Nazi
Habt ihr schon mal die Prügel eures Lebens bezogen? Ich meine, hat euch schon mal jemand so dermaßen die Fresse poliert, dass ihr das Gefühl hattet, eure letzte Stunde hätte geschlagen? Ich schon. Und da war ich gerade einmal vierzehn. Nein, es waren nicht meine Eltern, die mich verprügelten. Die haben mich nie geschlagen. Es war jemand auf der Straße. Ich kannte ihn nicht. Was ich getan habe? Nichts. Ich kann mich zumindest nicht mehr daran erinnern.
Ich ging die Straße entlang. Kam gerade aus der Schule. Es muss so gegen halb zwei gewesen sein, als mir so ein Typ mit seiner Freundin entgegen kam. Beide mit einer Bierdose in der Hand und ich Idiot hatte noch überlegt, ob ich nicht besser die Straßenseite wechseln sollte. Tja, ich hab´s nicht getan. Ich weiß noch, wie ich gedacht habe: Sei nicht so ein Feigling! Dabei hätte jeder halbwegs Überlebenswillige die Straßenseite gewechselt, wenn ihm so jemand entgegen kommt. Springerstiefel, Bomberjacke, Glatze.
Eigentlich war ich ja schon immer ein Feigling. Weshalb ich das Ganze noch viel weniger verstehe. Ich wurde durch die gesamte Schulzeit hindurch gehänselt und zuweilen auch verprügelt.
Wieso habe ich an diesem Gott verdammten Tag nicht auf meine Feigheit gehört? Vermutlich weil ich einen echt beschissenen Tag hinter mir hatte. Ich verbrachte den Morgen für eine halbe Stunde auf der Schultoilette, weil mich ein paar Scherzkekse darin eingesperrt hatten. Dadurch kam ich zu spät zur Mathearbeit, was aber nicht so schlimm war, weil ich die Zeit hinten dran hängen durfte, weil das ja nicht meine Schuld war. Dafür wiederum musste ich die Pause opfern. Wobei ich allerdings ein paar Minuten raus durfte, nachdem ich meine Mathearbeit abgegeben hatte. Hab dadurch nur was deutsch verpasst. Ging also. Als ich wieder in die Klasse kam, war allerdings mein Ranzen weg. Zwei Stunden hatte ich bestimmt nach ihm gesucht. Gefunden hatte ich ihn nach der Schule dann am Tor zum Schulhof im Gebüsch. Ausgeschüttet natürlich.
Und dann kommen mir auf dem Nach-hause-Weg auch noch diese voll gesoffenen Penner entgegen. Vermutlich hatte ich die gar nicht so richtig registriert. Zumindest nicht, dass die mir gefährlich werden könnten. Bis der Typ zu mir meinte (ich war gerade an ihnen vorbei gegangen), ich solle mal stehen bleiben.
Was tut man in so einer Situation? Weglaufen? So tun, als hätte man ihn nicht gehört? Tun, was er sagt?
Ich hatte mich für die zweite Variante entschieden. Und nachdem die nichts brachte – er rief mich natürlich nochmal und ging dabei langsam hinter mir her -, wechselte ich zur ersteren.
Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass er nicht sonderlich lange brauchte, um mich einzuholen. Und – natürlich - packte er mich am Tragegriff meines Ranzens. Ich habe ja so das merkwürdige Gefühl, dass diese Griffe genau zu diesem Zweck entworfen wurden. Von der Schläger-Lobby quasi zu diesem Zweck finanziert.
Er drehte mich um.
Ich hatte ja damit gerechnet, dass er mir erst noch was erzählt, mich vielleicht ein wenig schubst, quasi seine Macht über mich in vollen Zügen genießen möchte und mir noch ein wenig Schonzeit bleibt. Aber nein. Ich hatte davor noch nie erlebt, dass ein Mensch so versessen darauf war, einem anderen Menschen Schmerzen zuzufügen.
In dem Moment, wo er mich umdrehte, schlug er mir auch schon mit seiner Faust ins Gesicht.
Ich weiß noch, wie ich mich für einen winzigen Moment, bevor mich der Schlag traf, umgesehen hatte, in der Hoffnung, Hilfe zu finden.
Es ist unglaublich, wie schnell Menschen plötzlich verschwinden können, wenn Ärger droht. Vor allem, wenn einem anderen Menschen in ihrer Nähe Ärger droht.
Mein Gott, ich war vierzehn. Noch ein Kind. Und ein erwachsener Mensch prügelte auf offener Straße auf mich ein. Kein Schwein gab auch nur den kleinsten Mucks von sich, um mir zu helfen.
Ich dachte wirklich, ich müsste sterben. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, mit was für einer Wut er auf mich einprügelte und eintrat, sogar als ich schon am Boden lag.
Ich hörte seine Freundin kichern und auch er grölte vor Lachen. Und wie er grölte. Seine Lache, seine dämliche Lache, an die kann ich mich noch so gut erinnern. Sie hörte sich an, wie ein Husten- und Asthmaanfall in einem, und dazwischen immer so ein langes Röhren, wie eine Elchkuh beim Paarungsruf. Ich glaube, dieses Lachen werde ich im Leben nicht mehr vergessen.
