- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 1
Nebel
Es war ein düsterer, wolkenverhangener Montag im September, als Susanne, festlich gekleidet, zum Friedhof am Rande der Stadt fuhr, um einem Mann die letzte Ehre zu erweisen, für den der Tod eine Art Erlösung bedeutete.
Sie dachte die ganze Fahrt über an ihn, an sein Leben und auch an seinen Tod. Susanne war gerade mal 20 Jahre alt und hatte sich noch nie so richtig mit dem Tod auseinandergesetzt, aber in diesem Augenblick fühlte sich die junge blonde hübsche und lebenslustige Frau deprimiert und einsam, ein Gefühl das sie sonst nicht kante, sie hatte immer gern Leben um sich herum. Doch jetzt war sie es, einsam mit ihren Gedanken, die immer bedrückender auf sie herab fielen, und immer mehr begannen sie zu quälen. „So etwas beschäftigt dich doch sonst nicht“ flüsterte sie leise vor sich hin.
Dennoch fand sie kein Entkommen aus diesem Gewirr ihrer Gedanken. Unzählige Fragen stellten sich ihr unentwegt, während die junge Frau die Häuser und Lichter der belebten Stadt hinter sich lies und sich dem abgelegenen Friedhof näherte. Fragen wie, „Was habe ich in meinem Leben schon sinnvolles gemacht?“ oder „Wieso bin ich eigentlich auf der Welt?“ Sie grübelte andauernd über diese und ähnliche Fragen, aber eine wirkliche Antwort vermochte sie nicht zu finden.
Auch nicht, als sie in die letzte Kurve einbog, die auf einen kurzen Schotterweg führte, der links und rechts von hohen Laubbäumen begrenzt war, die diesem ohnehin schon düsteren Tag noch mehr Licht entzogen, und die Umgebung um Susanne herum immer dunkler erscheinen ließen. Der Weg endete an dem Parkplatz des Friedhofs, wo Susanne ihr Auto abstellte und sich auf den Weg zur kleinen Kapelle, in der Mitte des Friedhofs machte.
Dort angekommen öffnete die junge Frau das schwere Metalltor und fand sich schließlich alleine in diesem schlichten, für eine Kirche, aber dennoch sehr einladend wirkenden Raum. Sie schritt langsam an den leeren graugestrichenen Sitzbänken vorbei in Richtung des Altars, einem kleinen eher spärlich geschmückten Steingebilde, neben dem der Leichnam des alten Mannes aufgebart lag.
Der Sarg stand offen, sodass sie einen Blick auf den Gestorbenen werfen konnte. Es war ihr Nachbar, Herr Schreiter. Herr Schreiter war in einen eleganten, schwarzen Anzug gekleidet, wozu er ein weißes Hemd, verziert mit einer dunkelroten Krawatte trug. Seine Hände waren über der Brust gefaltet und er strahlte für Susanne etwas unschuldiges, frommes aus. So wollte sie ihren Nachbarn in Erinnerung behalten.
Kennen gelernt hatten sich die beiden, obwohl sie schon mehr als 3 Jahre nebeneinender gewohnt hatten erst vor ca. 2 Monaten, als der Alte sich nach einem Einkauf schwer tat, die Einkaufstüten in seine Wohnung zu tragen. So hatte des Mädchen ihm geholfen die Taschen in seine vier Wände zu bringen und die beiden kamen dabei ins Gespräch.
Susanne besuchte Herrn Schreiter immer häufiger, wodurch sie den Mann immer besser kennen lernen konnte. Sie war der einzige Mensch gewesen zu dem Schreiter noch regelmäßig Kontakt hatte, wie Susanne im Laufe ihrer Gespräche feststellte. In den vergangen 2 Monaten schloss die junge unbekümmerte Frau den vereinsamten Nachbarn immer mehr in ihr lebhaftes Herz.
Um so schrecklicher war es für Susanne als Herr Schreiter vor 5 Tagen auf ihr wiederholtes Klopfen nicht antwortete. Sie rief die Polizei, die dann die Tür aufbrach und dort den leblosen Körper des Nachbarn vorfand. 30 Minuten später konnte der herbeigerufene Arzt nur noch den Tod feststellen.
Sie ließ die vergangenen 60 Tage vor ihrem inneren Auge noch einmal ablaufen, und ihr war als ob sie sich noch genau an jedes einzelne Wort des alten liebenswürdigen Herrn erinnerte, während sie wie gelähmt mit gefalteten Händen vor dem schlichten Holzsarg stand.
