieht, in diesem Moment verdichtet. Eine differenziertere Weltsicht hat Martin vielleicht, der nicht mehr mit Kinderaugen am Astloch steht, vielleicht eine auf andere hingerichtete Sexualität entwickeln kann, ohne spannen zu müssen, und menschliche Würde erkennt und sich nicht mehr über Fette lustig macht. Mag übertrieben klingen, aber im Ansatz dieser Wandel war der Grundgedanke. Von daher passt es für mich. Dennoch scheint es ein weiter Bogen zu sein, wie ich aus einigen Kommentaren sehe. Jedenfalls sehr herzlichen Dank für Deine ehrliche Anwort. Es war mehr als hilfreich!
Sehr herzlich
rieger

 

Hallo wieselmaus,
Deine Charakterisierung freut mich sehr! Der Thoma schaut ein wenig sprachlich herein, das kann ich nicht leugnen, obwohl ich nicht daran gedacht habe. Aber die Lausbubengeschichten sind natürlich Klassiker in dem Genre. Wenn ich mich erinnern kann, spielt die Selbstwahrnehmung da nicht die große Rolle. Und da bin ich froh, wenn Du dem Text was Modernes attestierst. Schön finde ich die späte Beichte Deines Sohnes als Beispiel. Wenn Früher nicht besser war, was man sicher sagen kann, dann war es vielleicht sinnlicher, weniger verpackt, nicht virtuell, und um zu glotzen musste man an das Astloch. Und dann kommt eben, wie Du es für mich konsequent herausliest, die Reife, die Reifung ins Spiel. Dass er nicht mehr ohne weiteres Dinge sagen und tun kann, weil er jetzt dafür gerade stehen muss als halbwegs Erwachsener. Ob das die Religion motiviert, oder die Empfindungen für Rebecca, oder allgemein das Mitleid, das er fühlt, finde ich nicht so wesentlich. Dass er aber ein Gefühl dafür bekommt, was stimmt und was nicht, das kommt für Dich in dem letzten Satz zum Ausdruck. Besten Dank für Deine Zeit.
Herzliche Grüße
rieger


Hey Fliege,
ja, Wiederholungen können nerven. Dass Du sie in dem Text als Stilmittel empfindest, freut mich. Ich kann aber die Gegenposition von Nichtgeburtstagskind auch verstehen. Beim Kreisen um ein Sujet tritt man auf der Stelle und das empfinden manche als langatmig. Der Gedanke, dass man mit einer Jugendgeschichte eine breite Leserschaft anspricht, ist mir nicht gekommen. Aber Du weist darauf hin und das leuchtet ja ein. Jeder ging mal über den seltsamen Pfad. Wie Raindog unten schreibt, suggeriert diese Art der Jugenderfahrung was Altes, Vergangenes, das auch in den 30er Jahren spielen könnte. Zum Glück wird das aber wohl nicht so vordergründig wahrgenommen, soweit ich sehe. Besten Dank für Deinen Kommentar.
Schöne Grüße
rieger


