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Neblig blau
Frau B. blinzelt irrtiert.
Ihr Hausarzt nimmt die randlose Brille ab und reibt sich mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel, als würde ihn ein Kopfschmerz plagen.
"Gut, Frau B.
Ich werde es Ihnen nochmals erklären: Sie sitzen mir nun das dritte Mal in vier Wochen gegenüber. Ich kann die Verschreibungspraktik meines Kollegen in diesem Umfang nicht gutheißen und werde nicht damit fortfahren.
Sie bekommen von mir kein Rezept, jedenfalls nicht in dieser Häufigkeit. Ich rate Ihnen dringend, in dieser Angelegenheit einen Facharzt aufzusuchen und über eine Entwöhnungsbehandlung nachzudenken.
Ich kann die Situation so nicht tragen und verantworten."
Frau B. schweigt und starrt auf ihre schwarzen Halbschuhe.
Sie fühlt sich klein und im Stich gelassen. Unverstanden.
"Entwöhnung". Das Wort wandert ihr durch den Kopf, sie prüft es auf Gehalt und Sinnhaftigkeit, versucht, die Dimension dahinter zu verstehen und scheitert.
Sie erhebt sich steif.
"Ich danke Ihnen, Herr M."
Kurz bevor sie die Tür des Behandlungsraumes hinter sich schließt, fällt ihr auf, dass sie ihre Handtasche neben dem Stuhl vergessen hat. Kleine Unachtsamkeiten, die sich in letzter Zeit häufen. Mit einem entschuldigenden Lächeln kehrt sie um und greift nach dem Beutel aus Kunstleder.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle lässt sie die Tasche aufschnappen und macht eine Bestandsaufnahme, wie so oft am Tag.
Eine blauweiße Pappschachtel mit ehemals 50 Tabletten.
Sie muss nicht nachzählen, um zu wissen, dass es inzwischen nur noch knapp 20 Stück sind.
Kurz berührt sie die Schachtel, fühlt die Kanten, ist beruhigt, durch diese weitere Überprüfung.
Der Bus kommt in 45 Minuten, denkt sie. Er wird voll sein, laut, hektisch. Schulkinder, Damen in ihrem Alter, der stets schwitzende und unfreundliche Fahrer. Zu viele Menschen auf zu engem Raum.
Frau B. greift unauffällig in ihre Tasche und ertastet einen der Blister, drückt die kleine Tablette aus der Verpackung und schluckt sie ohne Wasser hinunter.
Blau sind die Pillen in der Stärke von 10mg. Ein hübsches Blau. Vertrauenserweckend. Kein klinisches reinweiß, sondern ein beruhigender, tiefer Blauton.
Im Bus entfaltet das Diazepam seine einlullende Wirkung, die Frau B. dennoch immer wieder enttäuscht.
Früher, denkt sie, war es intensiver, das schöne Gefühl. Mächtiger, nachdrücklicher und länger anhaltend. Sie brauchte damals auch nur eine halbe Tablette um den Tag über eingehüllt zu sein wie in warmer Watte, ein leichtes Kribbeln im Körper dabei und eine grenzenlose Gleichmütigkeit gegenüber jeder Herausforderung des Alltags.
Wann war das? Vor zehn Jahren etwa, als ihr ehemaliger Hausarzt ihr das Valium erstmals verschrieb, damit sie in der Lage war, die Beerdigung zu regeln. Die Gespräche mit dem Pastor, dem Bestatter, die Trauerfeier, die Beisetzung. All das liegt in ihrer Erinnerung schon im blauen Nebel.
Wie viele Tabletten nimmt sie inzwischen? Zwischen sechs und acht am Tag. Acht jedoch nur an schlechten Tagen, an Busfahr-Tagen, an Einkauf-Tagen, an Tagen, an denen sich der Schlaf nicht einstellen will und sie wach liegt im verdunkelten Schlafzimmer, die Seite des Doppelbetts neben ihr verlassen und kalt. Das Bettzeug darauf akkurat gelegt, die Tagesdecke faltenlos übergespannt. Kein Atem neben ihr, kein Leben, nur gebügelte Stoffschichten. Unberührt seit zehn Jahren.
Frau B. starrt auf die vorüberziehenden Häuserreihen, die blaue Tablette hat aufgeräumt mit dem Unwohlsein im Bus, mit der Sorge um das nächste Rezept, mit dem hässlichen Wort "Entwöhnung", das Frau B. nicht mit ihrer Person in Verbindung bringen kann.
Entwöhnung wovon? Es geht ihr doch gut.
