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Nebelfeen
Nebelfeen
Yancy saß auf dem feuchten Strandsand, ihren Blick hinaus aufs Meer gerichtet.
Sie wartete auf die Nebelfeen. Würden sie diesmal kommen und ihren Kummer mitnehmen? Wie der Großvater es ihr vor Jahren erzählt hatte. Über ihr kreischten Möwen, sie hob den Kopf, sah ihrem Spiel zu. Vor den grauen Wolken, die sich am Himmel zusammen zogen, wirkten sie wie Silberperlen, die von einer zerrissenen Schnur glitten. Feiner Nieselregen fiel und bedeckte fast zärtlich Yancys Gesicht, der Wind strich kalt über ihre Wagen, sie träumte sich zurück...
In eine Zeit, als sie ein Kind war und ihr der Großvater von den Nebelfeen erzählte. Es war an einem Novemberabend, Yancy saß am Fenster und schaute hinaus, sie wartete auf den Großvater. Nebel lag über dem Meer, wie eine bedrohliche Macht schob er sich auf den kleinen Küstenort zu, kroch unaufhaltsam durch die Straßen, hüllte alles mit seinem undurchdringlichen Schleier ein. Endlich hörte sie wie sich die Haustür öffnete;
„Opa“, rief sie und rannte so schnell ihre kleinen Beinchen sie trugen die Treppe hinab, stürzte sich in seine Arme.
„Ich dachte schon der Nebel hat dich verschluckt.“
Erleichtert drückte sie sich an ihn. Der Großvater strich ihr zärtlich über den Kopf.
„Nein“, lächelte er, „der Nebel verschluckt einen nicht. Was du siehst sind die Nebelfeen...“
„Feen“, unterbrach sie ihn neugierig, „wie die Waldfeen, die einem aus dem Wald helfen, wenn man sich verlaufen hat?“
„Ja, wie die Waldfeen“, bestätigte er.
„Und wo helfen die Nebelfeen einen raus?“, wollte sie nun wissen.
„Aus deinem Kummer, aber das erzählt ich dir nachher beim Essen.“
Yancy erinnerte sich an einen schönen Abend voller Geschichten und Lachen. Ein sehnsuchtsvolles Lächeln zog über ihr Gesicht, wie lange hatte sie sich nicht mehr so wohlgefühlt.
Der Wind zerrte an ihren Haaren, sie fröstelte leicht, deshalb stand sie auf und ging ein Stück am Strand entlang, immer wieder suchte ihr Blick den Horizont, achtete sie nicht darauf, wo sie hintrat, bis sie an eine Muschel stieß, eine schöne weiße, wohl geformte Muschel. Eine warme Woge der Erinnerung ergriff ihr Herz, als sie die Muschel an ihr Ohr hielt, wie oft hatte sie dies mit ihrem Großvater getan. Plötzlich hatte sie eine Idee.
Gedankenverloren schlenderte Malte durch die kleinen Wege, Richtung Ausgang, warf hin und wieder einen Blick auf die rechts und links stehenden Steine. Manchmal las er einen Namen oder auch nur eine Jahreszahl.
Da entdeckte er sie, eine zierliche Gestalt, deren rotbraunen Haare wie roter Wüstensand über ihren Rücken fluteten. Sie kniete mit dem Rücken zu ihm, plötzlich beugte sie sich nach vorn, es hatte den Anschein, als wolle sie sich auf den Boden werfen und den kleinen Hügel umarmen.
„Was tun Sie da?“
Die fremde Stimme riss Yancy aus ihren Gedanken, sie zuckte zusammen, drehte den Kopf und hielt instinktiv abwehrend die Hand vor sich.
„Oh, ich wollte Sie nicht erschrecken“, entschuldigte sich der junge Mann schnell.