Da vernahm sie plötzlich das leise Knarren des Kirchentors, woraufhin sie sich umdrehte und sah wie ein junger, etwas dreißig jähriger, großer, schlaksiger Mann mit kurzen dunklen Haaren auf sie zukam. Es war der Pfarrer, wie Susanne an seiner Kleidung feststellen konnte.
Er reichte ihr zur Begrüßung die Hand, die die junge Frau auch gleich ergriff. Sie fühlte sich weich und warm an, während ihre Hände kalt und beinahe gefroren waren.
„Guten Tag mein Name ist Schmidt“, stellte sich der Geistliche vor. „Hallo“, erwiderte Susanne unsicher, sie wusste nicht so recht, ob sie hier sein sollte, immerhin kannte sie Herrn Schreiter ja kaum und nur flüchtig. „Schön, dass Sie hier sind, Sie sind bisher noch die einzige Angehörige, die erschienen ist.“ „Ich bin keine Angehörige von Herrn Schreiter ich bin nur seine Nachbarin. Es wundert mich aber nicht, dass aus seiner Familie hier ist.“ „Wieso denn nicht?“ wollte Pfarrer Schmidt wissen.
„Wissen Sie, er hat 2 Kinder, einen Sohn, der ist Anwalt in Bochum, und eine Tochter, die Ärztin in Hamburg ist. Herr Schreiter hatte ein Foto von ihnen auf seinem Nachttisch. Jedes Mal als ich ihn besucht habe hat er mir von seinen Kindern erzählt, wie stolz er auf sie sei und, dass er hofft, sie bald wieder zu sehen. Aber auf ihren Besuch hat er bis zu seinem Tod vergeblich gewartet. Nicht einmal nachdem er gestorben war konnten sie ein wenig Zeit aufbringen.“ Eine bedrückende Stille erfüllte jetzt den Raum und beide vermochten nicht ein Wort zu dem anderen zu sagen. Nach einem schier unendlich erscheinenden Moment der Stille bracht der Priester diese in der er Susanne fragt, wie lange sie den Toten denn schon kenne. „Ich habe ihn vor etwa 2 Monaten kennen gelernt, als ich ihm beim einkaufen half. Seit dem habe ich mich immer wieder mit ihm unterhalten.“ „Worüber haben sie denn gesprochen?“ fragte Schmidt. „Er hat mir oft von seiner Kindheit erzählt, vom Krieg und seinem Leben nach dem Krieg. Aber am liebsten hat er mir von seinen Kindern erzählt, Johannes und Sarah. Er war immer davon überzeugt, dass sie gute Kinder waren und gab nie die Hoffnung auf, dass sie ihn einmal besuchen würden. Er lud sie jedes Jahr zu Weihnachten ein aber nach dem Tod seiner Frau vor 5 Jahren wartete er vergebens und verbrachte das Fest meist alleine.“
Die beiden unterhielten sich noch eine Weile und der Priester fragte sie weiter über Herrn Schreiter und ihr Verhältnis zu ihm. Das Gespräch dauerte noch etwa eine halbe Stunde, bis dann schließlich die Trauerfeier begann. Susanne setzte sich auf eine Bank in der erste Reihe. Sie war noch immer die einzige Besucherin und sollte es auch bleiben.
In seiner Predigt redete der Pfarrer über das Leben des Herrn Schreiter und zitierte viele trostspendende Stellen aus der Bibel. Die Predigt lies Susanne nicht unberührt, und sie musste immer wieder mit den Tränen kämpfen, aber gleichzeitig schöpfte sie aus den Worten des Pfarrers neue Hoffnung, Hoffnung hinsichtlich ihres noch jungen Lebens und der Vergänglichkeit des Lebens.
Pfarrer Schmidt beendete seine Rede mit den Worten Herman Hesses:
Seltsam im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch sieht den Anderen,
Jeder ist allein.
Während Susanne diesen Worten lauschte, fühlte sie, wie eine warme Träne aus ihrem Auge langsam ihre Wange runterlief und konnte sich schließlich nicht mehr gegen ihre Tränen wehren. Sie begann zu weinen. Ein befreiendes Gefühl für Susanne.
Es blieben an diesem düsteren, wolkenverhangenen Montag im September die einzigen Tränen die um den einsamen alten Mann vergossen wurden.