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Nebelwald
Das lose Gestein knirschte unter seinen Stiefeln, als Michael über das schmale Felsband tiefer in das weit verzweigte Höhlensystem des Hoggar Gebirges im Süden Algeriens eindrang. Als Paläanthropologe wußte er um die Gefährlichkeit von Höhlen, die jede Unachtsamkeit sofort gnadenlos bestraften. Sorgsam achtete er daher darauf, dass er den Kontakt zu der Sicherungsleine nicht verlor, die sein Team zu Beginn ihrer Forschungarbeiten auf dem gesamten Weg vom Eingang bis zu der tief gelegenen Arbeitsstätte angebracht hatte. Sollte ihm hier etwas zustoßen, würde er in ernste Schwierigkeiten geraten. Zwar hatten sie im Basislager eine gut ausgerüstete Apotheke, und viele seiner Kollegen waren in der Ersten Hilfe gut ausgebildet worden, was sie jedoch nicht zu Ärzten qualifizierte. Auch die moderne Satellitenkommunikation würde ihm in so einem Fall wenig nützen, denn der nächste Ort war weit entfernt und nur über eine staubige Piste zu erreichen. Aber das war der Preis, wenn man etwas Neues entdecken wollte. Man mußte sich eben ständig daran erinnern, dass jeder Fehltritt hier unten der letzte sein könnte und entsprechend aufpassen. Michael atmete daher dankbar auf, als das Ende des schmalen Sims in Sicht kam. Der Weg entlang des gut vier Meter breiten und in der Tiefe nur schwer abzuschätzenden Abgrunds zu seiner linken Hand, stellte für ihn immer noch die schlimmste Passage auf dem Weg nach unten dar. Was ein Fehltritt hier bedeuten konnte, ließ seine Magennerven jedesmal zu harten Knoten werden.
Nun betrat er einen der vielen Verbindungswege, die die Höhlen miteinander verbanden und ihn direkt zum Ziel führte, der Höhle, in der sie aufgrund eines Hinweises die fantastischen Felszeichnungen entdeckt hatten. Obwohl Michael heute lange vor den anderen aufgewacht war und es kaum erwarten konnte, seine Arbeit wieder aufzunehmen, zwang er sich doch zu einer langsamen Gangart, denn auch dieser Verbindungsweg wartete mit ein paar unliebsamen Überraschungen auf. Bei ihrer ersten Erkundung wäre Sonjya, eine enge Kollegin Michaels, beinahe in einen tiefen Schacht gestürzt, von denen es in diesem Verbindungsweg insgesamt drei gab. Alle waren inzwischen mit Sicherungsband gekennzeichnet, trotzdem hatte sich diese Erinnerung tief in Michaels Gedächtnis gegraben und schärfte daher seine Vorsicht. Zum Ende hin wurde der Gang immer enger und dunkler, bis er schließlich in die gewaltige Kaverne mündete, in der sie ihre Entdeckung gemacht hatten. Neuntausend Jahre alte Bilder aus der Rundkopfepoche. Bilder aus der frühesten Zeit nordafrikanischer Felsmalerei. Eines der ungelösten Geheimnisse der Menschheit. Das Volk, das diese Bilder einst schuf mit dem Hang, die Köpfe überproportional rund zu zeichnen, war aus der Geschichte verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es gab keine Hinweise auf ihren Verbleib, und viele der Zeichnungen, die dies vielleicht hätten klären können, waren absichtlich zerstört worden. Ein Mysterium. Wo war das Volk hin verschwunden? Keiner kannte die Antwort hierauf. Michael war daher überglücklich gewesen, als sie auf diese unbekannten Zeichnungen gestoßen waren. Gemeinsam mit seinem Team waren sie nun schon eine Woche damit beschäftigt, die Zeichnungen systematisch zu erfassen und zu untersuchen. Aber einen Hinweis auf den Verbleib des Volkes hatten sie ihnen bisher auch nicht liefern können, bis Michael am vorherigen Tag etwas aufgefallen war, das er nun unbedingt näher untersuchen wollte.
Mit einem erleichterten Seufzer betrat er die gewaltige Kaverne und machte sich sofort an den Akkus der Lampen zu schaffen. Einen Augenblick später erstrahlte die Höhle im Licht der starken Grubenlampen. Nachdem dies zu seiner Zufriedenheit erledigt war, näherte er sich zielstrebig dem Abschnitt, der am Vortag seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Auf dem Weg dorthin glitt sein Blick über die gut erhaltene Felsmalerei, die ihn immer wieder fasznierte. Die Zeichnungen waren so gut erhalten, als hätten die Künstler gerade erst Feierabend gemacht. Ein Großteil der Zeichnungen bildeten Tierfiguren ab, überwiegend Antilopen. Andere Wandabschnitte zeigten dörfliche Gemeinschaften oder einzelne, bizarre Abbildungen von Menschen, die einem Science-Fiction-Film entsprungen zu sein schienen. Michael konnte gut verstehen, dass der berühmte Afrikaforscher Henri Lhote bei der Entdeckung der ersten Zeichnungen dieser Art glaubte, er habe das Vermächtnis von Besuchern aus dem All entdeckt. Inzwischen wußte die Wissenschaft es natürlich besser. Allgemein ging man nun davon aus, dass dieses Volk, wie es noch heute einige Urvölker auf der ganzen Welt tun, ihre Körper mit zusätzlichen Attributen geschmückt hatten, deren zeichnerische Darstellung dann in schmeichelhafter Art übertrieben wurde. Doch trotz dieser nüchternen Erklärung war die Magie der Zeichnungen ungebrochen.
Einen Augenblick später erreichte Michael endlich den Abschnitt der Höhle, den sie erst vor zwei Tagen begonnen hatten zu katalogisieren. Aufgefallen war ihm eine seltsame Zeichnung, die eine kreisrunde Höhle mit einem strahlenden Licht in ihrer Mitte darstellte. Vor diesem Licht standen mehrere Männer, Frauen und sogar Kinder Schlange. Wenn Michael es richtig deutete, war das Kind am Anfang dieser Schlange im Begriff, in dieses Licht einzutauchen. Was hatte das zu bedeuten? Vielleicht war es ein Hinweis auf das Verschwinden dieses Volkes. Gleich neben dieser Zeichnung durchzog ein tiefer Spalt den Höhlenboden bis zur Decke. Die Seitenwände und der Boden des Spalts waren mit spitzen Felszacken gespickt, die das Erforschen zu einer Tortur machen würden und von dem Wagemutigen, der das versuchte, Nerven aus Stahl verlangten. Da eine erste Untersuchung mit starken Lampen keinen Hinweis auf weitere Zeichnungen gebracht hatte, hatten sie die Erforschung dieses Spalts erst einmal zurückgestellt. Als er jedoch diesmal an dem Spalt vorbeischritt, fiel ihm plötzlich etwas auf, das ihm bisher entgangen war. Irritiert blieb er stehen und starrte in die tiefe, schwarze Finsternis des Spalts. Kein Zweifel, er hatte sich nicht geirrt. Tief am anderen Ende pulsierte ein schwaches Licht. Michael spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Was hatte es damit auf sich? „Hallo, ist dort jemand“, rief er, erhielt aber keine Antwort. Was sollte er tun? Vernünftig wäre es abzuwarten, bis die anderen kommen, ging es ihm durch den Kopf. Aber das konnte noch dauern. Wer wußte schon, ob das Licht bis dahin nicht wieder erloschen war und die Kollegen ihm einen Höhlenkoller atestieren würden? Also traf Michael einen Entschluss. Er würde es auf eigene Faust versuchen. Als er dicht an den Spalt herantrat, sprürte er wieder das vertraute Gefühl in der Magengegend, das immer dann auftrat, wenn er sich in Gefahr begab.
Wird verdammt knapp werden, dachte er, als er sich für seine Tour rüstete. In seinem Leben war er schon in einigen Höhlen unterwegs gewesen und deshalb wußte er, wie schnell man in einem zu engen Spalt stecken bleiben konnte, insbesondere wenn er so aussah, wie dieser. Im Licht seiner Helmlampe erinnerte er mit seinen Zacken an ein riesiges Mahlwerk. Erneut zögerte Michael. Es ist einfach zu gefährlich, ging es ihm durch den Kopf. Aber dann viel sein Blick auf das weit entfernte, blasse, pulsierende Licht. Verdammt! Wahrscheinlich würde er sich bis ins hohe Alter grämen, wenn er dieser Sache jetzt nicht auf den Grund ging. Also gab er sich einen Ruck, atmete tief ein und quetschte sich vorsichtig seitwärts in den Spalt. Gefahr hin oder her, man mußte auch einmal etwas riskieren, wenn man Erfolg haben wollte. Mühsam quälte er sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts, immer das seltsame Licht im Auge behaltend.
Nachdem er auf diese Weise die ersten Meter überwunden hatte, war er nahe daran, aufzugeben. Die staubige, abgestandene Luft reizte seine Lungen, und sein Körper schmerzte inzwischen von den diversen spitzen Gesteinsbrocken, die sich mit gnadenloser Gründlichkeit in seine Kleidung gebohrt hatten. Selbst im Gesicht hatte er sich einige schmerzhafte Schnitte zugezogen und wie es aussah, wurde der Spalt sogar noch enger. Verdammt, das war gar nicht gut! Warum mußte er immer nur in solche Situationen geraten? Ächzend zog er den Bauch ein, um so ein wenig mehr Bewegungsfreiheit zu erlangen und mußte dabei unwillkürlich an seine geschiedene Frau Myriam denken, die seine Begeisterung für die Erforschung längst vergangener Zeiten nie geteilt hatte. Ein Mann mit einem Bürojob wäre ihr lieber gewesen. Doch damit hätte Michael sich nie anfreunden können. Schon als Jugendlicher hatte er für längst vergangene Welten geschwärmt, was ihm letztlich zu dem werden ließ, was er heute war, einem Forscher auf den Spuren der Vergangenheit, der mit dreißig Jahren immer noch durch staubige Höhlen kroch, anstatt im Maßanzug am Schreibtisch zu sitzen. Seufzend verdrängte er jede aufkeimende Selbstkritik und machte sich daran, auch noch die letzten Meter zu überwinden.
Wie er es erwartet hatte, übertraf die vor ihm liegende Wegstrecke seine schlimmsten Befürchtungen. Es dauerte daher eine ihm endlos erscheinende Weile, bis er endlich das Ende des Spaltes, der in eine rund vier Quadratmeter große, kreisförmige Höhle mündete, erreichte. Mit einem erleichterten Seufzen streckte Michael seine verspannten Glieder. Aber die Anstrengungen waren sofort vergessen, als er die Ursache für das seltsame Licht ausfindig machte. Erstaunt stellt er fest, dass es von einem Stein in ovaler Form in der Größe eines Hühnereis ausging, der auf einer Art Altar lag, der wiederum exakt in der Mitte der Höhle stand. Im Licht der Helmlampe entdeckte Michael, dass die Wände der Höhle mit weiteren Zeichnungen bemalt waren. Allerdings stellten diese andere Motive dar, als die in der Kaverne. Aber am faszinierensten war mit Abstand der seltsame Stein auf dem Altar. Um die Sache näher in Augenschein zu nehmen, ging er vor seinem seltsamen Fund in die Knie und zog automatisch eine seiner Bürsten aus dem Gürtel. Behutsam befreite er seinen Fund von einer feinen Staubschicht. Nun kam seine Schönheit vollständig zur Geltung, und das pulsierende Strahlen wurde noch eine Spur intensiver. Anerkennend pfiff Michael durch die Zähne. Was auch immer er da entdeckt hatte, es sah wertvoll aus. Der Stein schien trotz seiner goldenen Farbe durchsichtig zu sein und wirkte mehr wie ein Edelstein. Doch das Seltsamste war das pulsierende goldene Licht in seinem Inneren. Michael konnte sich dies Phänomen beim besten Willen nicht erklären. Aber das machte die Angelegenheit gerade interessant. Seltsame, nicht zu erklärende Dinge waren sicher wertvoll. Grinsend stellte er sich vor, was Myriam wohl sagen würde, wenn sie sein Bild auf diversen Titelseiten unter der Überschrift “Paläanthropologe macht Millionenfund. Geheimnis der Rundköpfe endlich aufgeklärt“ entdecken würde. Dann fiel ihm ein, dass dies nicht die einzige Entdeckung war, die er gemacht hatte. Aufgeregt erhob er sich und wandte sich nun den Zeichnungen zu, um sie einer gründlicheren Untersuchung zu unterziehen. Wie er bald bemerkte, stellten sie eine Erzählung dar. Die Geburt und den Untergang eines Volkes im ewigen Kreislauf des Lebens. Die Zeichnungen fesselten seine Aufmerksamkeit, insbesondere der Schluss der Geschichte. Wenn er die Zeichnungen richtig deutete, stand der Untergang oder das Verschwinden des Volkes in untrennbarem Zusammenhang mit diesem Stein. Aber wie war das möglich? Verwirrt ging Michael zurück zu seinem leuchtenden Fund und betrachtete ihn erneut. „Wie kannst du für den Untergang eines Volkes veranwortlich sein?“, fragte er sich nachdenklich selbst und erschrak, denn kaum waren seine Worte verklungen, wechselte das goldene Pulsieren plötzlich zu einem tiefen, kalten Dunkelblau. Möglicherweise hatte er es hier mit Kräften zu tun, die seine Vorstellungskraft sprengten, und er war auf dem besten Weg, sich eine Menge Ärger einzuhandeln. Wie aufs Stichwort gesellte sich zu dem leuchtenden Blau nun ein tiefer, vibrierender Ton, der aus der Tiefe der Erde selbst zu kommen schien. Beunruhigt trat Michael ein paar Schritte zurück, bereit die Flucht anzutreten, sollte sich eine ernst zu nehmende Gefahr abzeichnen. Zwar tat sich weder der Boden auf, um ihn zu verschlingen, noch drohte die Höhle einzustürzen, dafür erschien aber plötzlich unmittelbar vor dem Altar ein leuchtend blaues Rechteck in der Größe einer Tür. Die Oberfläche dieser seltsamen Erscheinung vibrierte leicht und vermittelte so den Eindruck, als sei der Inhalt dieser „Tür“ flüssig, was allen Naturgesetzen widersprach. Mit einem Kribbeln im Nacken stellte Michael fest, dass der Stein nun in der Mitte dieser Lichterscheinung schwebte. Dies war mit Abstand das Seltsamste, was Michael im Laufe seines Lebens zu sehen bekommen hatte. Nach einem Augenblick ungläubigen Staunens hatte er sich wieder soweit gefasst, dass er nun mit der Akribie des Forschers an die Angelegenheit herangehen konnte und die Angst verdrängte. Zunächst umkreiste er die seltsame Erscheinung, die eine Tiefe von gerade einmal zehn Zentimeter aufwies, um sie sorgfältig aus jeder denkbaren Perspektive zu betrachten. Leider brachte ihn das keinen Schritt weiter. Er stand hier vor einem Rätsel, für das er im Moment einfach keine Erklärung hatte. Um sich ein genaueres Bild zu machen, mußte er die seltsame Erscheinung gründlicher auf ihre Substanz hin untersuchen, sie anfassen, abklopfen und vermessen. Vielleicht würde ihn das weiterbringen. Allerdings war ihm zum ersten Mal in seinem Leben nicht ganz wohl bei der Vorstellung, diese unheimliche Erscheinung zu berühren. Sollte er wirklich weiter machen?
