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Negerkönig sagt man nicht
Er sah ja nichts mit den Augenklappen, lag den ganzen Tag auf der Couch und konnte nur hören, was um ihn herum passierte. Ja, seine Ohren. Die würden ihm bleiben, dachte er, die müsste er jetzt trainieren, um einen neuen Sinn auszubilden, weil die Augen, die konnte er vergessen. Der Doktor hatte einen Tonfall in der Stimme, das merkte er genau, dass er ernst war, sehr ernst, so ernst, dass es dem Martin ganz schwarz vor den Augen würde, aber sie blickten ohnehin ins Schwarze, auf zwei schwarze Deckel, die ihm der Arzt aufgelegt hatte.
„Frau Kieland, bitte kommen Sie mit heraus“, hörte er den Doktor sagen und da spitzte er seine Ohren, und das leise Flüstern drang zu ihm, als wenn sie neben ihm sprechen würden, weil nichts ihn ablenkte, nicht die dummen Augen, mit denen er durch das Loch gestarrt hatte, stundenlang, und jetzt lag er da, kurz vor der Erblindung, würde der Arzt wahrscheinlich gleich seiner Mutter sagen.
„Konjunktivitis“, drang es deutlich an sein Ohr, „Bindehautentzündung in einer schwereren Form. Wahrscheinlich eine bakterielle Infektion durch einen verschleppten Keim. Auch eine mechanische Reizung der Bindehaut wäre denkbar. Aber die verläuft nicht so gravierend. Möglicherweise hat sich ein Bakterium eingenistet in das gereizte Gewebe. Ich habe einen Abstrich gemacht. Der kommt ins Labor, dann sehen wir weiter. “
„Wird er?“, fragte Ottilie, seine Mutter, und ihre Stimme stockte.
„Man wird sehen. Ist Ihr Sohn allergisch, hatte er Herpes in letzter Zeit, oder war er in der Zugluft?“
„Martin war nicht in der Zugluft“, sagte Ottilie. „Martin, warst du in der Zugluft?“, rief sie in das Wohnzimmer.
„Nein“, antwortete er mit brüchiger Stimme. Und dabei war er natürlich in der Zugluft gestanden, oder besser gesagt, seine Augen standen in der Zugluft und alles wegen der Titten. Alles wegen ein wenig Fleisch in dem gottverdammten Gang, den man sowieso abreißen würde, weil das neue Freibad daneben schon fast fertig war. Und nun hatte ihn der Gang zum Abschied blind gemacht, bevor er zertrümmert wird. Blind sein, wie schlimm wäre das? Mit einem Hund könnte er sich anfreunden, der ihn über die Straße führt, ein langer Stock lag hinter dem Haus. Mit ihm würde er wie mit einer Sense vor sich herumfahren und die Leute im Umkreis von zwei Metern verscheuchen, die ihn mitleidig anglotzten. „Glotzt nicht so dumm“, würde er sie anbrüllen. Aber wie sollte er wissen, dass sie dumm schauten? Er könnte es ja nicht sehen. Und alles wegen der paar Titten und Max meinte, es sei so geil in dem Gang und durch die Löcher könnte man wunderbar die Badenden sehen, wie sie sich ausziehen und anziehen und bei den Mädchen wäre es besonders interessant. Und jetzt sollte er mit seinem Augenlicht dafür bezahlen, dass er geguckt hatte, stundenlang. Max an einem Loch, und er an dem anderen.
Jemand strich über seine Stirn. Es war Ottilie, die lautlos hereingekommen war, und er hatte sie nicht gehört, weil er nur an den Max dachte, den Idioten, der ihn verführte.
„Wie geht es dir?“, fragte ihn Ottilie ganz sanft und strich ihm über die Wange. Er hielt ihre Hand fest und fragte: „Mama, werde ich blind?“
Und dass sie eine Weile mit der Antwort wartete, war für ihn eine Antwort, und er deutete es als schlimmes Zeichen und drückte ihre Hand ganz fest auf sein Gesicht, dass es in den Augen noch mehr wehtat.