Hallo maria.meerhaba,
die Absatzidee übernehme ich gerne. Was Du dazu schreibst, ist plausibel. Vielen Dank aber erst Mal für Deinen, wie immer, erfrischenden Kommentar. Du hast Dich durch die Länge am Anfang durchgebissen und schreibst so schön plastisch, dass Du Geduld haben musstest. Freut mich, dass es sich dann gelohnt hat, weiterzulesen. Was Du über Siegfried schreibst, berührt mich, weil ich das noch nicht so gesehen habe. An ihm arbeitet Martin tatsächlich seine Stimmungen ab, er ist ein Spiegel für Martins Verfassung und am Ende kann man vielleicht gar nicht unterscheiden, ob er Siegried übers Haar streicht, weil er ihn mag, oder weil er einen Ersatz für Rebeccas Haar sucht. Beides wahrscheinlich, weil Siegfried ihn rührt mit seiner Aussage und das Verliebtsein mitschwingt und ihn weichkocht. Ja, der Negerkönig, was mache ich damit? Das wurde schon von einigen angesprochen. Ich habe auch schon oben ein paar Gedanken dazu ausgeführt. Irgendwie war die Idee, zu zeigen, dass er durch die Blindheit sehen kann. Dass er aus der Erfahrung der Finsternis, wenn ich das mal so theatralisch sage, erkennt, spürt, dass man bestimmte Sachen nicht einfach so machen kann. Und Dein Zorn auf ihn, dass er ein Wichser ist, dem sämtliche wichtigen Körperteile abfallen sollen, macht ja auch deutlich, dass das übel ist, was er macht. Auch wenn es ein Jugendstreich ist und auch wenn es als Erfahrung zum Heranwachsen gehört, dass man auf mehr oder weniger verbotene Weise in die Mysterien der Sexualität eingeweiht wird. Am Schluss meinte ich dann, dass er das eben sagt und damit zum Ausdruck kommt, dass er nach dieser Erfahrung nicht mehr der Alte ist. Er kann jetzt mehr differenzieren, besser sehen, was passt und was nicht. Aber da das eben von mehreren angesprochen wurde, ist das wohl nicht so deutlich und irritiert am Ende gar, weil man darauf wartet und am Schluss kommt es so nebenbei. Das leuchtet mir schon ein. Ich werde es überlegen.
Liebe Grüße
rieger


Hallo@Raindog,
besten Dank für Deinen Kommentar. Die Wärmflasche hat mir selbst Spaß gemacht, muss ich sagen. Und Blindenschrift lesen zu können finde ich eine ungeheuere haptische Leistung. Wie sensibel müssen da die Tastsinne ausgebildet sein, bis man das kann. Mit Deiner Zeiteinschätzung hast Du wahrscheinlich gar nicht Unrecht. Hölzerne Badehäuser mit Astlöchern dürften Seltenheitswert haben. Mit Green Day hab ich dann das Zeitruder ein wenig rumgerissen. Sonst wäre es zu antiquarisch geworden. Und Du bist ja quasi auf der Zeitschiene aus den 30ern in die 60er und dann in die aktuelle Zeit gerutscht. Ja, der Song hat schon ein wenig auf dem Buckel. Geht wohl noch gerade als halbaktuelle Jugendkultur durch. Die Heiden von Kummerow kannte ich nicht, habe aber mit Interesse den Wikipedia-Artikel gelesen. Danke für den interessanten Hinweis. Ja klar, Kästner ist in dem Genre der unübertroffene Meister. Besten Dank für Deine Zeit!
Herzliche Grüße
rieger


Hallo Novak,
da sind die Bayern wieder mit ihren doppelten Verneinungen: Nichts Gewisses weiß man nicht. Habe ich übernommen. Danke für den Hinweis! Ich freue mich sehr über Deine Einschätzung und Deine Charakterisierung zwischen derb und fein. Genau so sehe ich die Stimmung, die ganz rangeht an die Sache und dann doch bei der persönlichen Betroffenheit zurückweicht. Ich habe Deine Geschichte vom letzten Jahr noch sehr gut in Erinnerung mit den Sprayern, wo es ja auch um den Gegensatz harte Schale – weicher Kern ging. Wahrscheinlich ein Grundmotiv jugendlicher Entwicklung. Besten Dank und herzliche Grüße
rieger

 

"Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag in der Hütte aufgedeckt.
Da nun Ham, ..., sah seines Vaters Blöße, sagte er's seinen beiden Brüdern draußen."
Moses 1, 9, 21 f.​

Auf seinem Bauch lag die Wärmflasche aus Gummi. Ottilie hatte sie ihm gebracht, obwohl ihm am Bauch nichts fehlte. Er fühlte die Noppen der Flasche, fuhr darüber und stellte sich vor, dass ein Blinder, der die Blindenschrift beherrschte, daraus wahrscheinlich eine Geschichte herauslesen könnte, oder vielleicht keine Geschichte, aber Wörter, Begriffe, irgendwas.