Nachdenklich betrachtete er die die blaue, leuchtende Oberfläche, die selbst der starke Lichtstrahl seiner Helmlampe nicht zu durchdringen vermochte. Schließlich seufzte er und gab sich innerlich einen Ruck. Schließlich konnte er ja hier nicht ewig stehen bleiben und darauf hoffen, dass sich das Rätsel von selbst löste. Also näherte er sich vorsichtig dem unheimlichen Licht. Der Angstschweiß perlte ihm auf der Stirn und sein Herz hämmerte gegen seine Brust als er zögernd die Hand ausstreckte und die leuchtende, vibrierende Oberfläche berührte. Zu seiner grenzlosen Erleichterung erhielt er jedoch keinen einen tödlichen Stromschlag. Stattdessen spürte er lediglich ein leichtes Prickeln auf der Haut.
Trotzdem zog er seine Hand vorsichtshalber wieder zurück. Immerhin könnte das Licht ja eine schädliche Strahlung aufweisen, die man nicht gleich bemerkte. Eine kurze Inspektion ergab jedoch, dass seine Hand unversehrt war. Mutig geworden versenkte er nun erst seine rechte Hand und dann seinen halben Arm in dem blauen Licht. Nichts geschah. Einer inneren Eingebung folgend, warf er einen Blick auf die Rückseite des leuchtenden Rechtecks. Den Gesetzen der Logik zufolge hätte er dort eigentlich seine Hand entdecken müssen, die auf die auf der rückwärtigen Seite die Oberfläche durchbrach. Aber das war nicht der Fall. Erschrocken zog Michael seinen Arm wieder zurück. Wie konnte das sein? Nachdenklich kratzte er sich das stoppelige Kinn, während er versuchte, hierfür eine Erklärung zu finden. Hatte er hier etwa den Übergang in eine andere Welt vor sich? War dies der Grund für das Verschwinden eines ganzen Volkes? Wo würde er landen, sollte er dieses Tor durchschreiten?
Michael war hin und her gerissen, während er unschlüssig vor dem Tor auf und ab wanderte. Die Entscheidung fiel ihm alles andere als leicht, aber schließlich siegte die Neugier. Was könnte schon passieren, wenn er nur einen Schritt tat, sich nur einmal kurz umsah? Schließlich hatte er den Arm ja auch problemlos wieder herausziehen können? Einen Augenblick zögerte er noch, dann gab er sich einen Ruck und trat durch die seltsame Türöffnung und bereute es sofort. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, erlosch im selben Augenblick, in dem er durch das Tor trat, das Licht, und für Michael verschwammen Zeit und Raum. Vielleicht sollte man auch als Paläanthropologen nicht zu neugierig sein war das letzte, was er dachte, bevor er das Bewußtsein verlor.
„Hilfe!“
Erschrocken öffnete Michael die Augen, nur um sie sofort wieder zu schließen, als ihn grelles Sonnenlicht blendete. Anscheinend hatte ein Rettungstrupp ihn befreit, und nun stach ihm die Mittagssonne in die Augen.
„Verschwinde, du Ausgeburt des Teufels!“
Das klang eindeutig nicht nach Rettungstrupp. Erneut öffnete Michael die Augen, um nach der Ursache des Hilferufs Ausschau zu halten. Doch der Hilferuf war vergessen, als er seiner Umgebung zum ersten Mal richtig gewahr wurde. Er lag mitten auf einer kleinen Lichtung, die von dichten Laubbäumen umgeben war. In der Ferne ragten ein paar gewaltige Berge auf, und irgendwo in der Nähe rauschte ein Bach. Das Szenario war zauberhaft und hätte ihn unter anderen Umständen sicherlich begeistert, wäre da nicht der Umstand gewesen, dass von der Höhle, in der er sich eben noch befunden hatte, weit und breit keine Spur zu entdecken war. Doch damit nicht genug. Die gesamte Umgebung hatte eindeutig keinerlei Ähnlichkeit mit der öden Gebirgsregion Nordafrikas, wo er zu seiner Höhlentour aufgebrochen war. Verwirrt rieb Michael sich die Augen, doch das half auch nicht weiter. Beunruhigt registrierte er, dass sein Gedächtnis eine Lücke aufwies. Er konnte sich nur noch erinnern, dass er in dieser Höhle irgendetwas entdeckt hatte, aber was? Und wie war er hierher gekommen? Unschlüssig erhob er sich und streckte die steifen Glieder. Mit Bedauern stellte er fest, dass er seinen guten alten Helm und ein Großteil seiner Bürsten eingebüßt hatte, jedenfalls konnte er sie nirgends entdecken. Stattdessen erspähte er einen Stein in der Form eines Hühnereis, der harmlos zu seinen Füßen lag, und plötzlich kam ihm die Erinnerung wieder. Offensichtlich hatte er tatsächlich den Weg in eine andere Welt oder möglicherweise in einen anderen Teil der Welt entdeckt. Das war faszinierend. Michael hob den Stein auf und betrachtete ihn kritisch. Das Pulsieren hatte aufgehört. Vielleicht war die Batterie leer. Michael schluckte, bedeutete das doch mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass er hier festsitzen würde, wo auch immer „hier“ war. Zum Grübeln blieb ihm jedoch keine Zeit, denn ein erneuter Schrei erinnerte ihn daran, dass es zunächst vordringlichere Fragen zu klären galt. Irgendjemand benötigte offenkundig ganz dringend Hilfe. Mit einem Seufzen verschob er die Gedanken an eine Rückkehr oder die Frage, wo er sich befand erst einmal auf später, verstaute den Stein in seiner Hosentasche und rannte in die Richtung, aus der er den Schrei vernommen hatte.
Dichtes Geäst peitschte ihm ins Gesicht, während er sich durch das Unterholz quälte, bis er plötzlich ohne Vorwarnung das Dickicht hinter sich ließ und mitten ins Geschehen stolperte. Der Wald wurde an dieser Stelle durch einen schlammigen Weg geteilt, auf dem sich gerade ein junges Mädchen gegen einen Hünen von Mann zur Wehr setzte.
„Hey, laß sie gefälligst in Ruhe“, rief Michael, der entschlossen den schlammigen Weg betrat. Mit einem Knurren fuhr der Angesprochene daraufhin herum und entlockte Michael ein entsetztes Keuchen. In dem kurzen Augenblick, in dem er den Angreifer von hinten gesehen hatte, war er davon ausgegangen, einen Mann vor sich zu haben, wenn auch einen kräftigen. Doch nun erkannte er seinen Irrtum, jedenfalls was die Einordnung der Gattung anbelangte. Eines stand fest, einen Menschen hatte eindeutig nicht vor sich, womit sich die Anzahl der Möglichkeiten, wo er gelandet war, eindeutig um die Position „irgendwo anders auf der Erde“ reduzierte. Einerseits war das zwar ganz interessant, zumal Michael als Paläanthropologe sich gerne einmal näher mit dem gewaltigen Schädel seines Gegenübers, der einen weit vorspringenden Unterkiefer besaß, aus dem zwei gut zehn Zentimeter lange, dolchspitze Zähne herausragten, beschäftigt hätte – allerdings erst ein paar tausend Jahre nach dessen Ableben – andererseits sah es vorläufig aber eher danach aus, als wenn die Kreatur sich demnächst um seinen Schädel kümmern würde. Jedenfalls ließ die Behendigkeit, mit der sein Gegenüber sein Schwert, das in einem breiten Ledergeflecht an der Seite seines ansonsten nahezu unbekleideten, schuppigen Körpers hing, zog und auf ihn zukam, Entsprechendes befürchten. Die Augen, in denen ein rotes Feuer zu glühen schien, bestätigten seine Vermutung. Für seine nächste Zukunft sah es alles andere als rosig aus. Michaels Gedanken rasten. Was sollte er tun? Einen Kampf gegen dieses Geschöpf schien aussichtslos, wenngleich ...... „Du bist fällig“, grollte die Bestie. Mit einem Pfeifen fuhr ihr Schwert auf Michael herunter. Der wartete bis zum letzten Augenblick. Dann drehte er sich blitzschnell seitwärts nach links, nutzte den Schwung seines Gegners aus, um ihn am Schwertarm zu greifen und nach vorne zu reißen, während er gleichzeitig seine eigene Drehung verwendete, um seinen Unterarm mit aller Kraft gegen das Ellenbogengelenk seines Gegners zu schlagen. Mit einem Schmerzensschrei ließ das Ungeheuer daraufhin das Schwert fallen. Sofort setzte Michael nach und trat seinem Angreifer zweimal in den Magen. Dann ließ er sein Bein hoch in der Luft kreisen, um ihm mit der Ferse mit vernichtender Wirkung gegen den Hinterkopf zu treten. Mit einem Grunzen ging der Angreifer zu Boden. Erstaunt blickte Michael auf den gefällten Unhold. „Das ging ja besser als erwartet“, murmelte er, während er sich im Stillen dazu beglückwünschte, dass er als Kind statt in den Schach- in den Karateclub eingetreten war. Eine weibliche Stimme ließ ihn herumfahren.
„Danke für die Rettung, aber jetzt müssen wir hier weg.“
„Warum, er ist erledigt. Sag mit lieber, was hier los ist?“, fragte er, während er die Gerettete näher in Augenschein nahm. Was er sah, gefiel ihm. Selbst in dieser Situation war ihre Schönheit nicht zu übersehen. Offensichtlich war ihr Michaels Blick nicht entgangen, denn eine Röte überzog plötzlich ihr Gesicht, während sie ihre beschmutzte, grüne eng anliegende Kleidung glattstrich. Irgendwie erinnerte sie Michael an eine weibliche Ausgabe von Robin Hood.
„Was hier los ist?“, erwiderte sie schließlich mit einer leichten Hysterie in der Stimme. „Du hast gerade einen Bolg getötet. Wenn seine Kameraden uns erwischen, sterben wir unter schlimmsten Qualen.“
„Der ist nur bewußtlos“, wiegelte Michael ab, während er dem Unhold zur Bestätigung kräftig in die Seite trat, was diesem ein Grunzen entlockte, „aber was zum Henker sind Bolgs und wo bin ich hier eigentlich gelandet? Vielleicht kannst du mir....“
„Still!“ Mit einer energischen Handbewegung brachte die Unbekannte ihn zum Schweigen. Aufmerksam musterte sie den Weg, der sich rechts und links von ihnen im dichten Wald verlor, während sie sich eine der langen, weißblonden Haarsträhnen hinter das Ohr schob. Erstaunt stellte Michael fest, dass dieses spitz und lang war. Das war faszinierend.
