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Neblig blau

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30.07.2016
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Neblig blau

Frau B. blinzelt irrtiert.
Ihr Hausarzt nimmt die randlose Brille ab und reibt sich mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel, als würde ihn ein Kopfschmerz plagen.
"Gut, Frau B.
Ich werde es Ihnen nochmals erklären: Sie sitzen mir nun das dritte Mal in vier Wochen gegenüber. Ich kann die Verschreibungspraktik meines Kollegen in diesem Umfang nicht gutheißen und werde nicht damit fortfahren.
Sie bekommen von mir kein Rezept, jedenfalls nicht in dieser Häufigkeit. Ich rate Ihnen dringend, in dieser Angelegenheit einen Facharzt aufzusuchen und über eine Entwöhnungsbehandlung nachzudenken.
Ich kann die Situation so nicht tragen und verantworten."

Frau B. schweigt und starrt auf ihre schwarzen Halbschuhe.
Sie fühlt sich klein und im Stich gelassen. Unverstanden.
"Entwöhnung". Das Wort wandert ihr durch den Kopf, sie prüft es auf Gehalt und Sinnhaftigkeit, versucht, die Dimension dahinter zu verstehen und scheitert.

Sie erhebt sich steif.
"Ich danke Ihnen, Herr M."
Kurz bevor sie die Tür des Behandlungsraumes hinter sich schließt, fällt ihr auf, dass sie ihre Handtasche neben dem Stuhl vergessen hat. Kleine Unachtsamkeiten, die sich in letzter Zeit häufen. Mit einem entschuldigenden Lächeln kehrt sie um und greift nach dem Beutel aus Kunstleder.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle lässt sie die Tasche aufschnappen und macht eine Bestandsaufnahme, wie so oft am Tag.
Eine blauweiße Pappschachtel mit ehemals 50 Tabletten.
Sie muss nicht nachzählen, um zu wissen, dass es inzwischen nur noch knapp 20 Stück sind.
Kurz berührt sie die Schachtel, fühlt die Kanten, ist beruhigt, durch diese weitere Überprüfung.

Der Bus kommt in 45 Minuten, denkt sie. Er wird voll sein, laut, hektisch. Schulkinder, Damen in ihrem Alter, der stets schwitzende und unfreundliche Fahrer. Zu viele Menschen auf zu engem Raum.
Frau B. greift unauffällig in ihre Tasche und ertastet einen der Blister, drückt die kleine Tablette aus der Verpackung und schluckt sie ohne Wasser hinunter.
Blau sind die Pillen in der Stärke von 10mg. Ein hübsches Blau. Vertrauenserweckend. Kein klinisches reinweiß, sondern ein beruhigender, tiefer Blauton.

Im Bus entfaltet das Diazepam seine einlullende Wirkung, die Frau B. dennoch immer wieder enttäuscht.
Früher, denkt sie, war es intensiver, das schöne Gefühl. Mächtiger, nachdrücklicher und länger anhaltend. Sie brauchte damals auch nur eine halbe Tablette um den Tag über eingehüllt zu sein wie in warmer Watte, ein leichtes Kribbeln im Körper dabei und eine grenzenlose Gleichmütigkeit gegenüber jeder Herausforderung des Alltags.
Wann war das? Vor zehn Jahren etwa, als ihr ehemaliger Hausarzt ihr das Valium erstmals verschrieb, damit sie in der Lage war, die Beerdigung zu regeln. Die Gespräche mit dem Pastor, dem Bestatter, die Trauerfeier, die Beisetzung. All das liegt in ihrer Erinnerung schon im blauen Nebel.

Wie viele Tabletten nimmt sie inzwischen? Zwischen sechs und acht am Tag. Acht jedoch nur an schlechten Tagen, an Busfahr-Tagen, an Einkauf-Tagen, an Tagen, an denen sich der Schlaf nicht einstellen will und sie wach liegt im verdunkelten Schlafzimmer, die Seite des Doppelbetts neben ihr verlassen und kalt. Das Bettzeug darauf akkurat gelegt, die Tagesdecke faltenlos übergespannt. Kein Atem neben ihr, kein Leben, nur gebügelte Stoffschichten. Unberührt seit zehn Jahren.