Negerkönig sagt man nicht

Recht hat er,

rieger -

aber wie nennt man heutzutage politisch korrekt das Zigeunerschnitzel oder gar das Wiener? Und dürfen Staaten Niger und Nigeria genannt werden? Der Vietcong durfte Cassius Clay ungestraft Nigger nennen. Er hat ihn ja auch nicht ins Gefängnis gepackt ...

Und meine vier tippenden Finger (gerade sind's nur drei - der vierte hat sich gerade totgelacht) zappeln nervös hin und her. Aber ich kann mich auch an Ähnliches erinnern und im Grunde bin zumindest ich nicht aus dem magischen Zeitalter heraus. Seit vier Jahren verlier ich jährlich einen Zahn (Fahrradsturz, Schweineknochen, steinhartes Brötchen und gerade jetzt in dieser heiligen Zeit hat mich eine Bratkartoffel umgehauen - aber so kann ich berechnen, wie alt ich werde ... oder auch nicht.)

Ja, seine Ohren. Die würden ihm bleiben, ...
warum die würde-Konstruktionen, frag ich mich zunächst, wenns Futur doch ebenso unbestimmt ist (selbst die Wirtschaftsweisen liegen mit ihrer Prognose i. d. R. falsch, zumindest nicht richtig). Und hier
..., mit denen er durch das Loch gestarrt hatte, stundenlang, und jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, würde der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen.
gleich gedoppelt !würde ... wahrscheinlich". Aber dann seh ichs im med. Fachausdruck
„Konjunktivitis“, drang es deutlich an sein Ohr, ...
der Tunika ((Tunica conjunctiva) bereits entkleidet und Scherz in der Jungentragödie des Alten Komödie.

Ja, eine geradezu biblische Strafe, der auch die Lüge folgt

„Man wird sehen. Ist Ihr Sohn allergisch, hatte er Herpes in letzter Zeit, oder war er in der Zugluft?“
„Martin war nicht in der Zugluft“, sagte Ottilie. „Martin, warst du in der Zugluft?“, rief sie in das Wohnzimmer.
„Nein“, antwortete er mit brüchiger Stimme.

Und allsogleich ist ein Komma nachzutragen
Jemand strich über seine Stirn. Es war Ottilie, die lautlos hereingekommen war[,] und er hatte sie nicht gehört, weil er nur an den Max dachte, den Idioten, der ihn verführte.
weil ein Relativsatz zu Ende und ein Satz Hauptsätze aneinander gebunden sind ...

Ja, so ist das Leben von Jugendlichen, voller Gefahr und Gefährdung, auf die man sich vorbereiten muss ...

Und er, er könnte sich verfluchen, weil er musste auch unbedingt das Auge wechseln, wenn ih[m] das eine brannte.
... passte, das konnte Martin genau beobachten, wie er keuchend die Hose herunterstreif[t]e und seinen behaarten Hintern dem Martin entgegenstreckte.

Wenn's hier einen Preis gäbe für Humor, ich wüsste, wer ihn bekäme.

Gern gelesen und nicht das letzte Mal

Friedel

 

Hallo rieger

Nie wieder würde er einen blinden Klavierspieler sehen können.

:)

Mein Urteil, grandios, hat sich nach erneuter Lektüre nicht geändert, auch wenn jetzt vielleicht noch ein paar kritische Überlegungen drin sind, in meinem Kommentar.

