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Nausikaa
Manchmal, in stürmischen Nächten, wenn der Westwind das Meer mit Gewalt an die Felsen drückt, liege ich wach und lausche. Während die Brandung unterhalb meiner Hütte hämmert, als wolle sie ein Stück aus der Insel heraus meißeln, und ich darauf warte, dass der Sturm meine halbzerfallene Behausung von den Klippen fegt, gleiten meine Gedanken zurück zu dem Fremden, den uns der Westwind vor mehr als dreißig Jahren in einer ähnlichen Nacht vor die Füße spülte.
Ich war damals noch ein Kind, vierzehnjährig, alt genug, um die Wäscherinnen an die Flussmündung zu begleiten, aber noch so kindisch, dass ich unter die Ladung schmutzigen Leinens einen Ball schmuggeln musste. Dann, als wir alle darauf warteten, dass die Wäsche trocknete, trotzte ich den Mägden ein Fangspiel ab. Wir liefen den Strand auf und ab und warfen uns den Ball zu. Fing eine ihn nicht, musste sie den Namen ihres Liebsten rufen. Ich achtete darauf, den Ball zu fangen, weil es für mich nichts zu rufen gab.
Später lobten sie meinen Mut, da ich nicht kreischend fortrannte wie die anderen Frauen, als der Fremde, nur mit einem belaubten Zweig dürftig verhüllt und halb mit Schlick bedeckt, durch das Unterholz brach. Aber es war weniger Mut als vielmehr eine seltsame Faszination, die mich wie angewurzelt an meinem Platz hielt. Trotz des erbärmlichen Zustands, in dem er sich befand, zerzaust, verdreckt und völlig erschöpft, erschien mir dieser Mann keinesfalls als das Ungeheuer, für das ihn meine Gefährtinnen hielten. Er war schön, in einer Art, wie ich es weder von den Kriegern am Hofe meines Vaters kannte noch von den Priestern, mit denen sich meine Mutter ständig besprach. Er ließ sich in einiger Entfernung von mir auf die Knie fallen und rief mir etwas von einem Schiffbruch zu, den er erlitten habe. Dann fragte er nach dem Namen unserer Insel.
Ich reckte mich zur vollen Länge meiner vierzehn Jahre und antwortete so hoheitsvoll wie möglich „Du bist auf Scheria, Fremder, und sprichst mit Nausikaa, der Tochter Alkinoos’, des Königs der Phäaken.“ Nach seinem Namen zu fragen vergaß ich, weil mittlerweile die Wäscherinnen zurückgekommen waren und uns tuschelnd und kichernd umstanden. Ich ließ ihm Kleidung bringen – frische Wäsche hatten wir reichlich – und gab ihm von unserem Proviant zu essen. Und während er ausgehungert aß, konnte ich mich nicht satt sehen: Ich war ein Kind.
Er durfte uns auf unserem Heimweg begleiten, aber wir ließen ihn am Rand des Wäldchens zurück, von wo wir den Blick auf den weiß schimmernden Palastkomplex inmitten blühender Gärten genossen. Da war ich zuhause, aber wie mir meine Begleiterinnen zugeraunt hatten, war es unmöglich, ihn bis dorthin mitzunehmen, ohne dass sich die Stadtbewohner die Mäuler zerrissen hätten. Also beschrieb ich ihm nur den Weg durch die Stadt und die ungefähre Lage des Teils des Palastes, in dem sich meine Eltern in den frühen Nachmittagsstunden aufzuhalten pflegten; dann trennten wir uns.
Den weiteren Tag verbrachte ich damit, mit den anderen Frauen die Wäsche zu sortieren, auf Löcher und eingerissene Nähte zu prüfen, zu flicken, zu pressen, zu falten und vor mich hin zu träumen. Der Duft von frisch gereinigtem Leinen durchzog den Raum und versetzte alle in Hochstimmung. Einige summten leise vor sich hin, alle anderen redeten über das, was am Strand geschehen war. Ein ums andere Mal stieß mich Melete, das Dienstmädchen, das mir am nächsten stand, an und wollte mich in das Gespräch ziehen, aber ich antwortete nur einsilbig. Mein Herz sang - in einer Lautstärke, die alle anderen Geräusche übertönte und auslöschte.