„Deine Ohren.......“
„..hören gerade etwas höchst Unerfreuliches. Wir bekommen Besuch“, unterbrach die Spitzohrige ihn radikal. Michael lauschte intensiv, konnte jedoch nichts hören. Nun ja, meine Ohren sind ja auch kleiner als ihre, dachte er. Die Spitzohrige hatte inzwischen einen Entschluss gefasst.
„Besser, wir verschwinden hier, solange noch Zeit ist.“ Dann drehte sie sich um, rannte ohne auf eine Antwort zu warten los und verschwand auf der gegenüberliegenden Seite im Wald.
Michael hingegen zögerte noch einen Augenblick. Sein Blick glitt zwischen dem gefällten Unhold und dem düsteren Weg hin und her. Er wußte nicht so recht, was er machen sollte. Dann konnte auch er plötzlich vernehmen, was die Unbekannte zur Flucht veranlasst hatte. Das donnernde, bedrohliche Stampfen von Hufen. Einer Menge Hufe. Vielleicht waren ja die Kollegen dieses Unholds im Anmarsch, überlegte Michael, der bezweifelte, dass sie über die Behandlung, die er ihrem Artgenossen hatte angedeihen lassen, besonders entzückt wären. Diese Möglichkeit gab den Ausschlag. „Ich wollte sie ohnehin noch etwas fragen“, murmelte Michael und sprintete der Spitzohrigen hinterher. Doch obwohl er ein guter Läufer war, dauerte es einen Augenblick, bis er sie eingeholt hatte, zumal seine Bergstiefel nicht gerade das beste Rüstzeug für einen Sprint waren.
„Wie heißt du eigentlich?“, brachte er keuchend hervor, während er ihr schnaufend im Höchsttempo hinterher rannte, offensichtlich einem Fluss entgegen, denn im Hintergrund war deutlich ein beständig lauter werdendes Rauschen zu vernehmen.
„Monjya“, kam es nach einem Augenblick zögernd zurück, „vom Stamm der Waldelben aus Nebelwald. Und wer bist du?“
„Michael, aus den Reihen der zu neugierigen Paläanthropologen“, erwiderte er zynisch, während er wohl zum hundertsten Mal überlegte, wo er bloß gelandet war. Das Ganze wurde immer abenteuerlicher. Vielleicht wachte er ja plötzlich auf und alles war nur ein Traum. Leider sah es danach vorläufig jedoch nicht aus. Dafür wirkte das Seitenstechen, das sich bei ihm unangenehm einstellte, zu real. Zum Glück rannten inzwischen einen abschüssigen Hang hinunter, was nicht ganz so anstrengend war. Am Ende des Abhangs gewahrte Michael den Fluss, den er die ganze Zeit über schon gehört hatte. Doch damit tat sich ein neues Problem auf. Selbst durch die dichte Ufervegetation konnte er erkennen, wie wild das Wasser schäumte und sich an diversen Felsbrocken brach. Die Möglichkeit, ihn zu durchqueren und ihre Verfolger abzuhängen, zerbarst wie die unzähligen Wassertröpfchen an den spitzen Felsen im Fluss.
„Wie willst du denn da hinüber kommen?“, fragte Michael nervös, dem der Magen in die Knie sank bei der Aussicht, sich in die reißenden Stromschnellen zu begeben. Ob mit oder ohne Boot, würde dabei wahrscheinlich auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen. Sie würden jämmerlich ertrinken. Doch Monjya gab keine Antwort, sondern wandte sich nach kurzem Zögern nach links und rannte nun im Höchsttempo am Uferrand entlang. Intuitiv warf Michael einen Blick zurück und wurde augenblicklich bleich. Unweit entfernt auf einer Anhöhe waren vier düstere Reiter erschienen, die nun den Abhang auf etwas hinunter preschten, das an eine Kreuzung zwischen einem Krokodil und einem Leguan erinnerte.
„Verdammt, sie haben uns gleich“, schrie er der vorauseilenden Monjya hinterher, die inzwischen eine Wiese in der Größe eines kleinen Fußballfeldes erreicht hatte und eine seltsam aussehende Flöte aus der Tasche zog. Als sie darauf blies, konnte Michael keinen Ton vernehmen. Er vermutete Ultraschall. Wie ihnen das helfen sollte, war ihm schleierhaft.
„Was soll das? Wir haben keine Zeit zu verlieren, die können jede Sekunde hier sein“, redete er hektisch auf die aufmerksam den Himmel beobachtende Elbin ein, als plötzlich für einen Augenblick ein Schatten die Sonne verdunkelte. Irritiert warf Michael einen Blick in den Himmel und erbleichte erneut. Über ihnen kreiste ein gigantisches Geschöpf, das Michael an die Zeichnungen von Flugsauriern erinnerte, und dieses Ungeheuer setzte nun zur Landung an. Womit hatte er das nur verdient? „Weg hier“, brüllte er und versuchte, Monjya fortzuziehen. Doch die widersetzte sich ihm.
„Bei Gelegenheit mußt du mir unbedingt einmal erzählen, wo du herkommst. Eigentlich weiß jeder, dass die Elben des Nebelwaldes Drachenreiter sind.“ Ein leicht überhebliches Grinsen erschien auf ihrem Gesicht als sie Michaels verdutztes Mienenspiel sah. Der wollte gerade eine passende Erwiderung anbringen, als Monjyas Grinsen schlagartig erlosch. Die Ursache hierfür war nicht zu übersehen. Am anderen Ende der Wiese waren ihre Verfolger erschienen. Ihrer Beute gewiss zügelten sie ihre Tiere und verteilten sich in lockerer Angriffsformation. Während sie in perfekter Choreografie ihre Schwerter zogen, sah sich Michael verzweifelt nach einem Ausweg um. Es gab keinen. Diesmal waren sie endgültig erledigt. Sie hatten einfach zu lange gezögert. Michael schluckte. Hätte er doch wenigstens das Schwert seines Angreifers mitgenommen. Doch stattdessen verfügte er nur über die verbliebenen Bürsten an seinem Gürtel, und die würden ihm kaum weiterhelfen. Nervös wandte er sich ihren Verfolgern zu, die ihren Reittieren, denen der Geifer aus den geöffneten, mit spitzen Zähnen versehenen Kiefern troff, in diesem Moment in die Seite traten und los stürmten. Wenn es ihm wenigstens gelingen würde, einen aus dem Sattel zu zerren und ihm die Waffe abzunehmen, hatten sie vielleicht eine kleine Chance. Wie er das allerdings anstellen sollte, wußte er nicht, und Zeit darüber nachzudenken, hatte er auch nicht, denn die Entfernung zwischen den ungleichen Gegnern verringerte sich rasant. Zu Michaels Überraschung hielt Monjya plötzlich einen Bogen in der Hand. Die Elbin schien immer wieder für eine Überraschung gut zu sein. Während Michael noch das Sirren der Bogensehne in den Ohren klang, hatte Monjya bereits zwei der Reiter aus dem Sattel geholt. Doch für einen weiteren Pfeil blieb keine Zeit, denn schon waren die verbliebenen Angreifer heran. Mit einem Hechtsprung zur Seite brachte sich die Elbin in Sicherheit. Michael hatte weniger Glück. Nur um Haaresbreite entging er einem tödlichen Schwerthieb als er versuchte, einen ihrer Angreifer aus dem Sattel zu zerren. Zum Glück trug der Schwung des Angriffs Michaels Gegner jedoch so schnell an ihm vorbei, dass dieser keinen weiteren Schwerthieb anbringen konnte.
Brutal rissen die Angreifer daraufhin ihre Tiere herum und sprengten erneut los. Diesmal nahmen sie ihre Opfer von zwei Seiten in die Zange. Ein Ausweichen war so schwierig, wenn nicht unmöglich. Während Michael hektisch nach einem Ausweg suchte und Monjya mit fliegenden Fingern einen Pfeil auf die Sehne legte, erklang plötzlich ein gewaltiges Rauschen, als der Drache über sie hinweg glitt und mit einem einzigen Flügelschlag einen der Angreifer von seinem Reittier beförderte. Michael jubelte begeistert. Den Drachen hatte er völlig vergessen. Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Zwar hatte das Reittier des zweiten Angreifers beim Anblick des angreifenden Drachens gescheut und ihnen so ein paar wertvolle Sekunden geschenkt, doch der Angreifer hatte sein Tier schnell wieder in der Gewalt und jagte nun erneut im Höchsttempo auf sie zu. Doch die paar Sekunden Verzögerung hatten Monjya genügt. Mit einem gezielten Schuß beförderte sie den Angreifer in eine bessere Welt. Das Reittier, nunmehr seines Herren beraubt und angesichts des Drachens, der über ihren Köpfen kreiste hochgradig nervös, flüchtete wie seine Vorgänger ins Unterholz.
Im selben Moment griff der gewaltige Drache den verbliebenen Gegner an, der sein Reittier gerade noch an der Flucht hatte hindern können und sich nun wieder auf dessen Rücken schwang. Doch das hätte er lieber bleiben lassen. Mit der Schnelligkeit und Präzision einer Viper pickte der Drache ihn so schnell aus dem Sattel, dass dieser noch nicht einmal dazu kam, einen Angstschrei auszustoßen. Dann war es vorbei. Während der Drache eine elegante Schleife flog, um auf der Wiese zu landen und dabei die Überreste des Bolg hinunter schlang, fragte sich Michael beim Anblick des ebenfalls ins Unterholz flüchtenden letzten Reittiers, ob er ihm nicht lieber folgen sollte. Immerhin sprach eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass ihr gefrässiger Helfer für ihn eine Gefahr darstellte. Doch für eine Flucht war es ohnehin zu spät, denn der Drache setzte gerade keine zehn Meter entfernt zur Landung an. Selbst auf diese Entfernung warf Michael der Luftdruck der gewaltigen Flügel beinahe um. Fasziniert, aber auch stark beunruhigt beobachtete er, wie der Drache die riesigen Flügel elegant zusammenfaltete und dann auf zwei massiven Beinen aufrecht gehend auf sie zu kam. Die roten Augen, mit denen er Michael fixierte, hatten etwas Hypnotisches. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass der Drache ihn gerade als Nachtisch auf die Speisekarte gesetzt hatte. Vielleicht hatte der Bolg ihn auf den Geschmack gebracht.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, beruhigte Monjya ihn, die offensichtlich seine Gedanken erriet. „Ich sage ihm, dass du ein Freund bist.“
„Prima Idee“, erwiderte Michael trocken, „sag ihm aber bitte auch, dass ich nicht schmecke und Sodbrennen verursache. Das kann nicht schaden.“
Grinsend wandte sich die Elbin daraufhin an den Drachen und sprach ihn in einer Sprache an, die Michael nicht verstand. Der Drache lauschte aufmerksam, legte den Kopf jedoch zweimal mißtrauisch auf die Seite, während er Michael auf eine Weise fixierte, die diesen blass werden ließ, doch wenigstens blieb er einstweilen stehen. Als Monjya Michael schließlich mitteilte, dass alles in Ordnung sei, atmete er erleichtert auf. „Er wird uns nach Nebelwald bringen“, informierte sie ihn, „es sei denn, du hast etwas Besseres vor.“
Nachdenklich betastete Michael den Stein in seiner Tasche, dann schüttelte er den Kopf. Wann hatte man schließlich als Paläanthropologe schon mal die Gelegenheit, auf einem echten Flugsaurier zu reiten? Auch wenn der vielleicht ein wenig hungrig war. „Auf nach Nebelwald“, sagte er, alle Bedenken ignorierend.
Der Flug ließ sich mit nichts vergleichen, was Michael jemals erlebt hatte. Zu Anfang war er noch überzeugt gewesen, dass ihn jeder Paläanthropologe auf der Welt um dieses Erlebnis beneiden würde, doch mittlerweile war er da nicht mehr ganz so sicher. Auf dem Rücken des Drachens war immerhin nur ein Sattel befestigt, so dass Michael kaum Halt hatte und mehr als ein halbes Dutzend mal beinahe hinunter gefallen wäre. Das trübte das Vergnügen ein wenig. Dankbar atmete er daher auf, als ihr Ziel endlich in Sicht kam. Auch ohne die erklärenden Worte Monjyas hätte Michael den Wald erkannt. So weit er blicken konnte, wurde er von einem dichten, an klebrige Watte erinnernden Nebel eingehüllt. Aus der Mitte ragte ein Berg mit einer abgeflachten Spitze auf, die der Drache nun ansteuerte.
Offenkundig wurden sie schon erwartet, denn nach der erstaunlich sanften Landung fand sich Michael kurze Zeit später im Waldpalast des Elbenkönigs wieder, dem Monjya in farbenfroher Schilderung ihre Geschichte erzählte. Michael erfuhr, dass sie als Späherin unterwegs gewesen und von dem Bolg überwältigt worden war, als ihr Drache auf der Jagd gewesen war. Als sie von dem mutigen Eingreifen Michaels berichtete, erntete der bewundernde Blicke. Schließlich kam sie zum Schluss ihres Berichtes, der weniger Begeisterung hervor rief.
