Nebeneinander
Du schaust auf die saubere, weiße Wand vor dir. Sie ist deutlich abgetrennt von dem zehn Zentimeter breiten, gepflegten Grasstreifen. Dein Blick wandert aufwärts zu den blank geputzten Fenstern. Vor ihnen stehen Blumen, die ganz exakt die richtige Farbe und Größe haben. Alles stimmt genauestens. Sogar der Himmel scheint immer leuchtend blau zu sein. Da sind nur ein paar wenige, weiße Wölkchen, damit es nicht zu unrealistisch scheint.
Weil du so blöd auf dem Bürgersteig herumstehst und nach oben starrst, wirst du von einem Menschen, der es wie alle anderen eilig hat, angerempelt. Ist es Mann oder Frau, jung oder alt? Du kannst es nicht sagen, alle sehen gleich aus. Niemand zeigt mehr sein Gesicht. So ist es ja auch viel besser, denn allen geht es so gut. Jeder hat einen Schlafplatz. Niemand muss mehr an Hunger leiden. Sämtliche physische und psychische Schmerzen kann man mit diversen Medikamenten behandeln.
Aber du weißt, dass es eben nicht so ist. Die Familie deiner Freundin zum Beispiel passte nicht immer in dieses Muster und durch ein paar zufällige Unglücke hat sie es nicht geschafft. Die Eltern, die Tante mit Down-Syndrom und die fünf Kinder leben zusammen in einem Außenbezirk der Stadt. Dort haben sie kaum Anschluss an öffentliche Verkehrsmittel, keine Infrastruktur und keinen Platz.
Außenbezirk. In deinem Umfelt wird dieses Wort höchstens im abfälligen Sinne verwendet. Es ist nicht verboten, dort hinzugehen. Auf keinen Fall. Aber es schickt sich nicht. Niemand tut es. Diese Menschen sind selbst Schuld daran, dass sie nicht in einem der großen, weißen, geraden, umweltfreundlichen Häuser leben.
Als du das erste Mal deine Freundin besucht hast, konntest du ihre Blicke spüren. Die der Leute um dich herum, die es verwunderte, dass ein sportlich aussehendes, junges Mädchen mit gepflegten Klamotten so weit aus der Stadt herausfuhr. Die deiner Eltern, die dich zehnmal gefragt haben, ob du wirklich dorthin möchtest, und das auch noch allein. Und natürlich die der Kameras, die aber so allgegenwärtig sind, dass sie kaum noch auffallen.
Aber auch die dort lebenden Menschen gucken sich verblüfft um, wenn du in ihren Straßen gehst. Denn kaum einer der reichen Städter traut sich das, ohne eine schusssichere Weste und Mundschutz zu tragen. Warum bist du anders? Wenn du den Außenbezirklern einen frischen Apfel schenkst, freuen sie sich, bedanken sich höflich. Aber ihre Augen sprechen etwas anderes "Wer bist du? Was machst du hier?" Sie mögen dich nicht. Auch, wenn sie nicht viel wissen, verstehen sie, dass du einer von denen bist, die ihnen das Leben schwer machen. Sie wissen nicht, wie es in der Innenstadt aussieht, denn dort dürfen sie nicht hin, Höchstens als Fensterputzer. Aber es kursieren die kreativsten Gerüchte. Von Sonnenkönigen bis zu grausigen Folteranlagen. Sie verstehen dich nicht, haben gar nicht das Potential dazu. Allein schon die Kommunikation ist annähernd unmöglich. Ihr sprecht alle Englisch, aber ihr könnt euch nicht verständigen. Auch du hast bei diesem ersten Besuch nicht nachvollziehen können. Warum man Wände mit Graffiti besprüht. Warum man seine Eltern anschreit, fettige Würstchen isst und seine Wäsche zum Trocknen in die staubigen Straßen hängt.
Aber es ist noch etwas anderes hängen geblieben. Jedes Mal, wenn du in das Haus deiner Freundin gekommen bist, ist dir Gelächter entgegen geflogen. Heiteres, mehrstimmiges Lachen. Das kennst du von zu Hause, aus dem Fernsehen oder als Lösung, um unangenehmen Situationen zu entkommen. Aber hier klang es anders. Und es erklang trotz Armut, Schimpfwörtern und Mangel an so ziemlich Allem. Du machst es dir zur Aufgabe auch so lachen zu lernen.
Doch wenn du wieder nach Hause kommst, vergisst du das schnell wieder. Zurück bleibt, im Angesicht der ordentlichen Straßen, nur ein vager undifferenzierter Wunsch nach Farben.
Am nächsten Tag in der Schule hältst du einen Vortrag darüber, dass wir unbedingt die Welt retten müssen und darum keine Zeit haben, uns um einzelne, ärmere Individuen zu kümmern.
So geht es eine ganze Weile weiter. Gedanklich hängst du zwischen zwei Welten. Leben tust du ganz behütet im Haus deiner Eltern, bekommst jeden Tag exzellente Bildung und frisch gekochtes Essen.
Das war schon immer so, natürlich. Aber nun öffnet es dir die Augen. Schmerzhaft. Der ganzer Körper spürt die tonnenschwere Last des Sehens, droht einzuknicken. Denn Vergessen kannst du nicht mehr. Aber da ist noch etwas anderes. Etwas unzähmbares, nicht zu kontrollierendes, was in deinem Inneren kocht. Es war schon immer dort, doch nun ist der entscheidende Funke übergesprungen und die unendliche Wut fängt gefährlich an zu brodeln.