„Es wird wieder gut“, brachte sie dann heraus und er merkte, wie ihre Stimme zitterte und wie sie leise schluchzte. Er hörte, wie sie dagegen ankämpfte, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren, um nicht sagen zu müssen: „Wir werden sehen, Martin, möglicherweise verlierst du dein Augenlicht.“ Aber sie strengte sich an und sagte es nicht und dass sie das tat, berührte ihn noch mehr und er spürte, wie sich seine mit Eiter und Schleim überzogenen Augen mit Tränen füllten, dass es höllisch brannte. Dann träufelten sie unter den Augenklappen hervor.
„Versuche, zu schlafen“, sagte sie ganz sanft und ihre Stimme klang wieder fester und tröstlicher als vorher.
„Ja, ich versuche es“, sagte Martin und dachte an die letzte Nacht, in der er kein Auge zugetan hatte, obwohl beide zu waren, obwohl er nichts als Schwarz sah, aber an nichts anderes denken konnte, als an den Gang im Freibad, der für sie verboten war.
„Da ist ein Gang hinter den Kabinen im Badehaus. Und da sind Astlöcher. Und da wirst du staunen“, hatte Max ihn angelockt. Martin folgte ihm und er könnte sich verfluchen dafür, dass er ihm gefolgt war. Weil er jetzt eben die Strafe dafür bezahlte, dass er den ganzen Tag nackte Leute durch das Loch angestarrt hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, bis die Bindehaut ausgetrocknet war, dass sie juckte und brannte. Mit einem Hund würde er leben können und mit einem Stock auch. Und die Ohren würde er spitzen, wie ein Verrückter. Es gab blinde Klavierspieler, das hatte er schon gesehen. Sehen! Nie wieder würde er einen blinden Klavierspieler sehen können. Aber es gab sie und sie spielten unglaublich gut. Und es gab Blinde, die auf den Mount Everest gestiegen sind. Das könnte er auch. Das traute er sich zu. Aber Lesen. Wie sollte er jemals Blindenschrift lernen können?
„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Da lernst du Blindenschrift, dann kannst du alles lesen. Da gibt es Bücher, die sind alle in Blindenschrift geschrieben.“
Der Trottel, dachte er. Einmal, im Aufzug im Krankenhaus, als sie Oma besuchten, hatte er neben den Knöpfen mit der Stockwerksangabe die Blindenschrift befühlt. Er spürte nichts als ein paar Erhebungen, die unregelmäßig angeordnet waren. Wie sollte er das jemals lernen? Auf seinem Bauch lag die Wärmflasche aus Gummi. Ottilie hatte sie ihm gebracht, obwohl ihm am Bauch nichts fehlte. Er fühlte die Noppen der Flasche, fuhr darüber und stellte sich vor, dass ein Blinder, der die Blindenschrift beherrschte, daraus wahrscheinlich eine Geschichte herauslesen könnte, oder vielleicht keine Geschichte, aber Wörter, Begriffe, irgendwas. Aber er konnte nichts daraus lesen. Für ihn waren es nur stumme Noppen auf einer Wärmflasche. Niemals würde er das lernen, niemals würde er Geschichten lesen können aus Noppen, die sich kaum vom Grund abhoben.
Dieser verfluchte Gang, der Gang hinter den Kabinen, der dem Untergang geweiht war. Er war verbotene Zone. Nur über das Wachzimmer des Bademeisters konnte man ihn betreten. Aber entweder war der Bademeister, so wusste Max, selbst damit beschäftigt, durch die Löcher in die Kabinen zu glotzen, oder er stand breitbeinig mit seiner roten Badehose vor dem Badehaus und unterhielt sich den ganzen Nachmittag mit blonden Frauen und streckte ihnen seine Hüften entgegen, die sich im Schritt dabei ausbeulten. „Keule“ nannte ihn Max, obwohl er Helmut hieß, und das war auch der Alarmruf, falls er kommen sollte.