Es fing bereits an zu dämmern und die Frauen, die flickten, rückten immer näher ans Fenster, um das letzte Tageslicht auszunutzen, als ein Raunen durch den Raum ging und die Gespräche verstummten: meine Mutter war eingetreten. Sie stand im Türrahmen, die Hände lose vor dem Schoss, und rief in das angebrochene Schweigen nur halblaut meinen Namen. Sie war es nicht gewohnt, zweimal zu rufen. Ich drückte Melete, der ich beim Zusammenfalten geholfen hatte, meinen Teil des Lakens in die Hand und ging in Richtung der Tür. Meine Mutter drehte sich um und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir blieben einige Schritte weiter stehen, außer Hörweite der dort Beschäftigten.
Meine Mutter lächelte. „Du hast heute eine Bekanntschaft gemacht“, sagte sie. Ich wurde rot und setzte zu sprechen an, aber sie hob die Hand. „Er war diskret genug, dich nicht zu erwähnen, bevor wir allein mit ihm waren und ihn ausdrücklich darauf ansprachen.“
„Woher …?“, setzte ich an und sie lachte.
„Er trug Kleider deines Bruders, die du zum Waschen mitgenommen hattest. Glaubst du, ich erkenne meine eigene Stickerei nicht?“ Dann fuhr sie sehr viel ernster fort: „Dein Vater hat sich jetzt seiner angenommen. Er hält es für ausgeschlossen, einem Schiffbrüchigen die Gastfreundschaft zu versagen, auch wenn Euthanoos“, sie lächelte wieder, diesmal unbewusst, wie sie es immer tat, wenn sie über den Hohepriester sprach, „Schiffbrüchige grundsätzlich für Feinde Poseidons hält. Wie dem auch sei: ich wünsche ausdrücklich, dass du dich von unserem Gast fernhältst. Wenn ihm Kleider geschenkt werden mussten, hast du sicher mehr von ihm gesehen als nötig. Ich erwarte also von dir, dass du, solange er unter uns weilt, die Frauengemächer nicht verlässt."
Ich senkte den Kopf und nickte, nach außen gehorsam, im Herzen widerwillig. Meine Mutter legte nur noch kurz ihre Hand auf meinen Scheitel und verließ mich in Richtung des Hauptgebäudes. Ich blieb zurück, sah zu, wie die Abendschatten die Wand vor mir erklommen und rührte mich erst von der Stelle, als Melete aus der Tür zum Wäscheraum mehrmals nach mir rief.
Der nächste Tag sollte ein Festtag zu Ehren des Gastes sein. Entsprechend groß war die Aufregung und Geschäftigkeit, die jeden im Palast gepackt hatte. Für mich war allerdings keine Tätigkeit vorgesehen und ich war zu keiner Belustigung geladen. Meine fünf Brüder, die mich am Morgen besuchten, erzählten mit leuchtenden Augen von den Spielen, die vom späten Vormittag bis zum Abend stattfinden sollten, und in welchen Wettkämpfen sie antreten durften. So hatte ich wenigstens ein bisschen zu tun, weil dem einen am Festgewand eine Naht aufgegangen, dem anderen das vom älteren Bruder übernommene Sportzeug gekürzt werden musste. Aber dennoch blieben lange Pausen, in denen ich nur still dasaß und sehnsüchtig und neidisch auf die Mägde starrte, die von Zeit zu Zeit erhitzt und erschöpft vom Heranschaffen, Auftragen und Forträumen zurückkehrten. Wie gerne hätte ich mit ihnen getauscht.
Eine Gelegenheit dazu bot sich erst am frühen Abend, kurz bevor das Festmahl beginnen sollte, als eines der Küchenmädchen, Achilina, eine kräftige, grobschlächtige Frau, sich weigerte, den Dienst wiederaufzunehmen, weil sie krank sei. Jemand musste in der Küche Bescheid geben und ich bot mich sogleich dazu an, um einen Vorwand zu haben, trotz ausdrücklichem Verbot nun doch einem gewissen Fremden über den Weg laufen zu können.