„Wer sind Sie?“
Yancy wusste nicht warum, aber sie fühlte sich, als hätte der Fremde sie bei irgendetwas Verbotenen ertappt, spürte wie ihr allmählich die Röte ins Gesicht stieg, sie zitterte leicht.
„Ich bin Malte.“
Lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen und trat einen Schritt auf sie zu.
„Yancy“,stellte sie sich vor während er ihr hoch half. Er war größer als sie, so dass sie immer noch nach oben sah, für den Hauch eines Augenblicks verdeckte sein Kopf die Sonne, so dass sein Gesicht von einem hellen Kranz umgeben war, sie blinzelte, sah dann in meergrüne Augen, deren warmes Strahlen, wie eine Welle über sie glitt. Er drückte sanft ihre Hand, einen kurzen Moment ruhte sein Blick auf ihr, herrschte Stille zwischen ihnen, dann sah Malte an ihr vorbei.
„Ein Verwandter?“, wollte er wissen und wies mit dem Kopf zu dem schlichten Grabstein.
„Ja“, hauchte sie nur, mehr konnte sie nicht sagen, drehte sich zu dem Grab.
„Ihr Vater?“
Wie einen vertrauten Windhauch nahm sie seine Stimme wahr, schüttelte den Kopf.
„Mein Großvater“, erklärte sie, „ aber eigentlich war er wie ein Vater, denn meinen Vater habe ich nie kennen gelernt, er starb, bevor ich geboren wurde“, fügte sie leise hinzu.
Yancy schluckte, um den Tränenkloß, der plötzlich in ihrem Hals steckte, loszuwerden.
„Besuchen Sie auch jemanden?“, fragte sie, sah ihn dabei aus den Augenwinkeln an. Er nickte.
„Was haben Sie gemacht?“, wollte er nochmal wissen. Als sie mit einer Antwort zögerte, setzte er ein „ vorhin“, hinzu, als wüsste sie nicht um welchen Augenblick es ging. Sie zuckte mit den Achseln.
„Nichts Besonderes... “
Wollte sie abwehren, aber dann stockte sie, stieß die Luft hörbar aus, konnte sich nicht erklären, warum ihr Herz so pochte, dann... sagte sie unvermittelt, „ich brachte ihm das Meeresrauschen.“ Als müsste sie es sich selbst bestätigen, nickte sie.
„Das Meeresrauschen?“, fragte Malte während er seinen Kopf zur Seite neigte.
„Ja“, bestätigte Yancy nochmal, „mein Großvater liebte das Meer über alles. Dort fand er seine Antworten, wie er immer sagte.“
Sie bückte sich und hob die Muschel auf.
„Wenn man sie ans Ohr hält...“
„Kann man das Meer hören“, fiel er ihr mit einem wissenden Lächeln ins Wort.
„Andere Menschen bringen Blumen mit“, versuchte sie zu erklären, „ ich wollte ihm das Meer bringen.“
Er lächelte leise in sich hinein.
„Aber, als ich vorhin kam, da...“
„Ich hab in die Muschel gepustet.“
Ein wenig verlegen kamen die Worte über ihre Lippen, ein Hauch vergessener Kindheit legte sich über ihre Gesichtszüge. Verwirrt zog Malte seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
„Als ich noch ein Kind war, sagte mein Großvater zu mir, wenn er mal nicht bei mir sein kann, dann bräuchte ich nur in eine Muschel pusten und er würde mich hören.“
Malte nahm ihr die Muschel aus der Hand, hielt sie an sein Ohr und lauschte. Yancy sah ihm dabei zu, auf seltsame Weise kam ihr dieser doch eigentlich fremde Mann vertraut vor, seine blonden vom Wind leicht zerzausten Locken, seine sonnengebräunte Haut, die über den Wangen eine zarte Röte aufwies, diese geheimnisvollen und doch so anziehenden, meergrünen Augen.