„Ich rufe: ‚Keule kommt‘, sobald er sich nähert. Dann schnell den Gang entlang und durch das Fenster da hinten, siehst du? Eine sichere Geschichte. Wir werden unseren Spaß haben“, sagte Max. Aber Keule kam nicht, weil er vor seinem Wachzimmer stand und Frauen anmachte und sie hatten den ganzen Nachmittag Zeit. Hätte er nur nicht auf Max gehört, auf diesen Deppen, der meinte, er wüsste, wie man das macht. Aber er hatte auch Glück. Seine Augen waren in Ordnung am Ende des Tages. Der Wind ging ganz sanft und wenn man die Hand an das Loch hielt, spürte man nur leicht, wie er sich durch die kleine Öffnung hindurchzwängte, fühlte man einen leichten Druck auf der Haut. Dem Max machte es nichts aus. Aber für ihn, für den Martin, da reichte das bisschen Zugluft, dass es für seine Augen war, wie in einem Windkanal. Und er, er könnte sich verfluchen. Er musste ja unbedingt das Auge wechseln, wenn ihm das eine brannte. Da nahm er das andere und wechselte hin und her. Mit einem Auge, da hätte er noch sehen können. In das andere hätte er sich ein Glasauge gestopft, wobei ihn nur die Vorstellung ekelte, in die Augenhöhle zu fassen und ganz hinten kam ja schon sein Hirn. Aber immerhin hätte er ein Auge gehabt und Polyphem, das hatten sie zuletzt in Latein übersetzt, der einäugige Riese, machte auch dem Odysseus das Leben schwer, obwohl er nur ein Auge besaß. Und das stach ihm Odysseus aus mit dem Holzpflock. Aber ihm könnte man nicht einmal mehr ein Auge ausstechen mit einem Holzpflock, weil er gar keines mehr hätte.
Dabei war es ja am Anfang so lustig, wie der dicke Herr Breitsamer in die Kabine kam, der, wie Max immer sagte, eine Wampe hat, dass er sich nach hinten lehnen muss, um nicht umzufallen. Wie er gerade noch in die Kabine passte, das konnte Martin genau beobachten, wie er keuchend die Hose herunterstreifte und seinen behaarten Hintern dem Martin entgegenstreckte. Da winkte er den Max her, und der sah auch den Hintern vom Breitsamer als riesige Scheibe in der Umkleidekabine und sie hielten sich die Nasen zu, weil sie fast geplatzt wären vor Lachen, wie der Breitsamer auch noch anfing zu grunzen, wie ein Vieh, als er sich in seine enge Badehose zwängte und sich zwischen den Beinen rieb. Sie schlichen dann den Gang hinaus durch das Wachzimmer und atmeten nicht, weil sie sonst schon drinnen lauthals gelacht hätten, und dann hätte jeder gemerkt, was sie dort trieben. Also schlichen sie hinaus und durch das Wachzimmer von Bademeister Keule und als sie draußen waren, hielten sie es nicht mehr aus und juchzten in hohen Tönen, dass die Badegäste ringsherum auf sie schauten und sich wunderten. Da kam der Breitsamer aus der Umkleide und ging mit finsterem Gesicht an ihnen vorbei, und sie mussten nur auf seine Badehose schauen und prusteten, bis sie keine Luft mehr bekamen.
Das hatte ja der alte Pastor Helfrich schon im Konfirmationsunterricht gesagt, dass man sich nicht lustig machen soll über das Gebrechen anderer Leute, und das hatten er und Max ja weidlich getan, hatten ihn ausgelacht, den Breitsamer mit seiner knackengen Hose, über die ihm der Bauch hing, wie ein nasser Sandsack. Martin musste in seinem Leid kurz auflachen, wenn er an seinen finsteren Blick dachte und daran, wie er sich zwischen den Beinen rieb. Hatte ihm das also Gott nicht verziehen? Hatte er ihn gestraft, dachte Martin, weil er sich lustig gemacht hatte über einen Fetten, der kaum in die Kabine passte?