Mir gefällt der Text vor allem auch, weil er so etwas Schwärmerisches hat, sehr viel Wärme auch, was heisst, dass ich den Text wohl auch gut gefunden hätte, wenn all die lustigen Stellen fehlen würden. Der Humor, der insgesamt freundlich, der Figur wohlgesonnen ist, steigert den Genuss natürlich schon sehr. Aber hinter dem Humor verbergen sich Tragödien beinahe biblischen Ausmasses, Sünde und Strafe, das Augenlicht, die Blindheit, die nackte Susanna im Bade, pardon, Rebecca. Also, Sex und Gott und all die Dinge, die einen Jungen zutiefst verwirren können. Wichtig finde ich daher auch diese Bildungseinsprengsel, auch da muss man ja hineinwachsen, in die Kultur, über den ACI und den Polyphem, der zunächst mal eine Art Comicfigur ist, aber auch Bildungsgut, das angeeignet werden soll, so wollen es die Priester und die Lehrer. Ich finde es darum wichtig, dass der Text auch diese Länge hat, so dass es richtig brodeln kann im Jungen und drunter und drüber und wieder von vorne. Um mal auf einen Punkt zu kommen: Die Leichtigkeit, mit der du in die Tiefe tauchst, das hat mich schon sehr beeindruckt.

Du fragst nach dem Verhältnis von Würde und Humor und das ist eine heikle Sache. Wie gesagt, hatte ich kaum den Eindruck, dass du Lacher auf Kosten deiner Hauptfigur holen möchtest, auch wenn sich Martin an einigen Stellen nicht gerade mit Ruhm bekleckert in seinem Grübeln und Sorgen. Insgesamt hat das für mich gepasst. Interessanterweise hat mich dann der Name «Breitbesamer» gestört, den fand ich over the top, das fand ich schade für Martin, dass in seiner Geschichte jemand mit diesem Kalauernamen auftaucht, das nimmt in meinen Augen dem Text die Würde, auch wenn Martin sie behält. Ich würde da nochmal durchgehen, nicht nur an die Figur denken, auch an den Text als Geschöpf, dem Würde zukommen soll. (Mensch, was für ein esoterisches Gelaber, aber ich denke, du verstehst, was ich meine.)

Zur beinahe biblischen Sprache: Die «und» als Verbindungsglieder funktionieren für mich, die «und» an den Satzanfängen nicht immer, das ist mir zuweilen zu viel biblischer Pathos gewesen, auch – natürlich – in ironisch gebrochener Form. Und da sind ja auch noch die «da». Da hat es 25 Stück davon im Text, da würde ich auch noch mal nachschauen gehen.
An einer Stelle spricht Max wie der Erzähler, ich glaube, als er das erste Mal vom Loch erzählt, fängt er seine Sätze ebenfalls mit «Und» an, was ich nicht so passend fand.
Aber, um noch mal zurück zum Loben zu kommen, diese grundsätzliche Idee, das Auge in der Zugluft und all die Implikationen und Konsequenzen, die sich aus dem verbotenen Sehen ergeben, die ist einfach der Hammer.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo rieger
ich dachte immer, blind wird man vom Onanieren. Tja, so kann's kommen ...
Viel zu sagen hab ich nicht; die Geschichte ist grandios. Du findest ausgezeichnet die Balance zwischen Teenie-Klamauk und realistischem Jugenddrama. Vielleicht eine Spur zu klamaukig, aber das ist bei mir von der momentanen Stimmung abhängig.
Der Titel und der entsprechende Abschluss sind nach meinem Empfinden nicht optimal gewählt. Ich interpretiere das als ein Zeichen des Erwachsen-werdens des Protagonisten. Auf das Thema sehe ich in der Geschichte nicht den Fokus gerichtet.
Aber das ist jetzt nur herausgekramt, um wenigstens etwas zum Meckern zu haben.

Sehr schönes Ding. Danke für die Unterhaltung!

Gruß
(das halb blinde) Kellerkind

 

Hallo Rieger!