Frau B. starrt auf die vorüberziehenden Häuserreihen, die blaue Tablette hat aufgeräumt mit dem Unwohlsein im Bus, mit der Sorge um das nächste Rezept, mit dem hässlichen Wort "Entwöhnung", das Frau B. nicht mit ihrer Person in Verbindung bringen kann.
Entwöhnung wovon? Es geht ihr doch gut.
Die Watte im Kopf verpackt ihre Gedanken sorgfältig. Scharfkantige Befürchtungen verlieren ihren Schrecken, sind zwar noch vorhanden, doch nicht von Belang. Das Valium zieht sich straff über ihre Ängste, einer Tagesdecke gleich, faltenlos.

Zuhause angekommen, beginnt Fr. B ihr Abendritual: Zigaretten stopfen für den kommenden Tag während der Fernseher belanglos in die Stille ihrer Wohnung plätschert.
Akribisch reiht Fr. B fünf tadellos gestopfte Zigaretten auf ihrem Wohnzimmertischchen auf. Eine für den Morgenkaffee, eine nach dem Mittagessen, eine zum Tee und zwei für den Tagesausklang vor dem Fernseher. Mit einem uralten Handstaubsauger entfernt sie Tabakkrümel vom Spitzendeckchen auf dem Tisch. Die kleine Wohnung ist auffallend sauber und geordnet. Fr. B sitzt auf ihrem Samtsofa mit Blumenmuster und versucht, sich auf den Fernseher zu konzentrieren. Eine Gerichtssendung auf einem Privatsender. Der junge, drogensüchtige Tatverdächtige bekommt die Auflage, sich in den Entzug zu begeben.
Entzug. Entwöhnung. Fr. B wird unwohl und sie entwickelt eine gehemmte Wut auf ihren Hausarzt. Wofür hält er sie? Sie hat ihr Leben im Griff, eine ordentliche Wohnung, dienstags telefoniert sie mit Martha, samstags ist sie auf dem Markt und kauft fürs Wochenende ein, sie kocht täglich für sich selbst, nimmt Arzttermine wahr und bemüht sich jederzeit, niemandem zur Last zu fallen, nirgends anzuecken. Was hat sie gemeinsam mit einem jungen Kerl, der auf der Straße lebt und sich Gift in die Arme pumpt?

Sie greift zum Telefonbuch und notiert sich die Hausärzte in ihrer Umgebung, bei denen sie noch nicht vorstellig war. Dann schaut sie auf die Wohnzimmeruhr. 18.00 Uhr ist es, stellt sie erleichtert fest. Eine weitere blaue Tablette wird aus dem Blister gedrückt, und verschwindet mit einem Schluck Wasser hinter Fr. Bs künstlichem Gebiß. Gegen Abend, wenn die Tagestabletten in ihrer Gesamtheit wirken, fühlt sich Fr. B. am wohlsten. Oft nickt sie vor dem Fernseher ein, für wenige Minuten nur, und wird beim Aufwachen vom blauen Nebel empfangen wie von einem guten Freund. Ihre Gedanken winden sich träge durch ihren Kopf, Nebensächlichkeiten, Alltäglichkeiten. Und sollte doch ein Bild vor ihrem inneren Auge erscheinen, dass sie beunruhigt und ängstigt, so scheint es zugleich weit entfernt zu liegen. Frau B.s Gedanken haben keine Reißzähne, Valium verzaubert alles in harmlose Plüschtiere.