„Gott droht zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht gegen seine Gebote handeln“, sagte der alte Pastor Helfrich und schaute sie streng an. Den kleinen Katechismus, den hatte er ja gelernt für die Konfirmation, obwohl ihm der Gott ziemlich egal war. Er freute sich auf Geld und auf Geschenke. Und jetzt hatte er den Dreck, die Strafe in seinen Augen. Und alles wegen dem alten Holzschuppen von Badehaus, das sowieso demnächst abgerissen wird und ihm als letzte Hinterlassenschaft die Blindheit vermachte. Tanzen würde er um den Holzhaufen, ein Streichholz anzünden und Benzin in die Flammen schütten, dass es hoch in den Himmel lodert, weil es ihm Recht geschehe, dass es restlos zertrümmert wird, ausgelöscht, jede Spur getilgt. Aber Martins Spur würde nicht getilgt, er würde immer an das Badehaus denken müssen und an das, was ihm der läppische Gegenwind angetan hat.
„Wenn du blind wirst, das ist kein Problem“, sagte der Siegfried, sein Bruder. „Im Fernsehen wird jetzt ganz viel mit Gebärdensprache übersetzt für die Behinderten.“ Und der Martin schrie ihn an, was er für ein Blödmann sei, weil ein Blinder die Gebärdensprache nicht sehen könnte. Die sei für die Gehörlosen, das kapiere doch jeder Depp.
Vielleicht aber, dachte Martin, war es auch die Strafe wegen der Frau Pelletier, der Französin, die seit langem in der Nachbarschaft wohnte und rief: „Wo ist denn der liebö Martä“, wenn er ihr helfen sollte. Er ging ja gerne zu ihr und riss das Unkraut in ihrem Garten aus, sammelte heruntergefallene Äpfel und mähte den Rasen, weil ihm ganz schummrig wurde, wenn sie ihn ansah mit den langen Wimpern und den tiefblauen Augen, und ihm das Herz in die Hose rutschte, wenn sie ihm über das Haar strich und hauchte: „Die bist eine so Liebör. Ich wünschte mir eine Sonn, wie du.“
„Pelletier, ach komm zu mir“, dichtete Max immer und es half nichts, dass ihn der Martin berichtigte, dass man es französisch ausspricht: „Pelletje.“ Aber dann dachte es Martin selbst, als er sie durch das Loch sah, „Pelletier, ach komm zu mir“, und sein Mund wurde ganz trocken und er bekam ihn gar nicht mehr zu, als sie aus dem luftigen Sommerkleid stieg, das sie sich nur von den Schultern zu streifen brauchte und schon stand sie fast nackt in der Kabine, nur ein kleiner Schwupps, und sie hatte nichts mehr an. Nur den schwarzen Büstenhalter sah er von hinten, den Verschluss, und am liebsten wäre er mit den Fingern durch das Loch geschlüpft und hätte die Haken geöffnet, aber die Pelletier machte das mit ihren anmutigen Händen und streifte den Halter über ihre Brüste. Und dann stand sie seitlich und er sah ihre Brüste im Profil, die zu den Brustwarzen hin anstiegen, wie zwei Skisprungschanzen. Da tauchte die Pelletier ihre Hand in einen Topf. Die Finger waren ganz weiß mit einer Schmiere bedeckt, die sie auf dem ganzen Körper verteilte, und ein Duft drang in Martins Nase, ein Duft aus Mandarinen und gebrannten Mandeln, und er ließ sein Auge offen, obwohl es unbedingt blinzeln wollte, aber er konnte keinen Augenblick verpassen, als sie mit ihren Händen zuerst ihre Beine eincremte bis oben hin, dann den Bauch und dann um ihre Brüste fuhr und die Masse mit schmatzenden Geräuschen in ihre Haut knetete. Er drückte seine Hüfte an die Wand, wetzte daran hin und her und steckte eine Hand in die Hose. Da pfiff Max, der von seinem Loch gerade aufsah, leise herüber und zischte: „He, wichst du?“ Und da erschrak Martin, zuckte zurück und schnellte wieder nach vorne, dass sein Kopf an die Wand knallte. Gleich ging er in die Hocke unter dem Loch und fühlte genau, wie das Auge der Pelletier darin erschien und unruhig hin- und herwanderte. „Ist da wör?“, rief sie und über sich spürte er, wie ein Strahl suchend den Korridor ausleuchtete, wie das Auge vom Polyphem, bevor es der Odysseus ausstach, aber er war darunter und sie konnte ihn nicht sehen.