„Dann wird es nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sie auch noch den Silberfluss überqueren und auf Nebelwald zu marschieren“, flüsterte der Elbenkönig schockiert.
„Ich fürchte ja. Sie erobern und unterdrücken eine Provinz nach der anderen“, erwiderte Monjya.
„Wer sind diese Bolg eigentlich?“, fragte Michael neugierig. Die Waldelben sahen ihn erstaunt an.
„Du weißt nicht, wer die Bolg sind?“, fragte der Waldelbenkönig irritiert. Michael schüttelte den Kopf. „Ich komme von weit her.“
„Scheint so“, kommentierte der Waldelbenkönig in leicht zynischem Tonfall. „Also schön, informiert ihn, immerhin hat er eine der unseren gerettet.“ Dann machte er eine auffordernde Handbewegung, worauf ein älterer Waldelb in einem braunen Umhang vortrat, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte.
„Wogar, unser Seher“, erläuterte Monjya, als sie den fragenden Blick Michaels registrierte.
„Nun“, hub Wogar an, „vor langer Zeit erschienen die Bolg eines Tages aus dem Nichts, wie durch Zauberei. Sie besetzen Urgas Ville, die alte Feste im Norden und traten von dort ihren Eroberungsfeldzug an. Nach und nach fielen die umliegenden Länder unter ihrer Gewaltherrschaft und wurden ausgebeutet. Viele haben sich tapfer gewehrt, doch keinem hat es etwas genützt. Ihre Feste ist uneinnehmbar und es gibt nur wenige, die jemals tief in sie eindrangen und wieder herauskamen, um darüber zu erzählen. Den spärlichen Berichten nach zu urteilen, beziehen die Bolg ihre Kräfte und ihren Nachschub über einen riesigen, magischen Obelisken, der von einem inneren Feuer gespeist wird und ihnen das Tor zu ihrer Welt offen hält. Dank dieses Zaubers verfügen sie über unbegrenzten Nachschub an Waffen und Kämpfern und bringen so Zerstörung und Plünderung über das Land. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auch Nebelwald unterjochen werden.“
„Und es gibt nichts, was man dagegen tun könnte?“, fragte Michael.
„Man müßte ihre Quelle zerstören, doch dafür bedarf es eines Gegengewichts, eines Schlüssels zu einer konträren Welt. Bringt man beide zusammen, würde die Wechselwirkung zur vollständigen Zerstörung beider Zauber und damit zur Vernichtung des Tors führen. Abgeschnitten von ihrem Nachschub, würden sich die Bolg dann nicht lange halten können. Das Feuer des Widerstands würde sich neu entzünden, und die Bolg sähen sich plötzlich einer Übermacht von Widersachern gegenüber, die sich bisher nur aufgrund der unbegrenzten Kampfreserven ihrer Feinde, diesen unterworfen haben.“ Wogar, dessen Stimme während seiner Erzählung beständig an Lautstärke und Dramatik gewonnen hatte, hob nun theatralisch die Hände, während er fortfuhr. „Der Legende nach, wird eines Tages ein Unbekannter aus einer anderen Welt erscheinen und diese Plage von uns nehmen, denn er wird den Stein der Vernichtung mit sich führen.“ Die Hände sanken wieder hinab und Wogar seufzte resigniert. „Doch vermutlich sind das nur Mythen, und wir sind verloren“, schloß er seinen Vortrag. Während im Saal bedrücktes Schweigen herrschte, betastete Michael nachdenklich den Stein in seiner Tasche, dann traf er eine Entscheidung.
„Nun“, sagte er bedächtig und nahm den Stein aus der Tasche, „in jeder Legende liegt bekanntlich ein kleines Stück Wahrheit.“ Dann drückte er dem verblüfften Wogar den Stein in die Hand, dessen Licht zum ersten Mal wieder für einen Moment schwach aufflackerte, als wüßte er, was man von ihm erwartete. „Sieht so aus, als gäbe es einen Job zu erledigen.“
„Und du bist dir wirklich sicher?“ Zweifelnd sah Monjya Michael aus ihren grünen, schräg stehenden Augen an. Die goldenen Funken darin tanzten im Licht der untergehenden Sonne, und Michael mußte sich eingestehen, dass seine Entscheidung im Wesentlichen darauf beruhte, dass er dieses zauberhafte Geschöpf beeindrucken wollte. Seit seiner Scheidung war er zum ersten Mal im Begriff, sich wieder richtig zu verlieben. Irgendetwas sagte ihm aber auch, dass es klüger wäre, das vorläufig noch nicht zu erwähnen.
„Klar bin ich das“, erwiderte er möglichst selbstsicher, obwohl ihm alles andere als wohl zumute war. Den Schilderungen der Waldelben nach zu urteilen, war er im Begriff, sich auf ein Himmelfahrtskommando ohne Rückfahrkarte zu begeben. Außerdem war noch nicht einmal sicher, ob der Stein wirklich die gewünschte Wirkung haben würde. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Während er sich zur Seite drehte, um den Sonnenuntergang zu bewundern, staunte er erneut, mit welcher Perfektion sich die Waldelben ihrer Umgebung angepasst hatten. Der Berg, auf dem sie gelandet waren, war hohl. Generationen von Elben hatten die natürlichen Höhlen zu einer perfekten Stadt ausgebaut. In regelmäßigen Stockwerken waren große Plattformen an der Außenseite befestigt worden, von denen sich ein phantastischer Ausblick auf die Umgebung bot. Auf einer dieser Plattformen hatten sie sich nun zurückgezogen, nachdem Michael so entschlossen seine Bereitschaft zum Kampf gegen die Widersacher angekündigt hatte. Die anschließende Diskussion war lang gewesen, doch schließlich hatten sie sich auf einen Plan geeinigt, der am ehesten Erfolg versprach. Leider hatte der Plan einen kleinen Haken, sollte er fehlschlagen, würde Michael keinen weiteren Sonnenuntergang mehr erleben.
„Ich habe dir doch erzählt, wie ich hier gelandet bin“ fuhr er fort. „Vielleicht aktiviert diese Energiequelle ja zugleich meinen Schlüssel und öffnet mir so das Tor zu meiner Welt.“
„Du hast doch gehört, was Wogar gesagt hat. Die Zauber werden sich gegenseitig zerstören.“
„Möglich, aber vielleicht gelingt es mir vorher, einen Weg zurück in meine Welt zu finden. Im Moment ist dieser Stein nämlich genauso nützlich wie die Grippe. Da kann ein wenig herum experimentieren nicht schaden. Oder hast du eine bessere Idee, wie ich zurück gelangen könnte?“
Monjya warf ihm einen undefinierbaren Blick zu.
„Warum willst du eigentlich unbedingt zurück? Gefällt es dir denn nicht bei uns?“, erwiderte sie und schnitt damit ein Thema an, das Michael lieber vermieden hätte. Doch Monjya hatte nicht die Absicht, das Thema wieder fallen zu lassen. Im Gegenteil. Entschlossen rückte sie ein wenig näher, so dass Michael zu schwitzen begann, obwohl die Temperatur angesichts der heran brechenden Nacht alles andere als warm war. Energisch bemühte er sich, nicht in ihre abgrundtiefen grünen Augen zu sehen. Womöglich hätte er sonst etwas von sich gegeben, das ihn in ernste Schwierigkeiten bringen könnte. Immerhin kannte er die Elbin gerade einmal ein paar Stunden und hatte keine Ahnung, wie eine Demonstration dessen, was ihm hier besonders gut gefiel, aufgefaßt werden würde. Vielleicht wurden in dieser seltsamen Welt aufdringliche Männer einfach an die Drachen verfüttert. Die Biester sahen verdächtig gut genährt aus. Vorsichtshalber entschloss er sich daher zu einer unverfänglichen Antwort.
„Es ist.....“, er zögerte, während er sich verlegen mit der Hand durchs Haar fuhr, „anders als in meiner Welt. Das ist schwer zu erklären.“ Hilflos zuckte er mit den Achseln. Monjya zog einen Schmollmund und sah ihn ein wenig enttäuscht an. Zu Michaels Überraschung hatte sie anscheinend eine andere Antwort erwartet. Doch nun war die Gelegenheit unwiderruflich vorbei. Monjya hatte sich wieder abgewandt und warf einen nachdenklichen Blick auf die Landschaft unter ihnen, die nun endgültig im Dunklen versank.
„Wie du meinst“, murmelte sie schließlich leise, „wir sehen uns morgen.“ Mit einem Nicken ließ sie Michael allein auf der Plattform zurück, der sich innerlich für seine Vorsicht verfluchte. Schließlich suchte auch er sein ihm zugewiesenes Schlafgemach auf und machte es sich so gut es ging auf der Strohmatratze bequem. „Auf was habe ich mich da bloß eingelassen“, murmelte er noch, dann übermannte ihn ein tiefer, traumloser Schlaf.
„Die Gegend ist wirklich das Letzte!“
Frustriert sah Michael sich um. Vor einer guten halben Stunde, noch während der Morgendämmerung, hatte der Drache Monjyas sie in einer schlammigen Lichtung inmitten eines Waldgebietes abgesetzt, nachdem die Elben ihn zuvor mitten in der Nacht aus dem Bett geworfen hatten. Michael hatte am Vorabend zwar in den Plan eingewilligt, sich von der unwegsamsten Seite her zu zweit an die Feste anzuschleichen, allerdings hatte er da auch noch nicht geahnt, wie unwegsam das Gelände wirklich sein würde. Nun befand er sich mitten in einem dichten Wald, den vermutlich noch nie ein Lebewesen betreten hatte, jedenfalls keines, das sich vorzugsweise auf einer Straße vorwärts zu bewegen pflegt. Fluchend durchtrennte er mit seinem Schwert eine weitere Liane und versuchte wenigstens eines der Schlammlöcher auszulassen, aus denen der Waldboden überwiegend zu bestehen schien. Zu allem Unglück bestand der Wald aus Bäumen, deren Stämme so dick waren, dass selbst fünf Männer kaum ausgereicht hätten, um einen einzigen Stamm zu umfassen. Ihr dichtes Blätterdach führte dazu, dass Michael und Monjya am Boden mehr oder weniger im Dunklen durch das unwegsame Gelände stolperten.
„Wenn du weiter so einen Lärm machst, können wir unsere Ankunft auch gleich mit Fackelbeleuchtung anmelden“, zischte die Elbin ungehalten.
„Dann könnte man hier unten wenigstens etwas erkennen“, gab Michael bissig zurück. Im Gegensatz zur Elbin, die sich mit einer natürlichen Anmut durch das unwegsame Gelände bewegte, erinnerte Michaels Vorwärtskommen eher an einen schlaftrunkenen Bären. Aber das berührte ihn nicht sonderlich. Höhlen waren eben eher sein Element, tröstete er sich. Beinahe wäre er in Monjya hinein gerannt, die stehen geblieben war und mit verschränkten Armen auf ihn wartete.
„Tut mir leid, wenn ich etwas ungehalten war, aber in diesem „Loch“ leben eine Menge höchst unerfreulicher Kreaturen, deren Aufmerksamkeit wir lieber nicht auf uns lenken sollten.“ Zu Michaels Unbehagen drückten ihre Augen echte Besorgnis aus.
„OK, ich habe es kapiert.“ Er nickte zustimmend, während er den dichten Wald ringsherum musterte. Hier hätte sich eine ganze Armee verstecken können, ohne dass er das bemerken würde. Kein ermutigender Gedanke. „Ich gebe mir mehr Mühe, aber ich bin kein Urwaldforscher, vergiß das nicht. Das hier ist neu für mich.“
Monjya lächelte zum ersten Mal wieder, was in Michael ein Gefühl erzeugte, als würde die Sonne hier unten aufgehen.
„Das ist unmöglich zu übersehen“, erwiderte sie mit einem Zwinkern in den Augen. Dann drehte sie sich abrupt um und setzte ihren Weg fort.
Michael folgte, nunmehr deutlich darum bemüht, weniger Lärm zu verursachen. Nachdem sie sich auf diese Weise eine kleine Ewigkeit durch das Dickicht gekämpft hatten, wurde es zum ersten Mal ein wenig heller. Erfreut stellte Michael fest, dass das Blätterdach nun an einigen Stellen durchbrochen war, da die Bäume nicht mehr ganz so dicht zusammenstanden. Das war doch wenigstens eine kleine Verbesserung.
„Wir machen hier eine kurze Rast. Es bringt nichts, wenn wir unser Ziel völlig verausgabt erreichen.“ Geschmeidig setzte sich Monjya am Fuße einer der Baumriesen auf die Erde und beförderte aus ihrer Gürteltasche ein steinhart aussehendes Brot zutage, das sie in zwei Teile brach. „Nimm schon, oder willst du, dass dein knurrender Magen uns verrät.“
„Später, erst einmal muß ich für kleine Abenteurer.“
„Geh nicht zu weit weg“, mahnte Monjya, doch Michael war bereits in dem dichten Gebüsch verschwunden.