Frau B. erwacht sanft aus einem Kurzschlaf auf dem Sofa. Es ist 21.00 Uhr, sie wird ins Bett gehen. Das Valium braucht etwa eine Dreiviertelstunde, um sich voll zu enfalten. Sie schluckt die zwei Tabletten und zögert. Zählt nach. 14 Stück. Sie muss dringend einen Arzt finden, der ihr ein neues Rezept ausstellt. Was, wenn sie niemanden findet? In einer Kurzschlussreaktion nimmt Fr. B zwei weitere tiefblaue Pillen. Ein starkes Schutzschild gegen Sorgen und die kalte, unbenutzte Seite ihres Doppelbettes. Fr. B sitzt auf der Bettkante und raucht die letzte Zigarette des Tages bei gekipptem Fenster. Ihre Haare hat sie in einem Schlafnetz verpackt, das Gebiss ist gereingt. Sie trägt ein knöchellanges, wallendes Nachthemd . Die Wirkung der Diazepam kriecht ihr in den Kopf. Sie fühlt, wie ihre Muskeln sich entspannen, wie die Watte sich verdichtet, wie die Sorgen auf tonlos geschaltet werden und die Müdigkeit heftig angerollt kommt. Kurz versucht sie sich zu erheben, doch das Valium und ihr Kreislauf drücken sie zurück in die Matratze. Sie dämmert ein, die glühende Zigarette in der Hand.


Frau B. verbrennt nicht, sie hat keine Schmerzen, keine Ängste, sie erwacht nicht. Das Kohlenstoffmonoxid des Schwelbrandes führt sie schnell von tiefer Bewußtlosigkeit direkt in den Tod. Der blaue Nebel weicht ihr nicht von der Seite, zu keinem Zeitpunkt.

 

Bas : Danke fürs Lesen und deine positive Kritik.

Du schreibst : "Hier und da hätte ich mir etwas mehr Tiefe gewünscht."

Wärst du so nett, mir auszuführen, was genau du meinst?

Ich hatte folgendes bei der Geschichte noch im Hinterkopf, was schlußendlich weggefallen ist:

- Die Einsamkeit der Frau B. weiter ausführen, vielleicht auch den Bezug zu ihrem toten Mann
- Die Gedächtnislücken aufgrund des Missbrauchs stärker betonen (sie sind nur angedeutet, eine deutliche Szene dazu hatte ich aber im Kopf)
- Ein Entzugsszenario entwerfen, und sei es nur die Durststrecke zwischen zwei Rezepten

Benzodiazepine haben mit Sicherheit eine Berechtigung in Krisensituationen. Aber im Idealfall sollten es Notfallmedikamente bleiben. In der Disziplin werden sie von nichts getoppt.
Die Realität sieht leider anders aus.

 

Hallo, my black eyed dog,

kann mich da an "Bas" nur anschließen, diese Geschichte finde ich klasse! Mit vielen sehr genauen Beobachtungen.

Nur an wenigen Stellen ließe sich vielleicht durch Kürzungen oder kleine Änderungen noch etwas gewinnen:


Sie muss nicht nachzählen, um zu wissen, dass es inzwischen nur noch knapp 20 Stück sind.
Kurz berührt sie die Schachtel, fühlt die Kanten, ist beruhigt, durch diese weitere Überprüfung des reinen Vorhandenseins der Pillen.

Das Fette weglassen?


Und statt

Vertrauenserweckend.
vertrauenerweckend.


Im Bus entfaltet das Diazepam seine einlullende Wirkung, die Frau B. trotz allem immer wieder enttäuscht.

evtl. "Noch im Bus.... , die Frau B. dennoch ...."


Acht jedoch nur an schlechten Tagen, an Busfahr-Tagen, an Einkauf-Tagen, an Tagen, an denen sich der Schlaf nicht einstellen will und sie wach liegt im verdunkelten Schlafzimmer, die Seite des Doppelbetts neben ihr verlassen und kalt.

Das Fette weglassen?


Zuhause angekommen, beginnt Fr. B ihr Abendritual. Zigaretten stopfen für den kommenden Tag, der Fernseher plätschert belanglos in die Stille ihrer Wohnung.

Stattdessen evtl.:

Zuhause beginnt Fr. B ihr Abendritual: Zigaretten stopfen für den kommenden Tag. Der Fernseher plätschert belanglos in die Stille ihrer Wohnung.

Akribisch reiht Fr. B fünf tadellos gestopfte Zigaretten auf ihrem Wohnzimmertischchen auf, in Reih und Glied.

Das Fette weglassen, steckt m.E. in "Akribisch" schon drin.