Du hast ja einiges an Lob bekommen und in den Kommentaren stand was von Humor; dann auch noch der Titel, deine Geschichte musste ich also lesen.
Also, ich trau mich gar nicht es zu schreiben, aber ich hab den Text ab der Hälfte nur mehr überflogen. Zuviel Wiederholungen machen den Text für mich langatmig. Ja, es ist schon lustig, wie der Ärmste mit der Augenklappe auf der Couch sitzt und glaubt er müsse erblinden. Das glaub ich an so manchen FKK Strand übrigens auch ;) Auch die Stelle mit der Wärmflasche ist genial; Ja, ja die Mütter.
Aber sonst,... naja, da meine Meinung ja nicht viele teilen, kannst du meine Kritik getrost abhaken.

Liebe Grüße Sabine

 

Hallo Friedrichard,
krass, wie Noah mit Ham umgeht und seinen Sohn verflucht, weil er ihn nackt gesehen hat. Da sind mir die heutigen Zeiten schon lieber. Aber schön zeigt das Zitat, wie die Empfindung der Scham verankert ist und wenn man an das Foto der Kommune 1 denkt, wird klar, was für eine revolutionäre Sprengkraft Nacktheit haben kann. In der Geschichte ist das natürlich anders herum. Die Badegäste verstecken sich ja züchtig in der Kabine und werden unfreiwillige Objekte der Begierde oder der Belustigung. Vielen Dank für Deine Zeit, alles Gute mit den Zähnen und hoffentlich hat sich der vierte Finger wieder eingekriegt.
Beste Grüße
rieger

Hallo Peeperkorn,
Deine Beurteilung freut mich sehr. Auch, dass Du Komik und Tiefe ausgewogen findest in dem Text. Tatsächlich habe ich mit dem Breitbesamer lange gehadert, bin aber dann doch der Versuchung erlegen, das rauszuhauen und in Deinen Augen ist es ein Kalauer auf Kosten der Würde, der über die Hutschnur geht. Da kann ich Dir nur Recht geben. Ich war regelrecht geschockt, als ich die Namen der Figuren aus Sloterdijks letzten Roman „Das Schellingprojekt“ las: Guido Mösenlechzner, Beatrice von Freygel, Desiree zur Lippe. Wie die Namen erahnen lassen, geht es da in erster Linie um Sexualität und ich fand die Namenswahl so plump und abgeschmackt, dass ich dachte, das kann der doch nicht machen. Das klingt durchaus nach ranzigem Altherrenwitz. Dennoch, ich winde mich, hat mich der Name gefreut und ich weiß nicht, was ich mache.
Was ich aber sicher tu, ist, die Dadaistik im Text nochmal zu kontrollieren. Da-da-da, da kann man sicher etliche einsparen und ich danke Dir sehr für die Statistik, die vor Augen führt, das das doch ein wenig zu viel des Guten ist. Mit den „unds“ ebenso. Auch die Erzählperspektive, die Du ansprichst ist noch zu ändern. Stimmt.
Wie Du die Umsetzung findest in Bezug auf das Challenge-Thema, ist natürlich ein Labsal, auch, dass Du die Länge als notwendig empfindest. Ich hatte am Anfang meine Zweifel, weil es doch lange dauert, bis mal ein konsistentes Bild entsteht, wenn der, entschuldige, „Breitbesamer“ in die Kabine kommt. Vorher ist das ja vielleicht verwirrend, lebt aus den Fragmenten, die sich allmählich zu einer Szene verdichten. Das wird ja auch anders gesehen, wie Sabine P unten schreibt, oder andere vorher. Da ist das wahrscheinlich wieder eine Geschmacksfrage, wie immer.
Sehr herzlich
rieger