Als er zurückkehrte stellte er erstaunt fest, dass Monjya eingeschlafen war. Leise näherte er sich ihr und betrachtete die Elbin mit einem Kribbeln im Bauch. Im Schlaf war nichts von ihrer kämpferischen Art zu erkennen. Die Gesichtszüge wirkten entspannt. Eine einzelne Haarsträhne, die sich aus ihren zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren gelöst hatte, bedeckte ihr Gesicht. Erneut stellte er fest, welche Gefühle er für dieses fremdartige Mädchen empfand. Und dabei kenne ich sie kaum, dachte er während er sich bückte, um ihr die Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. „Ich bin tatsächlich verliebt“, murmelte er leise. Im selben Moment schlug Monjya die Augen auf. Ein spitzbübischer Zug erschien auf ihrem Gesicht, während Michael knallrot anlief, als ihm bewußt wurde, dass die Elbin gar nicht geschlafen hatte.
„Schön das zu hören“, sagte sie, dann zog sie den völlig verblüfften Michael zu sich herunter und küßte ihn leidenschaftlich. Was dann folgte, übertraf Michaels kühnste Fantasien. Als sie schließlich erschöpft nebeneinander im Moos des immer feuchten Waldbodens lagen, war Michael seit langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig glücklich.
„Wir sollten öfter Rast machen“, bemerkte er mit sanfter Stimme, während er seine rechte Hand auf ihrer warmen Bauchdecke abwärts wandern ließ. Zu seiner Überraschung stieß Monjya sie jedoch zur Seite und sprang hektisch auf.
„Hörst du das auch?“, fragte sie. Zwischen ihren perfekt geschwungenen Augenbrauen waren zwei steile Falten erschienen. In Windeseile streifte sie ihre Kleidung über.
„Ich höre nichts“, sagte er verärgert, während er mit seiner Kleidung kämpfte, da er vermutete, dass die Elbin nur einen Vorwand gesucht hatte, um sich zurückzuziehen. Doch Monjya wirkte ernsthaft besorgt. In diesem Moment ertönte ein klagendes Winseln in der Ferne, bei dem es Michael kalt den Rücken hinunter lief. Ein Blick in Monjyas bestürztes Gesicht bestätigte ihm, dass sie genauso empfand.
„Das ist ein Pirscher“, erklärte sie mit besorgter Stimme.
„Ist das ein Problem?“
Monjya nickte. „Jedenfalls dann, wenn er hinter uns her ist. Einem Pirscher kann man nicht entkommen. Er ist ein gnadenloser Jäger, und es gibt wohl abgesehen von den Drachen nichts, was nicht auf seiner Speisekarte steht. Setzt er sich einmal auf deine Fährte, wirst du ihn nie wieder los. Er hört erst auf, wenn er dich erledigt hat. Wir sollten vorsichtshalber das Tempo verdoppeln. Je mehr Distanz zwischen uns und ihm liegt, um so größer sind unsere Überlebenschancen.“
Michael stöhnte. „Na schön, heben wir uns die nächste Rast eben für den Rückweg auf.“ Falls es einen Rückweg gibt, fügte er in Gedanken hinzu.
Die nächsten Stunden verlangten Michael das Letzte ab. Mehr als einmal wunderte er sich über die anscheinend unerschöpfliche Energie der Elbin. Unbeirrt rannte sie im Höchsttempo durch den Wald. Gelegentlich erklang noch immer das unheimliche Heulen in der Ferne, doch Michael vermochte nicht einzuschätzen, ob es näher gekommen war. Als Monjya am frühen Abend schließlich anhielt, fiel Michael wie ein Toter auf den weichen Waldboden. Selbst der Pirscher war ihm jetzt egal. Wie durch einen Nebel drangen die Worte der Elbin in sein Bewußtsein.
„Stell dich nicht so an, jetzt fangen die Schwierigkeiten erst an.“
Das weckte neue Adrenalinreserven in ihm. Mühsam setzte er sich auf und registrierte erstmals, dass sie das Ende des Waldes nahezu erreicht hatten. Weiter vorn begann eine trostlos wirkende schwarze Ebene. Als er den Kopf weiter hob, stöhnte er entsetzt auf, als er ihr Ziel erblickte. Selbst auf diese Entfernung wirkte die Feste bedrohlich. Tiefschwarz thronte sie auf einem von steilen Flanken umgebenen Berg und überragte so die gesamte Ebene. Wie sie dort unbemerkt hinein und wieder herauskommen sollten, lag jenseits seiner Vorstellungskraft.
„Wir warten, bis es dunkel wird“, erklärte Monjya, als hätte sie Michaels Gedanken erraten. „Die Dämmerung steht unmittelbar bevor.“
Michael stöhnte. Er konnte die Entfernung schwer schätzen, war sich aber sicher, dass sie etliche Meilen betrug, doch Zeit zum Ausruhen blieb kaum, denn schon verblasste die Sonne am Horizont. Michael machte sich gerade zum Weitermarsch bereit, als hinter ihnen ein tiefes Knurren ertönte. Anscheinend hatte der Pirscher sie eingeholt. Langsam, mit fast schon majestätisch wirkenden Schritten trat er aus dem Dickicht. Mit einem Sirren zog Monjya ihr Schwert und wandte sich der Bedrohung zu. Michael tat es ihr gleich, während er den Pirscher taxierte. Der Anblick war furchteinflößend. Er erinnerte Michael vom Körperbau und der Geschmeidigkeit an einen besonders kräftigen sibirischen Tiger, nur dass dieser hier über ein Gebiß verfügte, bei dem jeder Tiger vor Neid erblasst wäre. Das struppige, schwarze Fell und die roten Augen ließen ihn noch bedrohlicher erscheinen. Dieses Tier schien nur zu einem Zweck geboren worden zu sein, zum töten.
„Jetzt wäre es an der Zeit für einen guten Plan“, bemerkte Michael mit zitternder Stimme, während der Pirscher sie langsam in immer enger werdenden Kreisen umschlich.
„In so einem Fall wird improvisiert“, erwiderte Monjya, die den Pirscher nicht aus den Augen ließ, das Schwert zum Zuschlagen hoch erhoben.
„Warum greift er nicht an?“
„Er versucht herauszufinden, wer von uns beiden für ihn die größere Gefahr darstellt. Den wird er zuerst angreifen." Tatsächlich schien der Pirscher zu einem Entschluss gelangt zu sein. Mit einem gewaltigen Satz griff er Monjya an. Die sprang behende zur Seite und schlug mit dem Schwert nach dem rechten Bein des Pirschers, doch der war trotzdem noch zu flink für sie, so dass das Schwert das Bein nur streifte und ihm keine ernsthafte Verletzung zufügte. Trotzdem fauchte der Pirscher zornig auf und fegte die Elbin mit einem kräftigen Schlag seiner unverletzten Pranke von den Füßen, worauf diese sich mehrmals überschlug, bevor sie benommen liegen blieb. Michael, der wie erstarrt den blitzschnellen Schlagabtausch beobachtet hatte, registrierte, dass sich die Muskeln der gewaltigen Raubkatze spannten. Ihre Augen fixierten die Elbin mit einem tückischen Blinzeln. Offensichtlich beabsichtigte der Pirscher, ihr den Rest zu geben. Das konnte Michael nicht zulassen. Mit lautem Geschrei, das Schwert wild vor sich her schwenkend, stürmte er auf die Raubkatze los. Verdutzt, von dem ungewöhnlichen Angriff, zögerte der Pirscher einen Augenblick, was Michael die Gelegenheit gab, einen Schlag anzubringen. Mit einem sirrenden Geräusch trennte er das linke Ohr des Pirschers sauber von seinem Schädel. Der sprang mit einem wütenden Gebrüll rasch aus der Reichweite des wild um sich schlagenden Menschen.
„Monjya, steh auf, ich kann das Biest nicht alleine besiegen“, brüllte Michael aus Leibeskräften. Sein Blick irrte zwischen der benommenen Elbin und der Bestie, deren Kopfverletzung heftig blutete, nervös hin und her. Zu seiner Beruhigung rappelte sich die Elbin wieder auf und kam kampfbereit an seine Seite.
„Geben wir ihm den Rest“, knurrte sie. Leider schien der Pirscher die gleichen Gedanken zu haben, denn erneut griff er mit ungestümer Wut an. Wie eine Katze mit den Pranken schlagend, versuchte er, sie von den Füßen zu bekommen. Doch diesmal war Monjya flinker und brachte ihm eine schmerzende Verletzung an der rechten Pranke bei. Auch Michael hatte sein Glück versucht, jedoch dabei beinahe sein Schwert eingebüßt. Zum Schwertkämpfer taugte er allem Anschein nicht. Inzwischen schien der Pirscher unschlüssig. Eine sich derart heftig wehrende Beute war er nicht gewöhnt. Als sich dann auch noch plötzlich ein Wurfmesser tief in seine Brust bohrte und ein zweites sein linkes Auge nur knapp verfehlte, brach er den Angriff ab. Mit einem wütenden Geheul verschwand er im Gebüsch.
„Den wären wir los.“
„Nur für den Moment. Er wird wiederkommen. Die Verletzungen sind nicht tödlich. Ein Pirscher gibt nicht auf. Bis dahin müssen wir hier verschwunden sein. Noch einmal werden wir nicht soviel Glück haben.“ Energisch wischte Monjya ihr blutiges Schwert im feuchten Gras ab und machte sich bereit zum Aufbruch. Michael seufzte. „Warum werde ich bloß das Gefühl nicht los, die Büchse der Pandorra geöffnet zu haben“, murmelte er ironisch, während er Monjya auf die inzwischen mondbeschienene Ebene folgte.
Zu seiner Erleichterung erwies sich der Marsch jedoch als weniger anstrengend, als vermutet, und der Pirscher tauchte auch nicht wieder auf. Vielleicht mochte er keine freien Ebenen. Monjya hingegen schien in ihrem Element. Geschickt die Deckung vereinzelter, abgestorbener Bäume und der diversen Felsbrocken, die wie Murmeln verstreut über der Ebene lagen, ausnutzend, führte die Elbin sie unbemerkt zum Fuß des Berges. Als Michael den Kopf in den Nacken legte, konnte er weit oben die Wehrmauern gegen den dunklen Nachthimmel ausmachen. Wie ein Feind ragte die Feste vor ihnen auf, düster und bedrohlich. Michael sank der Mut, als er sich überlegte, was ihn in diesem finsteren Gemäuer erwarten würde, ganz abgesehen von der Frage, wie sie diese schwindelerregende Höhe überwinden sollte. Monjya hatte ihm erklärt, dass sie über einen Abwasserschacht eindringen würden. Infiltriere deinen Feind von innen, dort erwartet er dich am wenigstens, das wird ein Kinderspiel, hatte sie ihm grinsend erläutert. Doch wie so oft, lagen Theorie und Praxis wieder einmal weit auseinander. Mittlerweile hatten sie beinahe den halben Berg umkreist, doch von dem Schacht war weit und breit keine Spur zu entdecken.
„Der Eingang muß doch irgendwo hier unten sein“, murmelte Monjya gereizt. Allmählich gerieten sie in Zeitverzug. Bei Sonnenaufgang würden die Drachenreiter angreifen, und bis dahin müßten sie den magischen Zugang zerstört haben. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Plötzlich blieb die Elbin stehen.
„Es wurde auch langsam Zeit“, seufzte sie und wies auf eine Ansammlung dichter Büsche, die sich eng an die Felswand schmiegten. Es war das erste Zeichen von Leben auf dieser ansonsten toten Ebene. Michael runzelte die Stirn.
„Wieso ausgerechnet da?“
„Weil Pflanzen Wasser brauchen“, erwiderte Monjya, die bereits das Buschwerk mit ihrem Schwert bearbeitete. Tatsächlich verbarg sich hinter dem Gewirr eine düstere Öffnung, die tief in den Berg hinein führte. Ein kleines, stinkendes Rinnsal machte deutlich, dass der Schacht immer noch in Betrieb war. Michael rümpfte die Nase.
„Ist das wirklich die einzige Möglichkeit?“
Monjya drehte sich um und legte den Finger an die Unterlippe, während sie so tat, als würde sie ernsthaft nachdenken. Schließlich wies sie mit dem ausgestreckten Arm die steile Felswand hinauf.
„Wir könnten hier hinauf klettern“, bemerkte sie, während sie darum kämpfte, angesichts Michaels entsetztem Gesichtsausdruck nicht laut loszulachen.
„Danke nein, außerdem bin ich Höhlen gewohnt“, erwiderte er zynisch.
„Wie du willst“, antwortete die Elbin grinsend und verschwand in dem feuchten Tunnel.