Am nächsten Tag tust es. Als du die Häuser einer ganzen Straße mit Farbbeuteln beworfen hast, kannst du schon freier atmen. Es ist ein erlösendes Gefühl, denn schon die ganze Nacht hast du das dringende, zerrende Bedürfnis gehabt, etwas kaputt machen, brutal zerstören zu müssen. Du bist kräftig. Stärker als alle anderen.
Jetzt muss es schnell gehen, die Überwachungskameras haben dich längst ins Visier genommen. Wahrscheinlich stehst du schon unter Beobachtung, seit du das erste Mal die Idee hattest, in den Außenbezirk zu gehen. Im Rennen ziehst du eine Spraydose aus deiner Tasche und sprühst Giftgas auf die Bio-Gemüseauslage eines Supermarkts. Dann geht es gleich weiter. Ins Regierungsviertel. Mit den Steinen eines Nationalsozialismus-Denkmals zerwirfst du die großen, frisch geputzten Fensterscheiben eines Ministeriums, in welchem die Minister einigermaßen beliebig zwischen Familie und Verteidigung wechseln. Die kleinen, im Sonnenlicht schimmernden Scherben fallen auf den Spielplatz, der unter dem Gebäude liegt. Er ist speziell für die Kinder der Politiker, die unter sich bleiben.
Du merkst, dass das, was du anrichten kannst, viel zu klein ist, für die große, weite Welt. Es ist nichts im Vergleich zu dem unumstürzbaren System, dessen Bürger sich teils wissend, teils unwissend unterwerfen. Diese Erkenntnis macht dich nur noch wütender.
Das Mittagessen der Angestellten ist in Boxen aufgestapelt. Es braucht nur einen kleinen Stoß, um sie alle in den Kanal zu kippen. Verschwendung. Deine Lunge schmerzt, weil du so schnell rennst. Jeder brennende, stechende Atemzug tut gut. Du widerst dich selbst an, wie es dir Spaß macht. Ohne noch einmal zu fragen, ob es richtig ist, was du tust. Dafür hast du in der Vergangenheit genug Zeit gehabt. Hinter dir zieht sich eine Spur brennender Busse und Straßenbahnen. Verwüstung. Der einzige Notausgang, den du für dich gesehen hast. Er wird nichts bringen.
Du kommst an deiner Schule vorbei. Dass du das letzte Mal dort hingegangen bist, scheint dir so ewig lange her. Deine Klassenkameraden kommen gerade heraus. Vergnügt quatschend. Wie können sie nur so leben? Das, was du nie geschafft hättest. Wegen deiner schwarzen Sturmmaske können sie dich nicht erkennen. Nicht zu ihnen hinüberblicken, Emotionen sind in diesem Kampf nicht erlaubt. "Kampf den Eliten!", schreibst du mit deinem blutroten Edding an die Hauswand. Etwas Besseres fällt dir im Moment nicht ein. Du sprintest um die nächste Ecke und holst einen aus dem Museum geklauten Revolver unter deinem Mantel hervor. Zwei Schüsse in die Luft. Hoffentlich funktioniert er noch. Ja, zweimal knallt es. Ganz genau hast du vor Augen, wie der gut geprobte Amokalarm deiner Schule abläuft.
Schweiß rinnt dir von der Stirn. Du denkst an die Familie deiner Freundin. Ob sie jemals davon erfahren werden? Egal. Alles egal. Als du an deinem eigenen Haus vorbeikommst, packt dich das Würgen. Das bescheuerte "Bitte keine Werbung"-Schild an der Tür. Um Papier zu sparen. Ha ha. Du erinnerst dich an den Esstisch. Er ist groß und aus poliertem Kirschenholz, damit er sich gut an die restliche Inneneinrichtung anpasst. Wie konntest du hier nur so lange überleben? Du holst deine beste Waffe mit Zeitzünder hervor und schmeißt sie in den Briefkasten. Immer kamst du hierher zurück. Unfreiwillig, gezwungen, zu feige, um andere Optionen auszuprobieren. Das wird nun niemals wieder so sein müssen.
Du schaust an dir selbst herunter. Gekämmte Haare liegen auf weißer Haut, die immer so umpflegt wurde, dass sie noch nie einen Kratzer abbekommen hat. Verwöhntes, verhätscheltes Selbst. Warum nur ist das so? Die silber glänzende Uhr an deinem linken Handgelenk. Teuer, wertvoll. Das muss nicht sein. Das hätte nie sein sollen. Mit Kraft reißt du sie dir vom Arm, die feinen Schräubchen fallen hell klirrend auf das Pflaster und du schleuderst sie mit aller Wucht von dir. Es hilft nicht. Du hast nie Dreck abbekommen, du hast nicht die geringste Ahnung, was Schmerz, Hunger und Leiden sind. Du wirst nie Lachen lernen. Deinen ungerechten Reichtum wird man dir auf immer und ewig ansehen können.
Du holst dein Schweizer Messer aus der Tasche und gehst, zur Verwirklichung deiner eigenen Utopie, von uns.