Er schenkte ihr ein Lächeln, das in sie flutete wie der erste Sonnenstrahl an einem warmen Sommertag. Sie glaubte tief einatmen zu müssen, um einem Gefühl in ihr Platz zu machen, dessen Namen sie sich scheute auszusprechen.
Malte nahm ihre Hand und legte die Muschel wieder hinein.
„Das ist schön“, meinte er und fügte dann fast traurig, „ich hatte Blumen dabei“, hinzu.
Yancy kniete sich nieder um die Muschel zurück zu legen.
„Was ist da drin?“
Er wies mit dem Kopf auf einen Behälter zu ihren Füssen.
„Das Meer“, sagte sie, setzte sich auf den Boden, nahm das Gefäß in ihre Hand, öffnete den Deckel, ein salziger Geruch stieg ihr in die Nase.
„Ich hab eine Idee“, verkündete Malte, „geben Sie her.“ Mit einer Handbewegung forderte er das Gefäß. Ohne zu überlegen reichte sie es ihm.
„Nun“, sagte er, „Sie wollten ihm das Meer bringen, die Muschel ist da, das Wasser auch, fehlt nur ein wenig Wind. Außerdem müssen wir aufpassen, die Blumen vertragen kein Salzwasser.“ Er trat einen Schritt zurück, tauchte seine Hand in den Behälter, formte sie wie eine Kelle und schöpfte einwenig Wasser hervor.
„Kommen Sie“, forderte er sie auf, „pusten Sie!“
Yancy erhob sich, führte seine Hand an ihren Mund und pustet hinein, so dass das Wasser herausspritzte und in kleinen Tropfen auf die Erde fiel.
„Ja, weiter, nochmal“, spornte er sie an. Wie in einem Kinderspiel tanzten sie um das Grab, immer wieder glitt seine Hand in den Behälter, holte das Meer hervor, bis er leer war und Malte ihr die letzten Tropfen lächelnd ins Gesicht spritzte. Yancy lachte seit langem zum ersten Mal wieder, doch genauso plötzlich wie dies Lachen erklang, verstummte es.
„Darf man auf Friedhöfen so glücklich sein?“, fragte sie betroffen und sah ihn hilfesuchend an. Zärtlich wischte Malte einen Wassertropfen von ihrer Nasenspitze.
„Glauben Sie nicht auch, dass ihn Ihr Lachen mehr erfreut als Ihre Traurigkeit?“
Sie zuckte die Achseln, ging zu der kleinen Bank, die ein paar Meter von der Grabstelle entfernt stand, setzte sich.
„Kennen Sie die Nebelfeen?“, wollte sie wissen.
Er bückte sich hob den Deckel auf, schüttelte den Kopf, schraubte den Behälter zu während er auf sie zu kam.
„Er hat mir erzählt, wenn man einen Menschen verliert und die Traurigkeit so groß ist, dass sie einem aus dem Herzen purzelt und die ganze Seele überschwemmt, dann kommen die Nebelfeen. Umhüllen dich zärtlich, halten dich fest, dringen tief in dich ein, nehmen die Traurigkeit in sich auf, damit du dein eigenes Leuchten wieder erkennst.“
Tränen liefen über ihre Wangen, die sie mit dem Handrücken fortwischte.
„Die Nebelfeen kamen, im Herbst vor zwei Jahren, als er starb, aber nicht zu mir...“
Ohne etwas zu sagen, legte er seinen Arm um sie, streichelte sanft ihr Haar.
„Manche Menschen verschließen aus Angst vor der Trauer ihr Herz, dann können die Feen ihren Weg nicht finden.“
Wie das leise Murmeln des Windes, der zärtlich durch die Blätter rauscht, drangen die Worte an ihr Ohr.
„Keine Angst, sie werden ihm nur seinen Platz in deinem Herzen geben.“
Yancy schloss die Augen, atmete tief und gleichmäßig, nur der Mann, der sie im Arm hielt, konnte die Nebelfeen sehen, die ihren Körper verließen...