Michael folgte verärgert, zumal er vermutete, gerade auf den Arm genommen worden zu sein. Seine Laune hob sich auch nicht, als er feststellte, dass sich der Tunnel als genauso unangenehm erwies, wie er es erwartet hatte. Er war schlüpfrig, stank zum Himmel und war so dunkel, dass sie bereits nach wenigen Metern die Hand nicht mehr vor Augen sehen konnten. Sie hatten ernsthafte Probleme, auf dem schlüpfrigen Untergrund nicht den Halt zu verlieren. Zum ersten Mal vermisste Michael seinen Helm. Der Umstand, dass gelegentlich irgendetwas in der Dunkelheit vor ihnen mit trippelnden Schritten davon huschte, machte das Ganze auch nicht angenehmer. Mit der rechten Hand an der feuchten Wand tastete sich Michael weiter voran und hoffte, dass die Ratten hier unten genauso schreckhaft waren, wie bei ihm zu Hause. Der Gedanke, von einer Horde Ratten hier in der Dunkelheit angefallen zu werden, hatte etwas ungemein Beunruhigendes. Nachdem sie sich auf diese Weise gute zwanzig Meter durch den dunklen, stark ansteigenden Tunnel vorwärts getastet hatten, machten sie weiter voraus ein blasses Licht aus.
„Was mag das sein?“, fragte Michael, der mit zusammengekniffenen Augen versuchte zu erkennen, ob ihnen voraus eine Gefahr drohte. Doch dort war nichts. Nur der finstere Gang, der nunmehr schwach beleuchtet wurde.
„Vermutlich Leuchtmoos“, erklärte Monjya. „Es ist harmlos“, fügte sie hinzu. Zögernd folgte Michael ihr, wobei er das bleiche, unheimliche Licht am Ende des Ganges nicht aus den Augen ließ. Das Ganze nahm seiner Meinung nach inzwischen surreale Züge an. Er wagte nicht darüber nachzudenken, was seine Freunde machen würden, wenn er ihnen eines Tages von diesem Erlebnis erzählen würde. Vermutlich ein ruhiges Zimmer mit gepolsterten Wänden für ihn aussuchen, ging es ihm zynisch durch den Kopf, während er weiter durch den feuchten Gang schlich. Er hoffte nur, dass Monjya wußte, was sie tat.
Schließlich erreichten sie unbehelligt das Ende des Ganges, der an einer Wand endete und dort in einen senkrecht nach oben führenden Schacht überging. Zumindest waren sie bisher unentdeckt geblieben, und das war schon mehr als Michael zu hoffen gewagt hatte. Nachdenklich legte er den Kopf in den Nacken und betrachtete ihr nächstes Ziel. Von oben drang das geisterhafte Licht herab, das ihn irritiert hatte. Michael vermochte nicht zu schätzen, wie weit der Schacht, der im Durchmesser weniger als einen Meter betrug, hinaufreichte. Auf jeden Fall weit genug, um sich das Genick zu brechen, sollte man das Pech haben, unterwegs abzurutschen. Soviel war klar! Aus seiner Sicht erschien es unmöglich, ohne Hilfsmittel diesen steilen Schacht zu überwinden.
„Endstation, da kommen wir nie rauf“, bemerkte er resigniert.
„Abwarten.“ Mit einem Sprung erreichte Monjya einen kleinen Felsvorsprung und klammerte sich daran fest. Wie eine Spinne zog sie sich weiter hinauf, bis sie ganz im Schacht verschwunden war. Dann verlagerte sie ihre Position so, dass sie sich mit den Füßen von der Wand abstützte und ihren Rücken gegen die gegenüberliegenden Wand presste. Auf diese Weise schob sie sich weiter den Schacht hinauf.
„Worauf wartest du noch, das ist der reinste Spaziergang“, erklang leise ihre Stimme. Michael fluchte, dann versuchte auch er sein Glück, doch im Gegensatz zu der Elbin brauchte er etliche Anläufe, bis auch ihm es endlich gelang, sich den schlüpfrigen Schacht hinauf zu schieben. Als er den Kopf hob und hoch über ihm Monjya erblickte, die sich stetig weiter hinauf arbeitete, wurde ihm ganz anders zumute. Wenn sie abrutschen sollte, wäre es um sie beide geschehen. Tief durchatmend, die Furcht ignorierend, machte er sich an den Aufstieg.
Eine Flugstunde entfernt beobachtete Wogar zur selben Zeit einen Aufstieg ganz anderer Art. Fast synchron erhoben sich einhundert Drachenreiter majestätisch auf ihren Tieren in den Nachthimmel. Das Schlagen der kraftvollen Drachenflügel, die den klaren Sternenhimmel verdunkelten, klang wie fernes Donnergrollen und ließ Wogar schaudern, der sich nicht erinnern konnte, jemals einen beeindruckenderen Anblick erlebt zu haben. Er war sicher, dass die Augen sämtlicher Bewohner des Nebelwaldes dem Aufstieg der Drachenreiter in diesem Moment ehrfurchtsvoll folgten. Nun war es unwiderruflich soweit, der Krieg gegen die Bolg hatte begonnen.
„Ich bin fertig. Laß mich hier sterben.“ Erschöpft sank Michael zu Boden. Auf den letzten Metern hatte er nicht mehr geglaubt, dass er es bis nach oben schaffen würde. Mit bebenden Fingern massierte er seine schmerzenden Beinmuskeln und versuchte seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dabei sah er sich gründlich um. Der Schacht ging hier oben in einen weiteren Gang über, in dem Monjya bereits unruhig auf und ab schritt. Das Ende des Ganges, deren Wände tatsächlich mit einer Art leuchtendem Moos überzogen waren, konnte er nicht erkennen, da dieser bereits nach wenigen Metern eine scharfe Biegung machte.
„Wir können uns keine weitere Verzögerung leisten. Der Angriff der Drachenreiter wird bei Morgengrauen beginnen, und das ist nicht mehr allzu lange hin. Wenn er erst einmal begonnen hat, kommen wir nie mehr an den Obelisken heran. Also erheb dich endlich“, redete die Elbin leise und eindringlich auf Michael ein. Der erhob sich widerwillig.
„Eine gute Reiseleiterin würdest du nicht abgeben“, murrte er und folgte widerwillig Monjya, die bereits vorsichtig aber entschlossen den Gang entlang schlich. „Ist doch nicht meine Schuld, dass du solange gebraucht hast, um den Eingang zu finden“, knurrte er, während er sich beeilte, die Elbin einzuholen, die nur ein Schemen vor ihm in dem fahlen Licht war.
Als er aufgeschlossen hatte, stellte er fest, dass sich die Struktur der Gangwände inzwischen geändert hatte. Der nur grob behauene Fels war gemauerten Wänden gewichen. Anscheinend war es ihnen tatsächlich gelungen, in die Festung einzudringen. Allerdings war Michael sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte. Immerhin sprach eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit dafür, dass dies seine letzte Besichtigungstour werden könnte, was sogleich bestätigt wurde, als Monjya sich umdrehte und demonstrativ einen Finger an ihre Lippen legte. „Ab jetzt wird es gefährlich. Also mach bloß keinen Lärm“, flüsterte sie warnend. Michael nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, obwohl er sich insgeheim über ihre Bevormundung ärgerte. Was befürchtete sie eigentlich, das er hier machen würde? Lautstark nach dem Weg fragen oder fröhlich pfeifen? Während er noch vor sich hin schmollte, stellte er zu seiner Überraschung plötzlich fest, dass es in seiner rechten Hosentasche warm wurde. Als er die Ursache hierfür zutage förderte, pfiff er anerkennend durch die Zähne, was ihm sogleich einen Rüffel von Monjya eintrug.
„Machst du das eigentlich mit Absicht?“, flüsterte sie wütend, worauf ihr Michael schweigend seinen Stein hinhielt. Seit er auf dieser Welt gelandet war, pulsierte er zum ersten Mal wieder kontinuierlich, wenn auch nur schwach. Michael bezweifelte, dass er schon über genug Energie verfügte, um das Tor zu öffnen. Aber das konnte sich ja ändern. Zumindest hatte sich Monjya bei dem Anblick wieder beruhigt.
„Na schön, sieht so aus, als wären wir auf dem richtigen Weg. Aber jetzt zügele bitte deine Begeisterungsrufe und steck das wieder ein, sonst verrät uns das Blinken noch“, befahl sie in energischem Flüsterton. Michael nickte und verstaute den Stein wieder sorgfältig in seiner Tasche. Neue Hoffnung hatte ihn durchflutet. Noch hatte sich das Tor zu seiner Welt nicht aufgetan, aber das Blinken des Steins war zumindest ein vielversprechender Anfang. Anscheinend war es doch keine so schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen, dachte er mit neuer Zuversicht. Dann machten sie sich wieder auf den Weg.
Zu ihrer Enttäuschung endete der Gang jedoch nach einer Weile an einer schweren Holztür, die den Eindruck erweckte, als würde ihr selbst eine Ladung TNT nichts anhaben können. Fugenlos schloss sie den Gang ab. Weder ein Handgriff, noch ein Türschloss war zu erkennen. Der Grund hierfür war offensichtlich.
„Da hat sich ja einer richtig Mühe gegeben, um unliebsame Besucher fernzuhalten“, unkte Michael, der versuchte, das Gewicht dieser massiven Tür zu schätzen. „Und, bekommst du sie auf?“, wandte er sich an Monjya, die sich energisch gegen die Tür stemmte, doch die gab keinen Millimeter nach. Frustriert stellte die Elbin ihr Bemühen ein und schüttelte resigniert ihren Kopf.
„Unmöglich“, seufzte sie, „jetzt haben wir ein ernsthaftes Problem.“
„Mission impossible“, stimmte Michael ihr zu. In diesem Moment erklang ein kratzendes Geräusch. Irgendjemand machte sich auf der anderen Seite der Tür zu schaffen.
„Sieht so aus, als bekämen wir Besuch“, flüsterte Michael erschrocken.
„Dann wollen wir ihm einen netten Empfang bereiten“, erwiderte die Elbin, deren Augen im fahlen Licht entschlossen blitzten. Leise zogen sie sich tiefer in den Gang zurück.
Auf der anderen Seite der Tür plagten sich inzwischen ein ausgemergelter, in Lumpen gehüllter alter Mann und eine nicht minder schlecht bekleidete junge Frau mit einem schweren Riegel ab, bewacht von einem finster dreinblickenden Bolg, der mit dem Griff seiner Peitsche spielte. Die entzündeten Striemen auf der teilweise entblößten Schulter der Frau dokumentierten, dass es ihm offenbar Spaß machte, die Peitsche zu gebrauchen. Der alte Mann stöhnte vor Anstrengung. „Warum machen wir das noch mit. Er wird uns doch früher oder später sowieso umbringen“, flüsterte er der Frau zu, doch die ließ sich nicht entmutigen.
„Wo noch Leben ist, ist Hoffnung, Vater“, erwiderte sie grimmig. Der Alte lachte humorlos.
„Wir sind die letzten Überlebenden in dieser elenden Festung. Wo ist da die Hoffnung?“
„Hört auf zu quatschen und arbeitet lieber, oder wollt ihr Hiebe schmecken?“, fuhr der Bolg dazwischen, obwohl er genau wußte, dass die Gefangenen noch für Experimente am Tor benötigt wurden, und er wollte sich auf keinen Fall den Zorn des Meisters zuziehen, indem er seine Versuchskaninchen tötete. Dieses Privileg stand nur dem Meister zu. Auf der anderen Seite hatte man ihm nicht direkt verboten, sie zu mißhandeln. Auch ausgepeitschte Gefangene konnte man schließlich noch für Experimente gebrauchen. Befriedigt stellte er fest, dass die Gefangenen offenbar ähnliche Gedanken hatten, denn beim Anblick der neun glänzenden, geflochtenen Lederriemen, die mit Knoten und metallenen Nägeln bestückt war, schauderten sie wie unter einem eiskalten Winterwind und beeilten sich, den schweren Riegel zur Seite zu schieben. Schließlich schwang die schwere Tür lautlos auf gut geölten Angeln auf, worauf der alte Mann zu einem schweren Bottich mit einer übelriechenden Brühe hinüber schlurfte, den sie über der Grube entleeren sollten. Die junge Frau hingegen blieb überrascht stehen. Wenn sie ihre guten Augen nicht getäuscht hatten, hatte sich weit hinten etwas bewegt. Doch sie kam nicht dazu, ihre Entdeckung näher in Augenschein zu fassen. Ein plötzlich heftig brennender Schmerz auf ihrem Rücken ließ sie aufschreien und in die Knie gehen.
