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Nebelschwaden
Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wann die ersten Nebelschleier über einen fast blauen Horizont zogen. Ich hatte Arbeit, eine Frau, ein kleines Kind. Sie waren Verpflichtung und Freude zugleich. Doch dann kam ein Herbsttag, der den blauen Himmel dunkel färbte. Die Bäume behielten ihr buntes, farbenfrohes Laub, doch in meiner kleinen Welt zerfiel alles in kleine graue Staubteilchen. Und auch die Zukunft versprach kein winterliches Weiß.
Dieser Stinker von Chef. Zuerst hieß es, keiner wird entlassen. Dann war ich der Erste, der gehen musste. Danke schön und eine kleine Abfindung. Zuletzt gekommen, zuerst gegangen. Ich erledigte alle Wege, bekam mein Arbeitslosengeld. Aber mein Selbstvertrauen war weg.
Arbeit war mein Weg zur Anerkennung. Ich hatte nichts gelernt. In der Schule zu faul und auf niemanden gehört. Sie lachten über mich. Nicht öffentlich, nur hinter vorgehaltener Hand. „Wir haben es ja schon immer gewusst, aus dir wird nichts Gescheites.“
Aber Arbeiter verdienten gut. Und mit Geld konnte man den Mädchen imponieren. Und mit einem Auto. Mit beidem eroberte ich Gabi. Die selbstbewusste Gabi. Sie nahm mich tatsächlich. Und wir waren glücklich. Hell erstrahlte der Alltag, Grau war nur eine Farbe.
Dann kam Jonas. Gabi wollte Karriere machen, denn sie hatte einen guten Job. Ein Kind war dem nicht förderlich. Es gab Streit und Grau tapezierte sich zum ersten Mal in unser Leben. Sie nannte mich primitiv, ich schimpfte sie karrieregeil. Dann wurde ich arbeitslos. „Jetzt kannst du ja die Kindererziehung und den Haushalt übernehmen“, war ihr einziger Kommentar. Ich übernahm sie. Und langweilte mich.
Den Anschluss nach draußen habe ich längst verloren. Woran sich also noch festhalten. Die Flaschen sind griffig und der Inhalt schmeckt immer besser.
Der Blick aus dem Fenster in die Ferne gerät zu einem Blick in mein Innerstes. Nebelschwaden, klein, grau, ziehen sich zusammen, vermehren sich. Ich weiß, dass diese Klarheit nicht so bleibt. Schon Stunden später werde ich die nahen Häuser kaum noch erkennen können, werde ich meine Umgebung nicht mehr durchschauen, selbst meine Handgriffe werden im schmutzigen Grau entschwinden.
Ich kenne diese Zustände, und bisher habe ich immer alles im Griff gehabt, gewusst, wann ich aufhören muss, in den inneren Schmutz zu blicken. Aber ich habe Angst, einmal die Orientierung zu verlieren, nicht mehr die Kontrolle zu besitzen über mich und mein Tun.
Immer wieder werde . . , werde . . , werde . . . Das klingt ja wie wenn . . , hätte . . , aber . . . Doch meine Abwehrversuche scheitern regelmäßig und sind nichts anderes als blinde Zutaten.
Wenn der Nebel sich verzieht, tue ich meine Pflicht. Dann kommt wieder der graue Schleier. Er lähmt mich, weil ich die Orientierung verliere. Ich brauche einen Halt. Gabi ist auf Geschäftsreise. Jonas schläft. Neben mir im Sessel liegt das Kuschelkissen. Es gibt mir Wärme. Nicht so viel wie eine Frau, aber ich spüre sie, wenn ich es zwischen meine Arme nehme und an mein Gesicht ziehe. Es tut gut.
Ich liebe meinen Sohn. Bei Gabi bin ich mir nicht mehr sicher. Da ist ein Anderer. Sie gibt es nicht zu, noch nicht. Wenn sie nach Hause kommt, warte ich auf die entscheidenden Worte: „Ich lasse ich scheiden“. Aber sie spricht es nicht aus. Sie will mich quälen. Sie weiß, dass ich trinke. Es stört mich nicht. Ich mache mir nur Sorgen um Jonas. Was wird aus ihm. Bei einer Scheidung bekommt ihn meine Frau. Aber Gabe hat nie Zeit. Jonas wird allein sein. So wie ich jetzt. Im Nebel, wo mich keiner mehr beachtet.
Je mehr ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich. Ich presse das Kissen in mein Gesicht. Es riecht nach nichts, aber es wärmt. Diese Wärme bekommt Jonas von meiner Frau nicht. Ich muss Jonas noch mehr Wärme geben. Aber wie? Immer stärker drücke ich das Kissen in Mein Gesicht. Ich bekomme immer weniger Luft. Mir wird heiß.
Ich reiße das Kissen weg. Und sehe die kleine Lücke im Nebel. Diesen kleinen Spalt. Mir wird klar. Ich muss da durch. Morgen ist es zu spät. Dann gibt es keinen Spalt mehr. Ich stehe auf und stolpere durch diese Lücke. Mein Sohn braucht Wärme. Sein Leben darf nicht aus Gefühllosigkeit und Kälte bestehen. Das kann ich nicht zulassen.
Ich sehe Jonas. Er schläft. Seine Bettdecke ist verrutscht. Ich spüre, dass der Kleine friert. Ihm muss ich meine ganze Wärme geben. Jonas darf nie wieder frieren. Meine Hände zittern. Ich muss handeln, bevor die Nebelwand sich wieder schließt.
Mir wird kalt. Die Wärme hat mich verlassen. Sie gehört jetzt ganz allein Jonas. Ob er sie schon spürt? Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Das Kissen ist zwischen uns. Es trennt uns. Vorsichtig lasse ich los, ziehe die Decke über seinen Körper und lege mich neben ihn. Ganz langsam umhüllt uns der graue Nebelschleier.
Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ein plötzlicher Schlag reißt mich aus der Ruhe. Meine Wange glüht, trotzdem war mir kalt. Ich friere. Meine Hand tastet zu Jonas. Sie tastet ins Leere. Vorsichtig öffnet sich mein Blick. Im Zimmer steht Gabi, mit Jonas auf dem Arm. Ihr eiskalter Blick beherrscht den Raum. Zwischen ihren rot geschminkten Lippen formt sich nur ein Wort: „Idiot“. Jonas schweigt. Dann dreht sie sich um und verlässt mit ihm den Raum. Als die Tür zuschlägt bin ich einsam, aber nicht allein. Langsam kehren die Nebelschwaden zu mir zurück.
Danach liegt alle Klarheit wieder in vergangener Zeit.