Ein gnädiger Gott, das hatte der alte Helfrich gesagt, ein gnädiger Gott, danach hätte der Luther gesucht. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, rief er immer. Dazu machte er große Augen und seine buschigen Augenbrauen richteten sich auf wie schwarze Pinsel. „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Das wäre Luthers Frage gewesen. Dann soll doch, so dachte Martin, der verdammte Gott mit ihm auch gnädig sein, an ihm seine Gnade erweisen und ihn, trotz der Sünden, von der Blindheit verschonen. Nie wieder wollte er, so schwor er, an Brüste denken, nie wieder sich anfassen, nie wieder unkeusch denken, wie es im Katechismus stand. Aber je mehr er versuchte, die Brüste der Pelletier zur Seite zu schieben, desto stärker kamen sie zurück und türmten sich vor ihm doppelt, dreifach, hundertfach zu einem Gebirge aus Brüsten auf, und er fuhr mit den Skiern über die Brustberge hinunter und sprang über die Brustwarze in die Tiefe, die ihn in einer trostlosen Dunkelheit verschlang. Nein, er könnte nicht keusch leben, das würde er nicht schaffen, er würde die Brüste nicht aus seinem Schädel bekommen, immer mehr würden sie zurückkommen, über ihn herfallen und ihn unter sich begraben, dass er nichts mehr sähe, nur noch Schwarz, aber das würde er sowieso. Und seine Hände, die er vorher artig neben die Schenkel gelegt hatte, fuhren wieder in der Körpermitte zusammen und verzweifelt zerrte er an seinem Schwanz, der sich nicht ausreißen ließ und stattdessen anschwoll zu einem beträchtlichen Stamm, der Keule alle Ehre gemacht hätte. Und so lag er da, der Martin, und umklammerte seine aufgepflanzte Stange und schluchzte laut auf vor Mitleid mit seinen Augen, seiner Mutter, seinem Schwanz und sich selbst.
Dann war es Abend und die Sonne stand schon tief. Viele Kabinentüren waren offen, und das Licht drang herein und warf durch die Astlöcher gebündelte Strahlen in den Gang. Martin sah den beleuchteten Staubflocken zu, die darin herumflogen. Er saß auf dem Boden und Max neben ihm, und er blinzelte in die Lichtstäbe, die ihm vorkamen wie aus einer anderen Welt, als hätte jemand Löcher in den Himmel gestoßen, und aus einer fremden Galaxie würde eine fremde Sonne in ihre Gangwelt scheinen. Das Kreischen der spielenden Kinder draußen war leiser geworden, das Raunen der Gespräche und das Wasserplantschen verebbte. Das Bad leerte sich. Da quietschte noch einmal die Tür, und Martin stand noch einmal auf und sah durch sein Guckloch den roten Haarschopf von Rebecca.
Er wendete sich erschreckt zur Seite. Sie hatte ihn am Vormittag noch gefragt, ob er ihr bei der Übersetzung vom Odysseus helfen könnte, weil sie immer mit dem Perfekt Schwierigkeiten hätte und mit dem AcI. Und er bekam einen roten Kopf und sagte: „Klar helfe ich dir, ist nicht so schwierig“, und schaute ihr nach, wie sie mit den langen roten Haaren vor der Schule nach links ging und er nach rechts. Und der Max sagte immer: „Was willst du mit der. Die hat ja Feuer auf dem Kopf.“ Aber das war Martin egal, oder gerade wegen dem Feuer wurde er immer feuerrot, wenn er sie sah und sie sich ihm näherte. Und plötzlich stand sie kurz vor Badeschluss in der Kabine und die Augen vom Martin waren schon gereizt, und er rieb sich immer wieder über das Gesicht und fuhr mit dem Finger in das eine Lid und dann in das andere, weil er meinte, es sei ein Staubkorn drin, oder eine Holzfaser. Und dabei waren die Augen so blutunterlaufen, dass der Max sagte: „Mensch, deine Augen sind ja blutrot.“ So rot wurde Martins Kopf, als Rebecca kam und er sich abwendete, aber dann doch wieder schaute, als sie ihren Bikini auszog. Aber auf einmal schämte er sich und drehte sich weg. Nein, auf keinen Fall wollte er die Rebecca nackt sehen. Nur von hinten wollte er sie anschauen, wie ihr die leuchtenden Haare über den Rücken fielen, oder ihr Gesicht, ihre blasse, schimmernde Haut, von der sich ihr Mund rot geschwungen absetzte. Davon hätte er nicht genug bekommen. Aber sie durch das Loch anstarren, das konnte er nicht und er spürte, wie ihm das Herz im Hals pochte und er war nur froh, durch die Wand Rebecca nahe zu sein und er legte die Hände auf das Holz und streichelte es. Dann hörte er, wie sie drinnen ihr Haar kämmte und leise das Lied sang, das sie am Vormittag in der Musikstunde gesungen hatten: „When I find myself in times of trouble mother Mary comes to me.