Irgendwann wurde dann alles schwarz.
Ich wachte im Krankenhaus wieder auf.
Fünf Tage war ich weggetreten, sagte man mir. Fünf Tage. Und als ich aufwachte, war ich fast zur Hälfte eingegipst und atmete mit Hilfe einer Maschine, die neben mir stand und munter vor sich hin zischte. Den Typen hatte man nie erwischt.
Ich weiß noch, wie der Arzt rein kam und sagte – kein Witz -, er sagte zu mir: „Ah, er ist aufgewacht, unser Glückspilz.“ Ohne Scheiß. Ich lag da mit einem Knochenbau, der vermutlich eher einem Puzzle als einem menschlichen Skelett glich, der seine Nahrung in flüssiger Form direkt in die Vene gespritzt bekam und dessen Atmung man mit einem Off-Schalter beenden konnte. Und dann kommt da so ein weißer Kurpfuscher daher, der mich als Glückspilz bezeichnet. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie sehr ich diesen Menschen in mein Herz geschlossen hatte. Aber das Schlimmste daran war: Er hatte auch noch Recht.
Ich hatte ein Schädel-Hirn-Trauma mit dazu gehörigem Schädelbasisbruch, Gehirnblutungen und allem Pipapo. Ich war kurz vorm Exitus. Der Nazi hatte also ganze Arbeit geleistet (vermutlich das erste Mal in seinem Leben). Und auch, wenn er mich nicht umbrachte, so gab er mir doch einiges für den Rest meines Lebens mit auf den Weg. Ein Großteil meiner Zähne besteht heute aus Keramik. Allerdings dauerte es verdammt lange, bis meine Beißutensilien wieder einigermaßen annehmbar aussahen, weshalb ich den Rest meiner Jugend aus dem Beuteschema der Mädchen ausschied. Auch leide ich bis heute unter einer Gehörschädigung. Höre auf dem rechten Ohr nicht mehr sonderlich gut. Hinzu kommt, dass ich unter Epilepsie leide, was irgendwie dadurch hervorgerufen wurde, dass das damalige SHT, also das Schädel-Hirn-Trauma, beziehungsweise die dabei hervorgerufene Blutung Narben am Gehirn hinterlassen hatte. Selbst wenn ich wollte, könnte ich dieses Erlebnis von damals also nicht vergessen. Schließlich werde ich jede Gott verdammte Minute daran erinnert. Schon morgens beim Zähneputzen, wenn ich meine Brücke raus nehme, um sie zu reinigen. Ich gucke dann in den Spiegel, und sehe im oberen Zahnfleisch nur ein paar Teleskope, an denen die Brücke befestigt wird, wo eigentlich Zähne sein sollten. Dort überall sollten eigentlich Zähne sein. Aber außer den Teleskopen sehe ich dort nur nacktes Zahnfleisch, und ich ekel mich schon fast vor mir selber.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Und ich führe wieder ein einigermaßen normales Leben, was ich nicht zuletzt meinem Psychiater zu verdanken habe. Ich habe ganz gut gelernt, mit meinen Beschwerden zu leben. Meine Kollegen – ich arbeite in einem kleinen Copy-Shop in der City – sind sehr nett und wissen von meiner psychischen Verfassung und von meiner Epilepsie. Und auch wenn ich bis heute keine Frau gefunden habe, die gewillt ist, ihr Leben mit mir zu teilen, so habe ich doch viele Freunde und Bekannte, und genieße mein Leben so gut es eben geht.
Mein Job ist keine sonderlich anspruchsvolle Tätigkeit, was für meine Person auch nicht sehr von Vorteil wäre. Mein Gedächtnis macht mir seit damals auch immer wieder zu schaffen. Ich vergesse schon mal die einfachsten Dinge und kann mir auch kaum etwas sonderlich lange merken.
Nun, wie dem auch sei. Vor ein paar Tagen betraten zwei Kunden den Laden. Ich stand gerade an einem unserer Kopierer. Ich kopierte irgendwelche Flyer für ein Dorfkonzert. Mein Kollege war gerade eine rauchen. „Einen Moment bitte. Ich bin gleich bei Ihnen.“, sagte ich freundlich. Ich hatte mich dabei allerdings nicht umgedreht. Vielleicht war das unhöflich. Aber ich war ja gerade beschäftigt. Und es hörte sich auch nicht so an, als hätten die Kunden mir das übel genommen.
„Ja Meister, nur keine Hektik.“, sagte einer der beiden.