Fr. B wird unwohl und sie entwickelt eine gehemmte Wut auf ihren Hausarzt.

evtl.: ...in ihr wächst eine....


Eine weitere blaue Tablette wird aus dem Blister gedrückt, und verschwindet mit einem Schluck Wasser hinter Fr. Bs künstlichem Gebiß.

Tablette und Wasser verschwinden hinter ihrem künstlichen Gebiss (ß ? )
Den Satz finde ich ein wenig schräg, hab aber aktuell keinen Vorschlag.

Und sollte doch ein Bild vor ihrem inneren Auge erscheinen, dass sie beunruhigt und ängstigt, so scheint es zugleich weit entfernt zu liegen. Frau B.s Gedanken haben keine Reißzähne, Valium verzaubert alles in harmlose Plüschtiere.

..., das sie beunruhigt...

evtl.... verzaubert sie in .... oder: macht aus ihnen....


Frau B. erwacht sanft aus einem Kurzschlaf auf dem Sofa.

wie ist sie da hin gekommen? Evtl. weglassen, den Satz?


In einer etwas panischen Kurzschlussreaktion nimmt Fr. B zwei weitere tiefblaue Pillen.

"panische Kurzschlussreaktion" finde ich doppelt gemoppelt, "panisch" passt zugleich dazu nicht.
Evtl. nur: "panisch nimmt Frau B...."


und sich selbst in einem wallenden Nachthemd eingewickelt

klingt, als hätte sie sich darin irgendwie verfangen. Evtl. "und ihr wallendes Nachthemd angezogen"

führt sie schnell von tiefer Bewußtlosigkeit direkt in den Tod. Der blaue Nebel weicht ihr nicht von der Seite, zu keinem Zeitpunkt.

evtl. "der blaue Nebel begleitet sie bis zum Schluss" oder "umhüllt sie".. oder "erfüllt sie". Der ist ja in ihr, nicht nur an "der Seite".

So, mehr Pingeligkeiten fallen mir nicht ein...

Mir gefällt auch das Ende Deiner Geschichte, von außen sieht das dann wie ein ganz "normaler" Tod durch Schusseligkeit aus, bis zum Schluss fällt der blaue Nebel nicht auf, der eigentlich die Ursache war.

So, jetzt brauch ich aber erst mal ein Aufputschmittel... ich meine: einen Kaffee!

Willy Ducree

 

Willy Ducree: Danke für deine Verbesserungsvorschläge, ich habe bereits einiges umgesetzt davon. :)

Auch freut mich, dass die Geschichte dir zusagt. Ich hatte schon länger etwas zum Thema "Benzos" im Hinterkopf, das wäre dann damit also auch erledigt.

Einen schönen Abend...

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej my black eyed dog,

auf mich wirkt die Geschichte wie der erstmal recht gelungene Versuch, das Thema Tablettenabhängigkeit zu thematisieren.

Aufgefallen ist mir, dass Frau B. nur einen einzigen Satz sagt

"Ich danke Ihnen, Herr M."

Auch wenn Du ihre Situation treffend beschreibst, bleibt sie als Figur eher blass.
Ich denke, das liegt daran, dass sie nicht wirklich zu Wort kommt.

Was der Geschichte in meinen Augen auch gut täte, wäre etwas mehr Konflikt.
Klar, da ist einer, aber bevor der wirklich ausbricht, ist die Frau auch schon tot, das Problem hat sich in Rauch aufgelöst. Ist doch alles gut gegangen, könnte man als Leser denken, die Frau B. hat sich den (hab ich gehört) heftigen Entzug erspart und ist leidlos gestorben.

Interessant und zum Thema gehörend wäre in meinen Augen: Was passiert mit Frau B., wenn da keine 20 Tabletten mehr in der Packung sind und der Arzt ihr das Rezept verweigert. Sagt sie dann auch brav "Danke" und "Auf Wiedersehen"?

Soviel von mir.

Gruß
Ane

 

Hallo my black eyed dog!