Des Ärgers wohl gewahr, der mich erwartete, sollte meine Mutter mich sehen, schlich ich durch die Gänge, wich jedem Schrittgeräusch sorgsam aus und hütete dabei wie einen kostbaren Schatz in Gedanken alles, was ich von unserem geheimnisvollen Gast in Erfahrung hatte bringen können. Viel war es nicht. Seinen Namen konnte mir immer noch niemand verraten, seine Herkunft war völlig unbekannt, obwohl mein Vater – so erzählten es die Aufwärterinnen, die am Vortag in der großen Halle Dienst getan hatten – ihm zugesagt hatte, ihn heimbringen zu lassen. Irgendwann würde der Zielort dieser Reise bekannt werden müssen, um den Kurs und die nötige Proviantierung festlegen zu können. Hier hieß es also nur zu warten. Währenddessen hatte ich an Informationen gesammelt, was ich bekommen konnte, ohne nach außen allzu viel Interesse zu zeigen. Da die Dienerinnen über nichts anderes redeten, wusste ich bald, ohne groß nachzufragen, wo er untergebracht war, was er gefrühstückt hatte, welche Kleidung er trug und vieles mehr, von dem ich heute nicht mehr sagen kann, warum es mich überhaupt interessierte.
Meine Brüder, die mich aus Mitleid oder, um vor mir anzugeben, während des ganzen Tages immer wieder aufgesucht hatten, wussten von der Wurfkraft und Treffsicherheit des Fremden beim Scheibenwurf zu berichten. Insbesondere Laodamas, der älteste, schwärmte von der Besonnenheit und Würde, mit der unser Gast die Provokation der jungen Leute hingenommen hatte und sich nicht zu schade gewesen war, seine Sportlichkeit unter Beweis zu stellen. Dass er dabei als Sieger hervorgegangen war, war für mich so selbstverständlich, dass ich nicht einmal nachgefragt hatte.
Je näher ich meinem Ziel kam, desto voller wurden die Gänge und desto weniger war es möglich, ungesehen zu bleiben, aber ich blieb unbemerkt und unbeachtet. Selbst die Palastwachen hatten alle Wachsamkeit abgelegt und waren schon leicht angetrunken, da sie jede Dienerin, die sie mit einem Weinkrug passieren wollte, festhielten, zwickten und erst von ihr abließen, wenn ihnen ein Schluck aus dem Krug gestattet wurde. Die Dienerinnen quittierten diese Attacken meist mit indigniertem Protest, oftmals aber auch mit einem wohl gelaunten Scherzwort. Niemand schien sich an dieser Pflichtvergessenheit zu stören, alle Vorgesetzten waren entweder bei den Feierlichkeiten auf dem Marktplatz oder in Erwartung der Ehrengäste in der Festhalle versammelt.
Meine Hände waren feucht, mein Mund trocken, als anschwellende Tanzmusik die Ankunft der Prozession ankündigte. Allen voran schritten meine Eltern, so tief im Gespräch miteinander vertieft, dass sie mich tatsächlich übersahen. Dann kam er. Ich nahm allen Mut zusammen und trat einen Schritt vor. Da die Musikanten mit ihren Auloi und Kitharas und die Tänzerinnen mit ihren ausladenden Bewegungen am nicht allzu breiten Eingang zur Halle einen Stau verursachten, war die Prozession kurz ins Stocken geraten und diese Gelegenheit nutzte ich, um ihn eingehend zu mustern. Er war kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, sein Bart war nun gestutzt, das lange Haar fiel sauber gekämmt seinen Rücken hinunter, er trug ein Gewand meines Vaters und ein ebenfalls geliehener Umhang war mit goldenen Schnallen an seiner linken Schulter festgemacht. Der hinter ihm schreitende blinde Sänger Demodokes, dem der plötzliche Stillstand verborgen geblieben war, stieß ihn mit seiner Leier leicht am Rücken an, was den Fremden aus seiner Versunkenheit riss. Er hob den Kopf, sah mich und lächelte nach einigem Zögern. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mich überhaupt wiedererkannte, also stieß ich mit brennenden Wangen hervor: „Ich hoffe, du wirst dich an mich erinnern, wenn du wieder zu Hause bist, schließlich habe ich dir ja gewissermaßen das Leben gerettet.“
Er zwinkerte. „Nausikaa“, sagte er, „wie könnte ich dich vergessen?“ Er hatte sich meinen Namen gemerkt!
Als ich eiligst zurück zu den Frauengemächern huschte, war jeder zweite meiner Schritte ein Hüpfer. Und mit meinem Kopf war ich so in den Wolken, dass ich nicht acht gab, wer mir entgegenkam. So stieß ich mit Euthanoos zusammen. Er war, so erfuhr ich später, der Volksversammlung auf dem Marktplatz aus Protest ferngeblieben, wollte es sich aber nicht nehmen lassen, am Gelage teilzunehmen und hastete aus diesem Grund ebenso unaufmerksam durch den Palast wie ich.