Eine Minuten ließ ich sie vielleicht warten. Länger nicht. Dann wandte ich mich ihnen zu. Es waren zwei ältere Herren, vielleicht so um die fünfzig. Welche von der Sorte, die schon ihr Frühstück mit Bier runterspülen. Aber das macht ja nichts. Ich behandle alle Kunden gleich. Der eine hatte eine Mappe in der Hand, wo, wie ich vermutete, etwas drin war, was er kopiert haben wollte. Also bei uns in dem Laden ist es so, dass wir alles für unsere Kunden kopieren. Ich weiß, es gibt auch Copy-Shops, wo die Kunden das selber machen dürfen. Bei uns aber nicht. Und es liegt nicht daran, dass einige meinen, uns verarschen zu können, was die Anzahl ihrer Kopien angeht (wir hatten nämlich mal ausprobiert, einen Do-it-yourself-Laden daraus zu machen). Nein, es geht vielmehr darum, dass es Leute gibt, die nicht mit einem Kopierer umgehen könnten, selbst wenn dieser nur einen einzigen Knopf hätte, auf dem dick und fett KOPIEREN steht. Und dann gibt es noch Leute, die bedienen die Tasten des Kopierers so liebevoll wie eine Schlagbohrmaschine eine Betonwand. Da machen wir das doch lieber selber. Ist auf Dauer billiger.
Ich fragte sie also, womit ich ihnen helfen könne. Daraufhin sagte der eine (der ohne Mappe): „Einmal Pommes rot-weiß.“ Nun gut, ich fand den Witz jetzt nicht sooo toll. Sein Kumpel, also der mit der Mappe, schien jedoch gänzlich anderer Meinung als ich. Er fand das wohl urkomisch, wie man seiner Lache entnehmen konnte. Ich lachte nicht. Vermutlich hielten die mich für einen Spielverderber, oder so etwas. Bevor der Lacher einen richtigen Lach-Flash bekommen konnte, wurde er abrupt wieder ernst und drückte mir seine Mappe in die Hand.
„Zehn mal kopieren, jedes Blatt.“, sagte er.
Ich drehte mich also um, nahm die Blätter aus der Mappe und erkannte sofort, dass es sich dabei um Bewerbungsunterlagen desjenigen handelte, der mir die Mappe überreichte. Sein Foto prangte schön säuberlich auf dem Bewerbungsschreiben. Gerade als ich das erste Blatt auf den Kopierer legte, musste der eine – der ohne Mappe – wohl erneut einen Witz gerissen haben, den ich jedoch - dank meiner leichten Hörschädigung - nicht mitbekam. Nur wurde ich das eigenartige Gefühl nicht los, dass ich erneut Opfer seiner humoristischen Einlage war.
Dieser Witz muss noch um ein Vielfaches besser gewesen sein, als der vorherige, denn der andere lachte diesmal noch lauter als zuvor. Er bekam sich überhaupt nicht mehr ein. Diesmal bekam er tatsächlich seinen Lach-Flash.
Und dann, mit einem mal, traf mich der Schlag. Seine Lache verwandelte sich in ein Grölen. Und bis heute würde ich alles darauf verwetten, dass es genau das gleiche Grölen war, das ich damals hörte, als ich vor Schmerzen gekrümmt auf dem Boden lag und mein altes Leben endete und mein neues – das eines Krüppels – begann. So lange hatte ich immer wieder dieses Grölen in meinem Kopf vernommen. Nur diesmal war es nicht in meinem Kopf. Es war hinter mir.
Diese Mischung aus Husten- und Asthmaanfall, und dazwischen immer wieder dieses Röhren, wie das einer Elchkuh beim Paarungsruf. Jeder einzelne Knochen meines Körpers tat mir wieder weh. Ich fühlte mich wieder so wie damals. Jede einzelne Erinnerung war zurückgekehrt.
Ich weiß wirklich nicht, wie ich es geschafft hatte, diesen Auftrag zu ende zu bringen, abzukassieren und den Zweien, als die den Laden verließen, stumm hinterher zu blicken. Das Ganze kommt mir jetzt irgendwie wie ein Traum vor. Ich war regelrecht in Trance. Gar nicht mehr wirklich da.
Als mein Kollege wieder rein kam, fragte er mich, ob alles in Ordnung sei. Ich glaube, ich nickte. Ich sah die Zwei durch die Glastür unseres Geschäftes die Straße überqueren. Und ich weiß noch, wie ich mir in dem Moment wünschte, ein LKW solle jetzt kommen, und sie überfahren.
Dann sah ich an mir herab. Ich hielt etwas in der Hand. Ein Blatt. Ein Blatt, das ich vergessen hatte, ihnen zurückzugeben. Hatte ich es wirklich vergessen? Ich weiß es nicht. Ich betrachtete das Blatt. Und die dämliche Fresse meines Peinigers grinste mir entgegen. Und jetzt, nach so vielen Jahren, wusste ich nun endlich, wie derjenige heißt, der mir all das angetan hatte. Denn sein Name prangte gut leserlich neben seinem Bild. Ebenso wie seine vollständige Adresse.
Ich arbeitete an diesem Tag länger. Ich arbeitete sogar die Nacht durch.
Und am nächsten Morgen fanden sich in vielen Briefkästen Flyer mit einer kleinen Geschichte, ähnlich derer, die ich euch gerade erzählte. Und sollte jemand dieser Geschichte keinen Glauben schenken, kann er ja den Nazi fragen; denn sein Name, seine Adresse und auch sein Foto befanden sich ebenfalls auf dem Flyer.
Wieso ich das getan habe?
Ich weiß es nicht. Es kam mir einfach so in den Sinn.