Solche Schilderungen von Sucht rutschen ja gerne in Schwarzweißmalerei ab, nach dem Motto: Der süchtige Mensch ist Opfer, nur Opfer, schuld dagegen sind die böse Welt, intrigante Kollegen, der Kapitalismus, verständnislose Chefs, untreue Ehepartner und und und. Bei deinem Text ist das nicht der Fall. Denn er ermöglicht es dem Leser, die Schuld für das Abrutschen in die Sucht bei der Süchtigen selbst zu finden. Es begann mit dem Tod des Ehemannes. Bei solch einem Verlust muss Trauerarbeit geleistet werden. Die Witwe muss Trauerarbeit leisten - das ist natürlich leicht gesagt und so schwer getan, es kann eine fast übermenschliche Aufgabe sein, das ist mir schon klar. Und trotzdem: Trauerarbeit bedeutet, dass der Mensch, der einen anderen Menschen verloren hat, seine Gefühle von ihm lösen und seinen Verlust verkraften muss - das ist harte Arbeit, desshalb nannte Freud, dem wir diesen Begriff verdanken, es auch Arbeit - da schwingt noch der frühere Sinn von "Arbeit", nämlich arebeit, "Mühsal, Sich-Abrackern" mit.
Die Süchtige aber hat die Trauerarbeit verweigert und Gefühle wie Trauer und Schmerz verdrängt, wobei ihr Valium und Diazepam geholfen haben; treffend auch diese Beschreibung:

Die Watte im Kopf verpackt ihre Gedanken sorgfältig. Scharfkantige Befürchtungen verlieren ihren Schrecken, sind zwar noch vorhanden, doch nicht von Belang. Das Valium zieht sich straff über ihre Ängste, einer Tagesdecke gleich, faltenlos.

Der verletzende und Schmerz erzeugende Gedanke an den Verlust wird nicht zugelassen, sondern eingekapselt, also wie ein Fremdkörper behandelt, der von außen in den Körper eingedrungen ist, obwohl er doch aus dem Inneren der Seele kommt.

Deine psychologisch wahrhaftige Geschichte habe ich gerne gelesen!
Grüße
gerthans

 

Hallo my black eyed dog,

auch von mir ein großes Lob zu dieser tragischen Geschichte. Zu kritisieren habe ich nichts, auf mich wirkt das Ganze sehr rund. Der Name "B." hat mich anfangs etwas gestört, vor allem, weil der Arzt sie auch so anspricht, aber dann habe ich, genau wie Bas, gedacht, dass das gut hervorhebt, dass sie nur eine Nummer ist.

Für die Außenwelt zu funktionieren und auf klassische Junkies, die ihr Leben nicht mehr im Griff haben, herabzublicken, zeigt nicht nur Frau B.'s gnadenlosen Selbstbetrug, sondern ist mMn auch eine Generationssache, die anhand des Beispiels der Tablettensucht hier auf die Spitze getrieben wird.

Gerade die Nachkriegsgeneration - und zu der zähle ich Frau B. - war in erster Linie darauf bedacht, zu funktionieren und das alltägliche Leben in Ordnung zu halten, das schien mir das Wichtigste zu sein nach den chaotischen Kriegsjahren. Die Frage nach Befindlichkeiten stellte man sich nicht, auf ein:"Wie geht's" hatte man mit "gut" zu antworten, wie es sich gehört. Und falls nicht, konnte das nur bedeuten, dass man körperlich krank war, vielleicht eine Grippe hatte oder irgendeine andere Krankheit.

Kein Wunder also, dass Frau B. denkt, mit ihr sei alles in Ordnung, in ihrem Valiumrausch wird sie wahrscheinlich eh kaum dazu gekommen sein, sich zu reflektieren. Auch ihre Isolation - denn außer Martha hat sie wohl niemanden und mit der telefoniert sie nur - fällt ihr kaum schwer, denn die Pillen gaukeln ihr menschliche Wärme vor.
Ein Schicksal, das mMn viele teilen und ich finde es fast gruseliger als das klassische Junkietum, weil sich alles unter dem Deckmantel der Normalität abspielt. "Wie die Tagesdecke, ohne Falten."

Sehr gelungen!