Die Watte im Kopf verpackt ihre Gedanken sorgfältig. Scharfkantige Befürchtungen verlieren ihren Schrecken, sind zwar noch vorhanden, doch nicht von Belang. Das Valium zieht sich straff über ihre Ängste, einer Tagesdecke gleich, faltenlos.
Zuhause angekommen, beginnt Fr. B ihr Abendritual: Zigaretten stopfen für den kommenden Tag während der Fernseher belanglos in die Stille ihrer Wohnung plätschert.
Akribisch reiht Fr. B fünf tadellos gestopfte Zigaretten auf ihrem Wohnzimmertischchen auf. Eine für den Morgenkaffee, eine nach dem Mittagessen, eine zum Tee und zwei für den Tagesausklang vor dem Fernseher. Mit einem uralten Handstaubsauger entfernt sie Tabakkrümel vom Spitzendeckchen auf dem Tisch. Die kleine Wohnung ist auffallend sauber und geordnet. Fr. B sitzt auf ihrem Samtsofa mit Blumenmuster und versucht, sich auf den Fernseher zu konzentrieren. Eine Gerichtssendung auf einem Privatsender. Der junge, drogensüchtige Tatverdächtige bekommt die Auflage, sich in den Entzug zu begeben.
Entzug. Entwöhnung. Fr. B wird unwohl und sie entwickelt eine gehemmte Wut auf ihren Hausarzt. Wofür hält er sie? Sie hat ihr Leben im Griff, eine ordentliche Wohnung, dienstags telefoniert sie mit Martha, samstags ist sie auf dem Markt und kauft fürs Wochenende ein, sie kocht täglich für sich selbst, nimmt Arzttermine wahr und bemüht sich jederzeit, niemandem zur Last zu fallen, nirgends anzuecken. Was hat sie gemeinsam mit einem jungen Kerl, der auf der Straße lebt und sich Gift in die Arme pumpt?
Sie greift zum Telefonbuch und notiert sich die Hausärzte in ihrer Umgebung, bei denen sie noch nicht vorstellig war. Dann schaut sie auf die Wohnzimmeruhr. 18.00 Uhr ist es, stellt sie erleichtert fest. Eine weitere blaue Tablette wird aus dem Blister gedrückt, und verschwindet mit einem Schluck Wasser hinter Fr. Bs künstlichem Gebiß. Gegen Abend, wenn die Tagestabletten in ihrer Gesamtheit wirken, fühlt sich Fr. B. am wohlsten. Oft nickt sie vor dem Fernseher ein, für wenige Minuten nur, und wird beim Aufwachen vom blauen Nebel empfangen wie von einem guten Freund. Ihre Gedanken winden sich träge durch ihren Kopf, Nebensächlichkeiten, Alltäglichkeiten. Und sollte doch ein Bild vor ihrem inneren Auge erscheinen, dass sie beunruhigt und ängstigt, so scheint es zugleich weit entfernt zu liegen. Frau B.s Gedanken haben keine Reißzähne, Valium verzaubert alles in harmlose Plüschtiere.
Frau B. erwacht sanft aus einem Kurzschlaf auf dem Sofa. Es ist 21.00 Uhr, sie wird ins Bett gehen. Das Valium braucht etwa eine Dreiviertelstunde, um sich voll zu enfalten. Sie schluckt die zwei Tabletten und zögert. Zählt nach. 14 Stück. Sie muss dringend einen Arzt finden, der ihr ein neues Rezept ausstellt. Was, wenn sie niemanden findet? In einer Kurzschlussreaktion nimmt Fr. B zwei weitere tiefblaue Pillen. Ein starkes Schutzschild gegen Sorgen und die kalte, unbenutzte Seite ihres Doppelbettes. Fr. B sitzt auf der Bettkante und raucht die letzte Zigarette des Tages bei gekipptem Fenster. Ihre Haare hat sie in einem Schlafnetz verpackt, das Gebiss ist gereingt. Sie trägt ein knöchellanges, wallendes Nachthemd . Die Wirkung der Diazepam kriecht ihr in den Kopf. Sie fühlt, wie ihre Muskeln sich entspannen, wie die Watte sich verdichtet, wie die Sorgen auf tonlos geschaltet werden und die Müdigkeit heftig angerollt kommt. Kurz versucht sie sich zu erheben, doch das Valium und ihr Kreislauf drücken sie zurück in die Matratze. Sie dämmert ein, die glühende Zigarette in der Hand.
Frau B. verbrennt nicht, sie hat keine Schmerzen, keine Ängste, sie erwacht nicht. Das Kohlenstoffmonoxid des Schwelbrandes führt sie schnell von tiefer Bewußtlosigkeit direkt in den Tod. Der blaue Nebel weicht ihr nicht von der Seite, zu keinem Zeitpunkt.