Hey Bea Milena,
was hast Du getan???? Das finde ich schon einen harten Test, mein lieber Schwan, und davor habe ich echt Respekt, weil Du da ja nochmal, nach Deiner ersten Besprechung, an den Text rangehst und ihn einer externen Supervision unterwirfst. Ich hoffe jetzt, der Supervisor hat keine bleibenden Schäden davongetragen und ist nicht von der Obszönität traumatisiert. Toll finde ich, dass Du damit etwas ganz Fundamentales in diesem Bereich ansprichst: Es ist ein großer Unterschied, ob ich „Brüste“ stumm, oder laut lese, ob ich über das Wort „Schwanz“ in dem Kontext lache, über „wichsen“, oder es laut sage und es durch das Sagen in der Welt ist, es eine Assoziation beim Hörer anstößt, die sonst in der Intimität meiner Gedanken, im hermetischen Raum meiner Vorstellung bleibt. Dass Dein Sohn das als vulgär wahrnimmt, dass es also die Grenze zum Anstand überschreitet, ist mir klar.
Deine zweite Überlegung finde ich ebenso spannend: Kann man die Perspektive eines Kindes so treffen, mit dem entsprechenden Vokabular, dass man es wirklich trifft, ohne, wie Du es so schön charakterisierst, die „Lakonie des reifen Mannes“ durchblicken zu lassen. Dann müsste man auch überlegen, wie Tom Sawyer, Kästners Figuren und andere klingen würden, klingen müssten, dass man sie wirklich als Kinder, als Jugendliche wahrnehmen würde. Lebt aber dieses Genre nicht auch davon, dass ein Spannungsverhältnis zwischen dem unsicher Erlebenden und dem soliden Schreiber besteht, was irgendwie auch ein Pakt ist, ein Vertrag. Dadurch kann es dann eine allgemeine Form bekommen, die dann erst eine allgemein interessante Erzählung wird, weil sie über das Medium der geformten Sprache aus dem Einzelmoment heraustritt, der bleiben würde, wenn man eine Schülererlebniserzählung daraus macht. Ist die Spannung nicht dadurch gegeben, dass der reife Blick mit dem Unschuldigen, Naiven kollidiert? Keine Ahnung. Ich schreibe das grad so hin, weil ich das, wie gesagt, sehr spannend finde, Deine Ansicht, aber dafür jetzt auch keine plausible Erklärung habe.
Ergänzungen, Überarbeitungen, das möchte ich gebündelt machen. Es sind so gute und treffende Vorschläge, die ich überdenken muss. Besten Dank aber für Deine Mühe und herzliche Grüße!
rieger


Hallo Kellerkind,
freut mich sehr, Deine Einschätzung. Zum Titel wurde schon einiges gesagt und das kann ich nicht von der Hand weisen. Das ist eine weite Strecke vom Text weg, auch, wenn es für mich selbst sehr viel Sinn macht und ich darin einen wichtigen Kern der Entwicklung des Textes sehe.
Danke für die Lesezeit! Ich glaube, die medizinische These ist längst widerlegt. Keine Gefahr!
Herzlich
rieger


Hallo Sabine P,
ungern hake ich Deine Kritik ab, weil ich sie wichtig finde. Zeigt sie mir doch, dass es einfach Lesarten gibt und das geht mir nicht anders. Warum einem manches gefällt und manches nicht, das ist ja eine wirklich schwierige Sache. Lässt sich über Geschmack streiten? Da gibt es doch kein so oder so. Ja, es gibt Handwerkliches, was man objektiv bemängeln kann. Aber darüber hinaus? Ja, der Text hat haufenweise Wiederholungen und ist durchsetzt von da und und. Das ist zu viel, da werde ich etliche rausoperieren. Die Wiederholungen gehören allerdings zum Konzept des Textes, der die verworrene Gedankenflut des Martin vorführen soll, wie er immer wieder gebetsmühlenartig auf die Motive „Gang“, „Max“, „Abriss“ und „Augen“ zurückkommt. Wie es einem halt geht, wenn man etwas befürchtet und das hundertmal im Kopf durch geht, wie es anders gewesen wäre, wie man es hätte verhindern können. Auch wenn es gar nichts hilft. Aber man überlegt und zerbricht sich den Kopf. So war das gedacht. Maria meerhaba hat geschrieben, sie musste Geduld haben. Und das ist wohl schon so. Für Dich war es dann zu viel. Und das nehme ich gerne an als eine Variante, wie man dem Text begegnen kann.
Herzliche Grüße
rieger