Viele Grüße,

Chai

 

(Ohne Tastatur ists schwer zu antworten, deshalb dauerte es etwas)
Bas :

Danke für deine Rückmeldung.
Ich habe mich dazu entschlossen, diese Gechichte so zu lassen und die Thematik vielleicht nochmal in einem anderen Kontext aufzunehmen.
Hieße, inklusive der Konsequenzen einer "Versorgungslücke" zwischen zwei Rezepten.
Ane: Danke auch dir für deine Antwort.
Das (harte) Thema eines Benzodiazepinentzugs schien mir nicht in die Gechichte zu passen.
So etwas würde ich anders angehen, denke ich.
gerthans: Schön, dass du gerne gelesen hast!

Ja, Frau B. setzt sich nicht auseinander. Im wahrsten Sinne des Wortes schluckt sie alles hinunter.
Wer weiß, vielleicht hätte gar nicht die Kraft, den Tatsachen ohne blauen Nebel ins Auge zu schauen. So bleibt ihr Dasein diffus, nicht konkret, blau vernebelt eben.

Chai :

Danke für deinen Kommentar!
Frau B. findet nichts an ihrem Tun verwerflich, da der unerschütterliche Glaube "Der Doktor hats verschrieben" sicher auch mit hineinspielt. Eine saubere Sache - trotzdem ist sie schwer abhängig....wie du schon sagst: Ohne aus der Rolle zu fallen.

 

Hej my black eyed dog,

ein düsteres Portrait, das du gezeichnet hast. Konsequent kühl, ich komme gar nicht dazu, Mitgefühl zu empfinden, beobachte das Szenario und sehe Frau B. auf ihr Ende zusteuern. Teils aktiv, teils passiv.
Alles passt zusammen, auch stilistisch.

Sie fühlt sich klein und im Stich gelassen. Unverstanden.

Das mag jetzt wohl etwas vermessen klingen, aber diese gefühlsmäßige Bestandsaufnahme hätte ich gar nicht lesen wollen. Die herablassende Art des Mediziners und die Sprachlosigkeit der Frau B. wirkte ohnehin sehr stark auf mich.

Mit einem entschuldigenden Lächeln kehrt sie um und greift nach dem Beutel aus Kunstleder.

Ein gutes Detail, um zu Frau B.s Einfachheit zu unterstreichen oder ihre Gleichgültigkeit.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle lässt sie die Tasche aufschnappen und macht eine Bestandsaufnahme, wie so oft am Tag.

Ich mag diese knappen Hinweise auf ihre Situation, ihre Priorität. Immer wieder machst du das.

Vor zehn Jahren etwa, als ihr ehemaliger Hausarzt ihr das Valium erstmals verschrieb, damit sie in der Lage war, die Beerdigung zu regeln.

Isses die Möglichkeit! Solange kommt man damit durch?

Wie viele Tabletten nimmt sie inzwischen? Zwischen sechs und acht am Tag. Acht jedoch nur an schlechten Tagen, an Busfahr-Tagen, an Einkauf-Tagen, an Tagen, an denen sich der Schlaf nicht einstellen will und sie wach liegt im verdunkelten Schlafzimmer, die Seite des Doppelbetts neben ihr verlassen und kalt. Das Bettzeug darauf akkurat gelegt, die Tagesdecke faltenlos übergespannt. Kein Atem neben ihr, kein Leben, nur gebügelte Stoffschichten. Unberührt seit zehn Jahren.

Damit verschaffst du mir einen üblen Schauer, aber kein Mitgefühl. Das gefällt mir.:shy:, weil es sowohl zur Aussage passt, so wie ich mir zurecht gelegt habe, als auch zu der unterkühlten Sprache.

Es geht ihr doch gut.

Naja, sie weiß ja schon, dass sie den Alltag so allein schlecht wuppt, ohne Mann und ohne Tabletten.

Das Valium zieht sich straff über ihre Ängste, einer Tagesdecke gleich, faltenlos.

Diese übertragende Wiederholung beeindruckt mich.

Was hat sie gemeinsam mit einem jungen Kerl, der auf der Straße lebt und sich Gift in die Arme pumpt?

