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Nebelgeister
Butch hatte den Wagen am Straßenrand als Erster entdeckt. Etwas Außergewöhnliches musste dort auf uns warten, denn für meinen Hund gab es plötzlich nichts anderes mehr als dieses Auto.
Wir spazierten unsere Allee entlang, die eine pfeilgerade, mit Buchen und Erlen gesäumte Asphaltschnur war. Sie verband zwei langweilige Vororte mit der nahen Großstadt. Im Sommer verliefen neben ihr wogende Weizenfelder und derbenKartoffelacker. Seit die Umgehungstrasse die meisten Autos und LKWs in die Stadt blies und wieder heraussog, war es einsam auf meiner Allee geworden. Das Geld war knapp in unserem Landkreis und so verwilderte die Straße. Sie öffnete Schlaglöcher und Risse in der Fahrbahn, die niemand mehr schloss. Die Sträucher zwischen den Bäumen waren sich selbst überlassen worden. Nur noch einmal im Jahr schnitten die Leute vom Gartenbauamt an ihnen herum. Das Gestrüpp streckte sich und wucherte. Der Wanderer konnte nie sicher sein, ob die austreibenden Sträucher nicht nach ihm griffen und ihn verschlangen. Ich liebte diesen steinernen, verfallenden Märchenpfad.
In dem Auto, das dort vorne mit der Nase im Straßengraben hing, musste etwas wirklich Interessantes stecken. Butch und ich waren schon an sechs Buchen vorbeigelaufen, und er war nicht einmal an mir hochgesprungen. Mein Labrador spielte auf dieser Straße ein Spiel, mit dem er mich in den Wahnsinn und ihn vor die Tür eines Tierpsychiaters getrieben hatte: An etwa jedem dritten Baum kam er zu mir. Egal ob ich lief oder stand, ob ich versuchte, meinem Hund auszuweichen oder mich tot stellte: Butch sprang an mir hoch und besabberte mein Hosenbein. Er tat das nur hier, auf der Allee, an jedem dritten Baum. Beim ersten Spaziergang hielt ich das für einen Zufall, war gerührt und fand es niedlich. Bei den darauffolgenden Ausflügen wurde es mir unheimlich. Dann nur noch lästig.
Damit Butch mich nicht länger nervte, hielten wir uns der Allee fern. Ich gab die Märchenstrasse auf. Mein Hund nahm mir das übel und lockte alle Wolfsrudel der Region zu unserem Haus. So lief ich keine Woche später wieder mit meinem Drei - Bäume - Hops - Köter und besabberten Hosenbeinen unsere Strasse entlang. Sie halten mich vielleicht für verantwortungslos oder inkonsequent, aber ich war verrückt nach der morschen Allee und meinem durchgeknallten Labrador darauf.
Butch verlangsamte seine Schritte. Sein Blick klebte an dem grünen Golf, der nur noch wenige Meter von uns entfernt war. Die Beifahrertür stand auf, aber weder Butch noch ich konnten jemanden auf der Straße entdecken. Wir erreichten nach einer weiteren Minute den Wagen. Er hatte ein Frankfurter Kennzeichen und Rostsprenkel lachten durch den grünen Lack. In den Scheiben spiegelte sich die Umgebung wieder, so dass ich nicht hineinsehen konnte.
Mein Labrador setzte sich vor den Kotflügel und schaute zu mir, der Wagen schaute in das Feld hinter den unbelaubten Sträuchern. Nachdem ich Butch keinen Rat geben konnte, drehte er sich zu einer Buche auf der gegenüberliegenden Straßenseite und winselte. Ich zog den Kragen meiner Jacke hoch. Klammer Nebelwind kroch in meinen Nacken. Die Nebelwände um uns wurde fester.
“Und, hast du sie gefunden? Ich bin doch nicht blind!” tönte es aus dem Golf.
Ich schluckte, Butch war hochgeschnellt, uns beiden kullerte das Herz zwischen den Rippen herum. Die rasselnde Frauenstimme, die aus dem Golf geschallt war, hätte ein Regiment in die Flucht geschlagen. Ich erkannte jetzt einen gedrungenen Schatten hinter dem Lenkrad, und dass die Scheibe auf der Fahrerseite einen Spalt breit geöffnet worden war.
“Mama, hier ist nichts. Und hier wird auch morgen und übermorgen nichts sein! Bitte, ich will runter!”
Diese Stimme hallte von einer stämmigen Buche auf der gegenüberliegenden Straßenseite herunter. Butch und ich drehten die Köpfe.
Ein dicklicher Mann mittleren Alters mit einem dünnen, beigefarbenen Poloshirt hing dort in einer Astgabel. Er hatte fettige, dunkle Haare, seine Wangen waren fleischig und rot.