 

Dass man vom Sehen verbotener Dinge blind wird oder gar zur Salzsäule (Lots Frau) bzw. Stein (bei Medusa) erstarrt, das kennt unsere Kultur seit tausenden von Jahren. Auch in deiner Geschichte, rieger, ist dieses Motiv tragend, allerdings sind die Konsequenzen daraus für deinen Helden nicht so desaströs. Aber aufgrund seiner Jugend kann er seine Tat nicht richtig einordnen – also befürchtet er trotzdem das Schlimmste. Hier sieht man sehr schön, was schwarze Pädagogik, die ja mit Angst arbeitet, anrichten kann.

Obwohl wir denken, wir seien frei, ist unser Leben dennoch mit unzähligen Geboten und Verboten umstellt, die zu übertreten sich kaum jemand traut. Eines dieser Geboten ist: Sich nicht nackt in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Das ist kein offizielles Verbot – man kann, wenn man will, nackt durch die Stadt spazieren –, dennoch tut das niemand, und falls doch, wird er alsbald wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bestraft. Wir werden zwar nackt geboren, aber so herumzulaufen wie wir geboren wurden, wird als ein öffentliches Ärgernis betrachtet: Dafür reicht es, wenn jemand sich durch die simple Nacktheit, d.h. ohne einer sexuellen Handlung, eines anderen gestört fühlt.

Also müssen Umkleidekabinen her – und mit ihnen kommen Voyeure ins Spiel. Warum? Weil man in dieser Gesellschaft jedem, der einen Blick auf einen nackten menschlichen Körper werfen will, grundsätzlich sexuelle Motive unterstellt. Bei Pubertierenden, wie in dieser Geschichte, wird dieses Interesse am Sexuellen noch als verständliche, also lässliche Sünde betrachtet. Zum Glück, muss man sagen, denn so sind wir in der Lage darüber zu lächeln – obwohl es sicher manchen gibt, der auch das als Schweinerei bezeichnet. Es gibt halt verschiedene Grade der Prüderie, siehe z.B. die gerade in den Medien laufende Diskussion um das Balthus Bild „Therese träumt“: Jetzt werden schon vollständig angezogene Mädchen als grenzwertig bezeichnet, wenn deren Slip zu sehen ist.

Was ist eigentlich sagen wollte: Diese Geschichte ist natürlich fiktiv, aber sie bildet die gedachte Realität so gut ab, dass man dem inneren Monolog des Protagonisten jedes Wort glaubt. Das schwierige Thema leicht erscheinen zu lassen, wie du, rieger, es hier geschafft hast, das zeigt vom großen Können. Allein wie sich dieser Martin in immer neue Wahnvorstellungen steigert, sich z.B. schon als Blinder mit Stock und Hund sparzieren oder gar auf dem Mount Everest wähnt, das ist große Klasse.

Gegen Ende bekommt die Geschichte leider einen moralischen touch. Ich meine hier Martins politisch korrekte Haltung in Bezug zu Rebecca und zu dem titelgebenden Negerkönig. Das hätte es nicht gebraucht, wenn gleich ich zugeben muss, dass du damit einen Nerv der heutigen Zeit getroffen hast: Es wird wieder mehr auf das Formelle Wert gelegt. Damit sind nicht nur Umgangs-, sondern überhaupt Formen gemeint.

Dies ist auch der Grund, dass die FKK-Bewegung schon seit der 1990er Jahren im Schwinden begriffen ist: Im Gegensatz zu 1970er und 1980er Jahren gehört sich jetzt nicht mehr, nackt in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Wo früher jeden Tag Hunderte im Englischen Garten in München der Nacktheit frönten und sich auch an den gaffenden Touristen nicht störten, so verlieren sich heute dort ein paar alte Nackte, die nicht einsehen wollen, dass sich die Zeiten geändert haben: Bald sind wir wieder in den 1950er Jahren.