„Hier wird sich nicht ausgeruht“, herrschte der Bolg sie an und rollte die Schnüre seiner Peitsche wieder auf. „Sieh zu, dass du an die Arbeit kommst. Ich habe keine Lust, hier meinen ganzen Abend zu verbringen. Da gibt es angenehmere Beschäftigungen.“ Ein anzügliches Grinsen glitt über sein Gesicht. Angewidert und mit vor Schmerz verzehrten Gesichtszügen schleppte sich die junge Frau zu dem Bottich hinüber. Auf Nicken ihres Vaters hin hoben sie ihn zugleich hoch und trugen die schwere Last in den finsteren Gang hinein. Der Bolg nahm eine Fackel aus einer Wandhalterung und folgte ihnen. Doch nach zehn Metern blieb er plötzlich mißtrauisch stehen. Er spürte, dass diesmal irgendetwas nicht stimmte, ohne dass er den Finger hätte drauflegen können. „Stehenbleiben“, herrschte er seine Gefangenen an, während er die Peitsche gegen das Schwert eintauschte. Dann trat er rasch zwei Schritte vor, zog die junge Frau zu sich heran, riss sie an der Schulter herum und legte seinen Arm um ihren Hals. Derart mit einem lebenden Schild ausgerüstet, drang er an dem zitternden Alten vorbei tiefer in den Gang vor. „Du wartest“, knurrte er im Vorbeigehen.
Zu seinem Bedauern hatte er die Fackel zurücklassen müssen, da seine Hände für die Gefangene und sein Schwert benötigte. Schnell blieb der helle Schein der Fackel hinter ihnen zurück, und er bewegte sich nun vorsichtig in dem fahlen Licht, das nur wenig erkennen ließ, vorwärts. Irgendetwas war hier, davon war er überzeugt. Bisher hatten ihn seine Sinne, die in seiner langen Karriere als Krieger übernatürlich geschärft worden waren, noch nie getäuscht. Doch zu seinem Pech waren die Augen seiner Gefangenen noch eine Spur besser, und so entdeckte sie die Elbin, die mit gespannten Bogen ein Stück weiter den Gang hinunter lauerte, einen Bruchteil bevor ihr Peiniger sie erspähte. Ohne zu zögern rammte sie daraufhin ihrem Kerkermeister die Ferse mit aller Kraft auf den Fußspann, worauf diese vor Schmerz keuchte und den Griff um ihren Hals für einen Moment lockerte. Sofort ließ seine Gefangene sich fallen und brüllte zugleich „Jetzt.“ Doch Monjya hatte die Chance bereits erkannt und die Sehne losgelassen. Mit einem dumpfen Geräusch drang der Pfeil in den Schädel des Bolg ein und katapultierte diesen förmlich in den Gang zurück. Sofort hasteten Monjya und Michael zu ihnen hinüber. Doch die Sorge war unbegründet. Eine kurzer Blick bestätigte, dass von dem Bolg definitiv keine Gefahr mehr drohte. Inzwischen stand die junge Frau wieder auf ihren Füßen und musterte ihre Retter ungläubig.
„Wer seid Ihr?“, fragte sie verwirrt und ein wenig ängstlich.
„Wir sind hier, um dieser Brut ein Ende zu bereiten“, sagte Monjya grimmig.
„Ist alles in Ordnung?“, erklang die besorgte Stimme des Alten, der mit der Fackel in der Hand vorsichtig näher kam. Als er den toten Bolg am Boden entdeckte, zog er erschrocken die Luft ein.
„Wenn sie uns erwischen, werden sie uns unter schlimmsten Qualen dafür bestrafen“, flüsterte er besorgt.
„Das werden sie nicht, weil Ihr von hier verschwinden werdet“, beruhigte Michael ihn.
„Und wie?“, fragte die junge Frau, die unter ihrem ganzen Schmutz über ein einnehmend hübsches Gesicht verfügte, wie Michael interessiert feststellte. Anscheinend war es ihm beschieden, auf dieser Welt hübsche Frauen zu retten.
„Ihr müßt durch den Abwasserschacht fliehen. Rettet Euch in den Wald, aber gebt acht, dort ist ein Pirscher unterwegs“, erläuterte Monjya.
„Aber den Schacht kommt er nie hinunter“, sagte die junge Frau mit besorgter Stimme, wobei sie auf ihren Vater wies. Doch der straffte die Schultern. Die unerwartete Aussicht einer Flucht hatte ihm neuen Mut und Kraft gegeben.
„Das schaffe ich“, erklärte er mit fester Stimme. „Aber was gedenkt Ihr hier zu tun?“
„Wir haben keine Zeit für Erklärungen. Sag uns lieber, wo sich der Sternenturm befindet“, drängte Monjya. Ihr Gegenüber zitterte bei diesen Worten unwillkürlich.
„Ich hoffe, Ihr wißt, was Ihr vorhabt“, sagte er. „Das ist ein böser Ort. Viele sind dort schon gestorben bei den Experimenten des Meisters, und er ist gut bewacht. Die Wache trägt eine schwarze Rüstung und ist schwer zu erkennen. Selbst wenn Ihr es schafft hineinzukommen, kommt Ihr mit Sicherheit nicht wieder hinaus, jedenfalls nicht auf Euren eigenen Füßen.“
„Klingt nach der richtigen Adresse“, meinte Michael mit trockener Stimme, „trotzdem wäre es hilfreich zu wissen, wie man dort hin gelangt.“
„Haltet Euch einfach nach der Tür rechts. Ihr könnt es nicht verfehlen.“
„Danke, und viel Glück.“ Monjya drückte aufmunternd die Schulter des Alten.
„Euch auch“, erwiderte er.
„Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder“, fügte die junge Frau hinzu, dann wandten sie sich um und verschwanden in der Finsternis des Tunnels. Michael wies auf den toten Bolg. „Meinst du nicht, dass sie den vermissen werden?“
„Den vermisst mit Sicherheit keiner, außerdem sind wir bis dahin längst bei dem Turm, und jetzt komm, die Zeit rennt uns davon.“
Kurze Zeit später standen sie zum zweiten Mal am Ende des Ganges, doch diesmal war die Tür nur angelehnt. Monjya schob sie vorsichtig eine Handbreit auf und spähte vorsichtig um die Ecke. „Hier ist ein weiterer Gang, allerdings brennen hier Fackeln“, informierte sie Michael.
„Prima, dann können wir zur Abwechslung endlich mal genug sehen“, bemerkte Michael zynisch, doch Monjya hatte für Wortgefechte im Augenblick nichts übrig. Ohne etwas zu erwidern, schob sie die Tür entschlossen ein Stück weiter auf und schlüpfte lautlos durch den Spalt, das gezogene Schwert in der Hand. Ein kurzer Rundblick zeigte ihr, dass sich der leere Gang in beide Seiten endlos in die Länge streckte. In dem flackernden Fackellicht war es allerdings unmöglich auszumachen, was sie am jeweiligen Ende des Ganges erwarten würde.
„Kannst du etwas entdecken?“ Erschrocken zuckte Monjya bei der Frage zusammen, da Michael lautlos neben ihr aufgetaucht war.
„Ja, Fackeln und einen leeren Gang“, erwiderte sie bissig, verärgert über den Schrecken, den er ihr eingejagt hatte. „Also, wir schleichen jetzt rechts zum Turm hinüber und eliminieren diesen Obelisken. Das wird ein Kinderspiel.“
„Woher nimmst du bloß den Optimismus?“, murmelte Michael, während er Monjya zögernd den Gang entlang folgte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn hier plötzlich ein weiterer Bolg entlang käme, doch zum Glück blieb alles ruhig. Nach einer kleinen Ewigkeit mündete der Gang schließlich in einen viereckigen Platz, in deren Mitte ein pechschwarzer Turm in den Nachthimmel ragte. Aus einer Unzahl von winzigen, Schießscharten gleichen Fenstern im oberen Bereich des Turms drang ein schwach pulsierendes Licht, das Michael vertraut vorkam und erklärte, wie der Turm zu seinem Namen gekommen war. „Ich schätze mal, wir sind da. War fast ein wenig zu einfach“, flüsterte Michael beeindruckt. Doch statt zu antworten, zog Monjya ihn in den Schatten einer Säule, die den Platz in regelmäßigen Abständen umrahmten und als Stütze für den umlaufenden Wehrgang dienten.
„Sieh genau hin, links von der Tür, im Schatten. Gut, dass sie uns gewarnt hat.“
Es dauerte einen Augenblick, bis Michael erkannte, was die Elbin so beunruhigte. Im Schatten der Tür hielt ein Bolg Wache. Die pechschwarze Rüstung machte ihn beinahe unsichtbar. Es grenzte an ein Wunder, dass er sie nicht gleich entdeckt hatte. „An dem kommen wir nie vorbei“, flüsterte Michael leise. Monjya nickte, dann nahm sie ihren Bogen ab.
„Darum müssen wir umdisponieren.“ Sorgfältig legte sie einen Pfeil auf die Sehne, zielte und spannte den Bogen bis zum Zerreißen. Bevor Michael einen Einwand vorbringen konnte, hatte die Elbin die Sehne bereits losgelassen. Mit einem leichten Klirren der Rüstung brach der Getroffene auf der Stelle zusammen. Befriedigt hängte sich Monjya den Bogen wieder um. „Wieder einer weniger. Jetzt komm, bevor sie uns hier doch noch entdecken.“ Die Schatten geschickt ausnutzend, rannten sie zum Turm hinüber. Ein Blick auf die Wache bestätigte, dass diese keinen Ärger mehr machen würde. Ein gefiederter Pfeil ragte aus ihrem rechten Auge.
„Wir müssen ihn aus dem Weg räumen. Hier fällt er ein wenig auf“, flüsterte Monjya, die sich unruhig umsah, doch der Platz um den Turm herum blieb vorläufig leer. Anscheinend war ihr Eindringen noch nicht bemerkt worden. „Schaff ihn unter die Treppe, ich sehe mich schon einmal oben um“, bat die Elbin, dann huschte sie die Treppe hinauf. Während Michael sich damit abplagte den toten Bolg außer Sicht zu ziehen, versuchte Monjya das schmiedeeiserne Schloss der Turmtür zu knacken. Vergeblich. „Verdammt, ich bekomme dieses Schloss einfach nicht auf.“ Frustriert schob sie den biegsamen Draht, mit dem sie sich am Schloss zu schaffen gemacht hatte, zurück in ihre Kleidung. „Sieh mal nach, ob er einen Schlüssel bei sich hat“, fragte sie. Michael glaubte zum ersten Mal eine leichte Beunruhigung in ihrer Stimme wahrzunehmen. Eilig machte er sich daran, den Toten zu durchsuchen, während ihm der Angstschweiß in die Augen rann.
„Ich hab hier einen gefunden“, teilte er der nervösen Elbin einen Augenblick später mit. Eilig hastete er die Treppe hinauf und gab Monjya den Schlüssel, die sich erneut an dem uralten Schloss zu schaffen machte. Diesmal mit Erfolg. Mit einem knirschenden Geräusch drehte sich der Schlüssel einen Augenblick später im Schloss. „Perfekt“, flüsterte die Elbin und gab Michael den Schlüssel zurück. Dann öffnete sie die Tür einen Spalt und schlüpfte ins Innere. Michael folgte. Sorgfältig schloss er die Tür hinter sich wieder ab und legte zusätzlich einen schweren, inneren Riegel um, den an der Innenseite der Tür entdeckt hatte. Er hoffte jedoch inständig, dass dieser keiner Belastungsprobe unterzogen werden würde, denn das würde bedeuten, dass man ihr Eindringen entdeckt hätte und sie in der Falle sitzen würden.
Mit einem Kopfschütteln wischte er die unangenehmen Gedanken beiseite und folgte Monjya, die bereits die schmale Wendeltreppe des Turms hinauf geschlichen war. Von oben drang schwach das pulsierende Licht des Obelisken herunter. Eilig folgte Michael. Oben angekommen, blieb er verblüfft neben Monjya stehen. Es war nicht zu übersehen, dass der Obelisk das ins riesige vergrößerte Ebenbild seines Fundes darstellte. Links und rechts wurde er von zwei steineren Figuren flankiert, die an Scheußlichkeit nicht zu überbieten waren und einen gewaltigen steinernen Bogen hielten, der sich über den Obelisken spannte. Michael hatte eine leise Vorstellung davon, wozu er diente. „Das ist vermutlich ein riesiges Tor in ihre Heimatwelt“, erklärte er, als er den fragenden Gesichtsausdruck Monjyas registrierte.
„Dann laß es uns für alle Zeiten verschließen.“
Die leblosen Augen der steinernen Wächter, die die beiden Eindringlinge im dunkelrot pulsierenden Licht des Obelisken wütend anzustarren schienen, ignorierend, umkreisten sie den Obelisken auf der Suche nach einer Schwachstelle. Auf der gegenüberliegenden Seite der riesigen Kammer stießen sie auf eine schmale, wackelige Holzleiter, die auf eine Plattform hinauf führte, die den nach oben hin offenen Turm kreisförmig umgab. Während Michael sich noch über den Zweck der Plattform den Kopf zerbrach, erklang plötzlich ein tiefes, unheimliches Tuten. Erschrocken sah er Monjya an.