Es macht es sogar dramatischer, dass sie nicht einmal Alkohol dazu nimmt.

Eine weitere blaue Tablette wird aus dem Blister gedrückt, und verschwindet mit einem Schluck Wasser hinter Fr. Bs künstlichem Gebiß.

Ich kann jetzt leider gar nicht sagen, wieso ich sie nicht so alt vermutet hatte.

Frau B.s Gedanken haben keine Reißzähne, Valium verzaubert alles in harmlose Plüschtiere.

Gut, dass du das noch einmal anmerkst. Eine Spirale.

Ein starkes Schutzschild gegen Sorgen und die kalte, unbenutzte Seite ihres Doppelbettes.

Ist es nicht unvorstellbar, dass jemand zehn Jahre lang auf der Stelle tritt und leidet? Das heißt jetzt aber nicht, dass es abwegig ist und ich stelle deine Aussage nicht infrage. Ich bin nur sehr traurig.

gereingt

gereinigt

Natürlich war kein gutes Ende zu erwarten und diese Möglichkeit ist eine sehr häufige.
Sehr "schön" finde ich die Wiederkehr der Farbe Blau, die ich gut noch öfter hätte vertragen können.
Ich empfinde den Text als gesellschaftliche Anklage, ohne dass du mit dem Finger zeigst.

Eine sehr eindrückliche Betrachtung. Vielen Dank und freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo my black eyed dog,

Ich möchte zunächst mal zwei formale Sachen anmerken, bevor ich was zum Inhalt sage:

"Ich danke Ihnen, Herr M."
Müsste sie da nicht eigentlich Herr Dr. M. sagen? Ein Hausarzt ohne Titel wäre schon etwas besonderes.

ist beruhigt, durch diese weitere Überprüfung
Ich glaube nicht, dass da ein Komma hinkommt, da die Überprüfung sie ja beruhigt - ist also ein Sinnzusammenhang.

Die Idee der Geschichte gefällt mir im Großen und Ganzen ziemlich gut, auch dein Schreibstil gefällt mir.
Dennoch hab ich mich während des Lesens gefragt, ob ein Hausarzt so einen Tablettenkonsum 10 Jahre lang vertreten würde. Sicher gibt es schwarze Schafe, aber so wirkt er nicht sehr vertrauenserweckend. Scheinbar hat sie ja keine sozialen Kontakte, die ihr den Medikamentenmissbrauch deutlich machen können, aber der Arzt muss doch sehen, dass die Frau einen professionellen Entzug braucht.
Wirklich gestört hat mich das jedoch nicht, es ist mir nur aufgefallen und hat mich verwundert.

Über den letzten Absatz bin ich nicht so glücklich - du verlässt Frau B.s Perspektive (sinnvollerweise natürlich) und driftest ab in eine Art ärztlichen Bericht, der die Todesursache feststellt. Diese Berichte sollen ja sehr sachlich sein und sind deswegen auch emotionslos. Gerade bei dieser Geschichte finde ich ein emotionsloses, abgeschlossenes Ende vollkommen fehl am Platz. Wieso lässt du den Leser nicht mit ihr wegdämmern, beschreibst die letzten Sinneseindrücke, die sie hat, bevor sie bewusstlos wird?
Die Leser sind ja nicht dumm, du kannst super mit Andeutungen arbeiten. Schwelbrände aufgrund von Zigaretten sind bekannt, das wird nicht für Verwirrung sorgen, dafür aber für einen schönen Schlusseffekt.

Ich hoffe, du kannst mit meiner Kritik was anfangen und wünsche dir einen schönen Tag! :)

Jana

 

Hallo my black eyed dog.

(Ich bin neu hier, und kenne die Kommentarfunktion noch nicht. Hoffentlich klappt das also jetzt.)

Ein toller Text! Hat mich durchaus überzeugt.
Besonders den neutralen Schreibstil finde ich sehr gelungen. Das passt wirklich super zum Thema. Aber das wurde ja auch bereits von anderen erwähnt...