Speaking words of wisdom: Let it be.“ Und er lehnte an der Wand und seine Lippen bewegten sich stumm mit den ihren.
Und jetzt lag er da mit den Augenklappen und statt Schwarz sah er Rot, weil er an die Haare Rebeccas dachte und an den AcI und an ihr blasses Gesicht. Und vielleicht würde er das nie mehr sehen können, aber fühlen, das könnte er immerhin noch und er fuhr wieder über die Noppen der Wärmflasche, die, wenn sie schon nicht lesbar waren für ihn, doch fühlbar waren, und fühlen könnte er die Rebecca und mit dem Finger den zarten Schwung ihrer Lippen nachfahren, den sanften Bogen ihrer Nase, die weiche Kurve ihres Kinns. "When I find myself of trouble speak words with me”, improvisierte er mit seiner kratzigen Stimmbruchstimme, schluckte ein paar Mal, weil er an Rebecca dachte, wie sie singend in der Kabine stand und ihr Haar bürstete, und da hoffte er, dass das Hören schon reichen würde und das Riechen und das Fühlen, und dass es schon irgendwie werde. „Let it be, let it be, let it be“, krächzte er weiter und seine Mutter hörte ihn und sagte: „Martin, du singst ja“. Und er antwortete: „Ja Mama, ich singe.“
„Wenn du blind wirst, lese ich dir immer was vor, was du magst“, sagte Siegfried, sein Bruder. „Auch die Geschichten vom Humer, die mich gar nicht interessieren, das griechische Zeugs. Weil die hatten ja nicht mal richtige Pistolen.“ Und der Martin streckte seine Hand aus und suchte nach dem Kopf vom Siegfried und strich ihm über das Haar.
Martin stand neben Keule und sie schauten dem Bagger zu. Der machte sich gerade mit offenem Maul über das Gebälk des Badehauses her und Martin kam der Bagger vor wie ein Tyrannosaurus, der aus seinem Opfer enorme Fleischbrocken herausreißt und sich dann aufrichtet, den Kopf wild schüttelt und mit weiten Augen in die Urlandschaft stiert, während ihm das Blut von den Lippen tropft . Dann löste der Bagger seine Klappe und ließ die Schaufel mit Wucht herabsausen, dass die Dachkonstruktion krachend zusammenbrach.
„Schade“, sagte Keule. „Ich werde sie vermissen, die alte Bude. Da habe ich mich sehr wohlgefühlt.“ Er wippte mit der Hüfte vor und zurück. Martin dachte an Max, der erzählt hatte, dass das neue Freibad blöd sei, weil da gäbe es keinen Gang hinter den Kabinen, das hätte er schon ausgespäht und das mache ja gar keinen Spaß ohne Gang.
„Aber du hast Glück gehabt. Ein Auge ist ja schon wieder frei“, sagte Keule.
„Das andere wird auch wieder, hat der Doktor gesagt“, gab Martin zurück.
„Na also, da siehst du im Herbst ja wieder ganz normal. Und jetzt bleibst Du noch ein wenig, wie der Papa von Pippi Langstrumpf mit der Augenklappe. Wie nannte sie ihn gleich wieder? Ah, Negerkönig“, sagte Keule und lachte.
Martin blieb noch eine Weile stehen und betrachtete stumm, wie der Bagger den Gang einriss und die Bretter der Kabinen zersplitterten. Dann ging er, wendete sich um und rief Keule zu: „Negerkönig sagt man nicht!“