„Das Alarmsignal“, erklärte Monjya. „Sieh nach oben, die Morgendämmerung bricht an. Der Angriff der Drachenreiter beginnt.“ Tatsächlich wurde der Himmel im nächsten Moment für eine Sekunde von der Shioulette eines Drachen verdunkelt. „Wir müssen uns beeilen. Weißt du noch, was Wogar uns eingeschärft hat? Wir müssen sein inneres Gleichgewicht zerstören. Nervös umkreiste Monjya erneut den Obelisken, bis sie plötzlich etwas entdeckte, das sie beim ersten Mal übersehen hatte. „Hier ist eine Öffnung“, rief sie aufgeregt. „Vielleicht solltest du deinen Stein hier einmal ausprobieren.“
Den nunmehr stark pulsierenden Stein in der rechten Hand haltend, rannte Michael zu Monjya hinüber, um ihre Entdeckung in Augenschein zu nehmen. „Und dabei wollte ich eigentlich nur nach Hause“, murmelte er angesichts der grotesken Situation, in der er sich befand. Im selben Moment gab der Stein in seiner Hand ein singendes Geräusch von sich, und vor Michael öffnete sich zum zweiten Mal in seinem Leben das seltsame Tor, durch das er in diese Welt geschlittert war. Monjya wich nervös zurück. „Was beim Atem des ersten Drachens ist das?“
„Mein Weg nach Hause“, erwiderte Michael. Angesichts des nicht mehr zu überhörenden Kampflärms schien es unbedingt an der Zeit, diesen ungastlichen Ort zu verlassen. Das tiefblaue Rechteck vibrierte verlockend vor seinen Augen. Er mußte nur ein paar Schritte machen und wäre wieder zu Hause. Anders als beim ersten Mal, konnte Michael diesmal die Oberfläche mit seinem Blick durchdringen. Bilder vertrauter Orte blitzten dort auf. Wie die Motte vom Licht, so wurde auch Michael von dieser tiefblauen, strahlenden Suggestion angezogen. Automatisch tat er einen Schritt in Richtung des leuchtenden Rechtecks, als Monjyas drängende Stimme ihn innehalten ließ.
„Wenn du gehst, werden wir untergehen“, sagte die Elbin mit einem flehenden Unterton. Michael fluchte.
„Verdammt!“ Er wußte, dass sie Recht hatte. Aber was sollte er tun? Hier war der Rückweg zu all dem, was ihm vertraut war. Sollte er das aufgeben für ein Volk, mit dem ihn nichts verband, vielleicht einmal abgesehen von seinen Gefühlen für Monjya. Sein Blick wanderte zu der Elbin hinüber. Würde sie ihn überhaupt gehen lassen? Er versuchte einen Vorstoß.
„Warum kommst du nicht mit?“
Die grünen Augen sahen ihn traurig an.
„Willst du wirklich, dass ich mein Volk verrate?“
Michael schluckte und schlug den Blick nieder, dann schüttelte er den Kopf. Die Entscheidung, was er tun sollte, war wirklich schwer. Zu allem Überfluss drangen plötzlich auch noch von unten heftige Schläge herauf. Offenkundig hatten sie den toten Wächter entdeckt, eins und eins zusammengezählt und versuchten nun, die Tür einzuschlagen. Michael seufzte, dann gab er sich einen Ruck.
„Ich hoffe, du weißt, was das für mich bedeutet“, sagte er. Im selben Moment erlosch das Tor, als habe es seine Gedanken gespürt, vielleicht konnte es sich aber auch immer nur für eine bestimmte Zeit stabilisieren. Doch das tat jetzt nichts mehr zur Sache. „Ich muß verrückt sein“, murmelte er, dann hastete er zu dem Loch im Obelisken hinüber und versenkte den Stein darin. „Wenn das jetzt nichts bringt, dann gute Nacht“, unkte er. Doch die Sorge war unbegründet. Kaum war der Stein versenkt, begann der Obelisk in einem tiefen, stetig ansteigenden Tonfall zu vibrieren, der in Michael neue Besorgnis auslöste. „Der wird jeden Moment explodieren“, vermutete er.
„Das wird nicht unsere einzige Sorge bleiben“, erwiderte Monjya grimmig, als tief unten im Turm ein heftiges Splittern erklang. Die Bolg hatten die Tür eingeschlagen und stürmten nun die Treppe hinauf.
„Und was jetzt? Wenn die uns hier erwischen, sind wir erledigt“, fluchte Michael. Monjya zog ihn energisch am Arm zur schmalen Leiter hinüber.
„Dort hinauf. Hier unten haben wir keine Chance.“
In Windeseile hasteten sie die Leiter hinauf und duckten sich auf dem kreisrunden Gang so gut es ging in die Schatten, als die Bolg in der Kammer eintrafen. Es waren fünf. Wahre Giganten und alle bis an die Zähne bewaffnet. Angesichts des heftig vibrierenden Obelisken, blieben sie jedoch verblüfft stehen, wofür Monjya dankbar war, gaben sie so doch perfekte Zielscheiben ab. Mit einem dumpfen Geräusch ging der vorderste Bolg zu Boden. Der Bolg zu seiner Linken hatte gerade noch Zeit zu registrieren, dass seinem Kameraden plötzlich ein gefiederter Pfeil aus dem Hals ragte, als auch er getroffen zu Boden ging. Dann brach die Hölle los. Die verbliebenen Bolg hatten die Elbin inzwischen ausgemacht und stürmten auf die Leiter los. Sofort stürzte Michael hinüber, um sie einzuziehen oder umzuwerfen, doch die Leiter war mit der Plattform fest verschraubt.
„Verdammt, ich kann sie nicht umwerfen.“ Verzweifelt zog er sein Schwert, als der erste Bolg die oberste Sprosse erreichte. Doch seine ungelenken Schläge wehrte der Bolg lässig mit seiner Streitaxt ab, während er sich unaufhaltsam auf die Plattform zog. „Du bist tot“, knurrte er, als er endlich oben angekommen war. Seine Streitaxt wirkte blutrot im Licht des immer heftiger vibrierenden Obelisken. Michael schwitzte, hier half nur eine List. „Jetzt“, brüllte er plötzlich aus Leibeskräften, wobei er zugleich aufgeregt auf einen imaginären Punkt hinter dem Bolg starrte. Der drehte überrascht den Kopf, worauf Michael nur gewartet hatte. Mit aller Gewalt rammte er ihm sein Schwert gegen die Brust. Zwar vermochte er den Brustpanzer nicht zu durchdringen, die Heftigkeit des Angriffs brachte den Bolg jedoch aus dem Gleichgewicht, so dass er mit rudernden Armen rückwärts die Leiter hinunterfiel und bei der Gelegenheit die anderen Bolg, die gerade im Begriff waren, ihrem Anführer zu folgen, mit in die Tiefe riss. Mit einem heftigen Scheppern schlugen sie auf dem Boden auf.
„Die alten Tricks sind doch immer noch die besten“, grinste Michael. Das Grinsen verging ihm jedoch, als sein Blick auf den Obelisken fiel. Dieser vibrierte inzwischen so stark, dass Michael es sogar hier oben auf der Plattform spüren konnte. Es war dringend an der Zeit, den Turm zu verlassen.
„Wir müssen wieder runter und hier raus“, rief Michael hektisch.
„Dazu reicht die Zeit nicht mehr, außerdem kommen wir an den Bolg nicht vorbei. Ich habe eine andere Idee. Vertrau mir.“
Erst jetzt fiel Michael auf, dass die Elbin ihre Pfeife in der Hand hielt und verzweifelt den Himmel absuchte, der voll war von hin und her jagenden Drachenreitern. Plötzlich bohrte sich ein Armbrustbolzen genau zwischen Monjya und Michael in die Wand. Erschrocken duckten sich die beiden noch tiefer. Ein Blick nach unten zeigte, dass die noch immer schwer angeschlagenen Bolg Verstärkung bekommen hatten. Erneut bohrte sich ein Bolzen nur Zentimeter oberhalb von Michaels Kopf in einen Holzpfeiler. Solange sie unten blieben, boten sie zwar eine sehr schlechte Zielscheibe, doch Michael war klar, wozu der Beschuss diente.
„Sie geben ihren Kameraden Deckung. Wir bekommen hier oben jeden Moment Besuch.“ Verzweifelt blies die Elbin erneut in die Pfeife, während sie ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Himmel und dem Ende der Leiter teilte. Zwar verfügte sie auch über einen Bogen, in der tief geduckten Position konnte sie diesen jedoch nicht einsetzen. Doch es gab ja noch andere Waffen. Das letzte, das der erste Bolg in seinem Leben noch wahrnahm, als er seinen Kopf über die Plattform schob, war das Messer der Elbin, das sich zielsicher in seinen Hals bohrte.
„Das wird ihnen eine Weile zu denken geben“, verkündete Monjya grimmig, als der Aufschlag des Bolgs zwei Stockwerke tiefer auf dem Boden zu ihnen herauf hallte. „Ich habe noch mehr davon“, brüllte sie, doch die Bolg gaben nicht auf. Kaum war ihr Kamerad unten angekommen, war der Turm plötzlich erfüllt von dem Sirren der Armbrustbolzen, das an einen zornigen Hornissenschwarm erinnerte. Flach auf den Boden gepresst mußten sie hilflos mit ansehen, wie der nächste Bolg am Ende der Leiter auftauchte. In der Hand hielt er ein gefährlich aussehendes Krummschwert. Diesmal wurde es eng. Zu Michaels Erstaunen warf die Elbin plötzlich aus der Unterhand ein weiteres Messer auf den sich nähernden Bolg, doch der wehrte das Messer schon beinahe lässig mit seinem Krummsäbel ab.
„Wird Zeit, dass du dir was neues ausdenkst“, murmelte Michael, als plötzlich das Schlagen gewaltiger Flügel erklang. Im nächstem Moment war der Bolg aus Michaels Gesichtskreis verschwunden. Ein schrilles Kreischen ertönte, als der Drache den Bolg zwischen seinen Zähnen zermahlte. Ehe sich die übrigen Bolg von dem Schreck erholen konnten, griff der Drache erneut an, doch diesmal stieß er eine gewaltige Feuerlanze aus, als er über die Turmöffnung hinweg flog, die etliche Bolg am Boden in Schlacke verwandelten. Wer noch am Leben war, verließ fluchtartig den Turm. Monjya jubelte begeistert und schwenkte wild mit den Armen. Im nächsten Augenblick ließ der Drache sich auf der Turmumrandung nieder. Sein Anblick erinnerte Michael an einen gewaltigen Wasserspeier. Doch diesmal kannte er kein Zögern und folgte Monjya auf den Rücken des Drachens. Als der abhob, konnte er zum ersten Mal sehen, wie es außerhalb der Burg aussah. Überall herrschte hektisches Kampfgetümmel. Zu seiner Bestürzung sah er auch einig leblose Drachen und ihre Reiter im Burghof liegen. Der Plan hatte mehr Opfer gekostet, als er erwartet hatte. Beinahe hätte er die eigentliche Gefahr völlig vergessen.
„Wir müssen hier dringend weg“, rief er Monjya zu. Die nickte und gab den anderen Drachenreitern das vereinbarte Zeichen, indem sie aus ihrer Satteltasche ein weißes Tuch hervorzog und damit wild hin und her schwenkte. Fast synchron zogen sich die Drachenreiter daraufhin in eine höhere Luftregion zurück, bevor sie in V-Formation in Richtung Nebelwald zurückflogen. Sorgenvoll warf Michael immer wieder einen Blick zurück, doch sie waren schon gut drei Kilometer entfernt, als in der Mitte der Feste plötzlich eine gewaltige Feuersäule in die Höhe schoß, gefolgt von einer Explosion, von der man noch hundert Jahre später berichten wird. Er bezweifelte, dass von der Feste mehr als ein Haufen Asche übrig geblieben war. Blieb nur zu hoffen, dass sein Stein das Inferno überlebt hatte, indem er durch ein Tor eine andere Welt verschwunden war. Vielleicht würde er ja eines Tages zu ihm zurückfinden. Doch Zeit, um lange darüber nachzudenken hatte er nicht, denn im nächsten Augenblick erfassten die Ausläufer der Druckwelle die Drachenreiter und ließen sie wie Spielzeuge in der Luft trudeln. Nur dem Umstand, dass sie hoch genug aufgestiegen waren, hatten sie zu verdanken, dass die Druckwelle sie nicht vom Himmel fegte. Nachdem sich der Himmel wieder beruhigt hatte, drehte sich Monjya mit einem doppeldeutigen Grinsen zu ihm um, während sie ihren Drachen immer mehr hinter die anderen zurückfallen ließ.
„Ich denke, es ist Zeit für eine Rast, was meinst du?“, fragte sie schelmisch.
Michael grinste.
„Daran könnte ich mich gewöhnen“, erwiderte er und mußte sich eingestehen, dass die Tatsache, dass er hier wahrscheinlich für unabsehbare Zeit festsaß doch gar nicht so schlecht war und wer weiß, vielleicht würde er ja eines Tages einen anderen Weg zurück in seine Welt finden. Wer konnte schon wissen, was die Zukunft bringen würde?
Ende