Da die Frau nur so blaß beschrieben wird, ist sie ein prima Platzhalter für die vielen (?) Betroffenen. Man denkt nicht wirklich über sie als Person nach, sondern eher über die Fehler in unserer Gesellschaft, die solch einen Fall möglich machen...

Was mich beim Lesen nur etwas irritiert hat, ist die Abkürzung von Frau B. zu Fr. B. im Verlauf des Textes. Hier ein Beispiel:

Zuhause angekommen, beginnt Fr. B ihr Abendritual:

Ich fände ein durchgängiges Frau B. besser.

Das Ende fand auch ich etwas holperig.
Da die Frau ja offensichtlich keine anteilnehmenden Verwandten, Freunde etc. hatte, kehrt ihr Tod nun die ganze Vorgeschichte sozusagen unter den Teppich.
Die Person ist weg, also weitermachen ...
Ein bisschen schwächt das auch den gedanklichen Nachhall beim Leser.

Vielleicht einfach den ganzen letzten Absatz streichen und bei

doch das Valium und ihr Kreislauf drücken sie zurück in die Matratze. Sie dämmert ein, die glühende Zigarette in der Hand.

aufhören?

Ich finde das macht die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation deutlicher und das Gedankenkarusell beim Leser fängt erst richtig an.

Insgesamt für die Geschichte nochmals ein Lob von mir.

 

Die Idee der Geschichte gefällt mir im Großen und Ganzen ziemlich gut, auch dein Schreibstil gefällt mir.
Dennoch hab ich mich während des Lesens gefragt, ob ein Hausarzt so einen Tablettenkonsum 10 Jahre lang vertreten würde. Sicher gibt es schwarze Schafe, aber so wirkt er nicht sehr vertrauenserweckend. Scheinbar hat sie ja keine sozialen Kontakte, die ihr den Medikamentenmissbrauch deutlich machen können, aber der Arzt muss doch sehen, dass die Frau einen professionellen Entzug braucht.
Wirklich gestört hat mich das jedoch nicht, es ist mir nur aufgefallen und hat mich verwundert.

Über den letzten Absatz bin ich nicht so glücklich - du verlässt Frau B.s Perspektive (sinnvollerweise natürlich) und driftest ab in eine Art ärztlichen Bericht, der die Todesursache feststellt. Diese Berichte sollen ja sehr sachlich sein und sind deswegen auch emotionslos. Gerade bei dieser Geschichte finde ich ein emotionsloses, abgeschlossenes Ende vollkommen fehl am Platz. Wieso lässt du den Leser nicht mit ihr wegdämmern, beschreibst die letzten Sinneseindrücke, die sie hat, bevor sie bewusstlos wird?
Die Leser sind ja nicht dumm, du kannst super mit Andeutungen arbeiten. Schwelbrände aufgrund von Zigaretten sind bekannt, das wird nicht für Verwirrung sorgen, dafür aber für einen schönen Schlusseffekt.

Ich hoffe, du kannst mit meiner Kritik was anfangen und wünsche dir einen schönen Tag! :)

Jana


Hallo Jana und danke für deine Kritik!

Zur Verschreibungspolitik: Neben der Abrechnung solcher Medikamente über die Krankenkasse gibt es immer die Möglichkeit, ein Privatrezept zu erhalten. Da das Medikament dann komplett aus eigener Tasche bezahlt wird, wird es in keiner Statistik mit aufgenommen - einer der Gründe, warum das Ausmaß des Missbrauchs nicht genau benannt werden kann.
Aber auch übers reguläre Kassenrezept können Menschen jahrzehntelang versorgt werden.
Die Großmutter einer guten Freundin starb vor einigen Monaten. Sie bekam seit Mitte der 90er Oxazepam, ein Benzodiazepin. Die letzten Jahre im Pflegeheim bekam sie das Medikament weiterhin in der Dosis, auf die sie sich im Laufe der Zeit hochdosiert hatte.
pinkbaerbel :

Stimmt, beim "Frau/Fr." hab ich geschludert. Hatte keinen tieferen Hintergrund.

Ansonsten werde ich mich vielleicht mal an ein alternatives Ende setzen. Danke für deine Anmerkungen!

 

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