In diesem Sinn ist diese Geschichte zeitlos, möge sie dem einen oder anderem auch als eine aus früheren Zeiten erscheinen; diese Zeiten sind gerade wieder im Kommen.

 
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Hallo Rieger,

bei dieser Geschichte gerate ich ein wenig in Konflikt zwischen halbwegs objektiver Textkritik und persönlichem Geschmack. Bea hat ja etwas von Klamauk geschrieben, und an diesen Punkt werde ich gleich anknüpfen.

Doch zunächst einmal das Handwerkliche. Ich finde das Ganze sauber und originell geschrieben. Ich kann die begeisterten Kommentare verstehen, denn vom Textfluss her und auch von der Beherrschung des sprachlichen Ausdrucks ist das sehr gut gelungen. Ich denke, das Ganze klingt so, wie Du es Dir wünschst oder es ist zumindest nah dran. Daran erkennt man einen geübten Erzähler, denke ich. Zu kleineren Schwächen wurde das eine oder andere geschrieben, aber ich glaube, jeder Leser sieht, dass das gut strukturiert und gekonnt in Szene gesetzt wurde.

Doch auch wenn eine Erzählform in sich schlüssig und kohärent ist, kann man sich als Kritiker oder Rezensent natürlich daran abarbeiten, ob diese Form insgesamt etwas darstellt, das man in Texten gern sehen möchte.

Ich sage es frei heraus, ich habe ein Problem mit drolligen Texten. Schon wenn ich in einem Kommentar das Wort „schmunzeln“ lese, wird mir schlecht. Damit meine ich nicht, dass ich ein Problem mit Humor in Texten habe. Ich fand beispielsweise Joses Dämonen sehr gut, allerdings ist das eben ein scharfer, bissiger Humor.

In Deiner Geschichte haben wir es primär mit Trotteln zu tun. Das meine ich nicht böse, aber nicht einer der Protagonisten ist intellektuell auf der Höhe. Klar kann man das von Kindern oder Heranwachsenden auch nicht erwarten, aber auch die Erwachsenen (der Pastor, der Bademeister usw.) sind keine Leuchten.

Ich lese grundsätzlich lieber Geschichten, die mich herausfordern, wo das Verhalten der Protagonisten mir Rätsel aufgibt, mich zum Nachdenken bringt, wo die Story komplex und verwickelt ist, wo ich Menschen kennenlerne, die etwas, das ich zu wissen glaube, in Frage stellen. Das ist in Deiner Geschichte nicht der Fall, denn ich erlebe hier einen sehr braven Konflikt, dem für mein Empfinden die tiefere Dimension fehlt. Oder habe ich etwas übersehen?

Schreibanfängern empfehle ich ja gern, sich an überschaubaren Szenarien zu üben. Aber Du bist ja kein Anfänger. Insofern dürfte es für mein Empfinden durchaus ein wenig bedrohlicher, herausfordernder oder tiefschürfender zugehen. Natürlich ist eine Erblindung (wäre sie denn eine realistische Bedrohung) keine triviale Angelegenheit, aber die Art wie die Beteiligten darüber nachdenken ist es.

Um noch einmal auf Beas Klamauk-Begriff zurückzukommen - da spannen zwei Pubertierende vor einem Loch in der Wand der Badeanstalt. Wirklich? In einer Zeit, in der Dreizehnjährige einen Mouseclick weit von Porn Tube entfernt leben und auf dem Schulhof die neuesten Hardcore-Videos tauschen? Das Ganze wirkt ziemlich anachronistisch auf mich. Ich kann verstehen, wenn man sich in die urige Gemütlichkeit einer Zeit der Feuerzangenbowle zurücksehnt. Aber für mich ist das eine Verdrängungs- und Rücktrittsbewegung. Wir leben nicht mehr in einer Welt in der Bindehautentzündungen wegen Gucklochspannereien das Problem von Jugendlichen sind. Oder sehe ich das zu schwarz?

Gruß Achillus

 

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