“Da war eine hilflose Katze in dem Baum!” tönte es aus dem Golf.
Mit dieser Stimme konnte die Frau Stahltüren aufdrücken, und so wunderte es mich nicht, dass es ihr hängebäuchiger Sohn geschaffte hatte, an dem glatten Buchenstamm nach oben zu klettern.
“Mama, soll ich mich jetzt zu Tode stürzen, oder wenn es dunkel geworden ist? Hier oben ist keine Katze. Keine graue, braune, rote oder orangefarbene.” sagte der Sohn.
“Willst du damit sagen, deine Mutter spinnt? Schau nach! Such jeden Ast ab. Ich lass das arme Kleine jedenfalls nicht in dem Nebel hier zurück!”
Es stöhnte in der Buche, etwas wie “Pinki” oder “Stinki” kam von dort oben. “Denk an Minki. Du bist mir, du bist uns noch was schuldig. Denk an Minki!” sagte die Frau.
“Herrgott, sie ist mir damals vor den Wagen ...
Wie oft soll ich das denn noch ...?
Was läuft das Vieh auch vor der Garage herum?
War nicht meine Schuld. Mama, jetzt ist genug. Hier oben ist keine Katze! Ich komm jetzt runter. Vielleicht hilft mir die Gnädigste ja dabei?” sagte der Sohn. Er schaute nach unten, wurde sich der Höhe bewusst, in der er hing und machte sich an den Abstieg. Ich wollte ihm helfen, doch der glatte, astlose und tonnenförmige Stamm ließ ihn in die Tiefe schnellen. Er landete auf beiden Beinen, Kiesel knirschten unter seinen Füßen. Er hielt den Stamm umklammert und öffnete die Augen. Der unglückliche Sohn schaute noch einmal in die Baumkrone und humpelte zu dem grünen Golf, aus dem ein beharrliches Schweigen aufstieg. Die Tür böllerte zu, ein altersschwacher Dieselmotor wachte auf, die Räder des Golf drehten durch und jagten an Butch und mir vorbei. Man konnte jetzt die beeindruckende Bremsspur sehen, die der Golf in den Asphalt gerieben hatte, bevor er stehen geblieben war.
Ich wunderte mich gerade zuende, warum uns das seltsame Paar auf der menschenleeren Allee übersehen hatte, da bemerkte ich, dass Butch weiterhin die Buche anstarrte.
Bald sah auch ich, warum. Ein grauweiß getiegertes Etwas balancierte zu einer Astspitze, nahm Maß und landete neben der Wurzel. Es drehte uns den Hintern zu. Ein bernsteinfarbener Blick glitt einen Zentimeter an meiner Schulter vorbei. Das Getiegerte öffnete den Mund, als wollte es sich verabschieden, schlüpfte durch Sträucher und verschmolz mit der Nebelwand. Was uns an jenem Samstag auf der Märchenallee begegnet war, kann ich bis heute nicht sagen. Es war Herbst gewesen. Wie hatten es zwei erwachsene Männer schaffen können, eine Katze in einer fast entlaubten Buche zu übersehen? Das Tier hatte kein Geräusch gemacht, nachdem es aufgetaucht war. Es landete auf Watte, miaute ohne Ton und hinterließ keinen Pfotenabdruck.
Das größte Rätsel blieb Butch. Er liebte alle Katzen. Wenige Katzen liebten ihn. Er jagte schlanke Abessiner, verschonte keinen heiligen Birmesen, schnappte nach kupferäugigen Kartäusern und biss jeder Mischlings- , Wild - und Raubkatze in den Schwanz. Die Nebelkatze blieb die einzige, der er nicht nachstellte. Er winselte, sein Fell sträubte sich und er blieb wie angeklebt stehen. Nichts hätte ihn damals auf die andere Straßenseite gebracht. War es der Schatten der armen, plattgewalzten Minki, den wir damals gesehen haben? Butch schüttelte sich, bellte mich an und lief weiter.
Wir machten uns auf den Rückweg. Butch blieb am Boden. Kein Sprung, kein Sabber. Ich kehrte zum erstenmal seit Monaten mit sauberen Hosenbeinen von dem Alleegang zurück. Mein Hund hatte das Drei - Bäume - Hops- Spiel nach seiner denkwürdigen Begegnung aufgegeben. Es blieb mir erspart, bei einem Tierpsychiater eine Allee mit Gummibäumen, Stühlen und Papierkörben nachzubauen.
Wann immer wir nun die Märchenallee entlangliefen, spähte Butch alle paar Meter in die Baumkronen. Ich trottete neben ihm her, sah wie er nach oben, dachte oft an Minki und dankte ihr für seine Heilung.