Er wusste sicher von meinem Hausarrest, unzweifelhaft hatte meine Mutter sich mit ihrem engsten Vertrauten darüber beraten. Ich stammelte die Ausrede von der wichtigen Botschaft für die Küche, was ihn für den Augenblick dazu brachte, von mir abzulassen und mir den freundlichen Rat zu erteilen, ohne weiteren Verzug in meine Kammer zurückzukehren. „Deine Mutter wird sich freuen, von deinem Pflichtbewusstsein zu hören“, sagte er und ich verstand die Drohung, die in seinen Worten lag.
So hatte ich gleich zwei Gründe, nicht schlafen zu können: meine kindische Schwärmerei für einen Mann, von dem ich nach wie vor nichts wusste, und die nicht minder kindische Angst vor den Folgen meines Ungehorsams. Das Fenster meiner ebenerdigen Kammer zeigte aufs Meer hinaus oder besser gesagt auf die Gartenanlagen, die auf einer Seite von der Palastmauer, von der anderen Seite vom Strand eingegrenzt waren. Und nachdem ich sehr lange am Fenster gestanden und dem Meeresrauschen gelauscht hatte, packte mich ein wilder Trotz. Mehr als bestrafen können sie mich nicht, dachte ich, schwang mich im Nachtgewand durch die Öffnung und ließ mich dann vorsichtig an der Mauer hinab. Es war schon sehr spät, die Musik in der Festhalle war verstummt, der vom Mond beleuchtete Garten war menschenleer. Ich wollte ans Meer, auf das Wasser sehen, das ihn gebracht hatte und wieder forttragen würde.
Vor den Mond hatte sich eine Wolke geschoben, aber ich kannte die Unebenheiten des Bodens, wo der Garten in den Strand mündete, sodass ich, obwohl ich in der Dunkelheit kaum mehr als Schemen erkennen konnte, sicheren Schrittes zum Wasser hinunterging. Umso mehr erschrak ich, als plötzlich ein dunkler Umriss vor mir sich bewegte und mir entgegen sprang. Zur gleichen Zeit brach das Mondlicht zwischen den Wolken hervor, und ich sah die Klinge eines Dolches knapp vor meiner Kehle aufblitzen. Ich schrie nicht, wagte es nicht, mich zu rühren. Vielleicht schloss ich auch die Augen, ich erinnere mich nicht mehr. Irgendwann muss ich sie auf jeden Fall wieder geöffnet haben, denn ich sah wie die Klinge nach unten wegrutschte und in den Boden vor meinen Füßen gestoßen wurde. Als ich an den Beinen des Mannes vor mir hochsah, blickte ich in die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen des Fremden. Er musterte mich weniger besorgt oder entschuldigend als vielmehr ärgerlich.
„Nausikaa? Was tust du hier?“, fragte er. „Bist du verrückt, dich so anzuschleichen? Ich hätte dich töten können.“ Dann wandte er sich bitter lachend ab und hockte sich wieder auf den Sand. „Kommst du etwa auch, um eine Geschichte zu hören? Ihr seid alle wild auf Geschichten, ihr Phäaken, nicht wahr?“, murmelte er. Ich antwortete nicht und blieb stehen, da er wieder den Knauf des nun halbvergrabenen Messers mit einer Hand umfasste. Er sah mich kurz über die Schulter an und nickte dann stumm eine Einladung, mich neben ihn zu setzen. Die nahm ich an und versuchte dabei, das Zittern in meinen Knien so gut es ging zu verbergen. Dann starrten wir beide eine Weile aufs Meer hinaus.
„Kannst du auch nicht schlafen? Vermisst du dein Zuhause?“ wagte ich schließlich leise zu fragen. Und dann neugierig: „Ist es weit bis dahin?“
Er schwieg. „Sie sind alle tot“, sagte er unvermittelt, als ich schon aufgehört hatte, mit einer Antwort zu rechnen. „Alle, die mit mir aus Ithaka ausfuhren. Ich habe keinen zurückgebracht. Wie kann ich dann selbst zurück? Was soll ich ihren Müttern, Bräuten, Kindern erzählen? Geschichten? Meine Heldentaten?“ Wieder das bittere Lachen. Dann wandte er sich mir heftig zu und ich konnte in seinem Gesicht nur das Weiß in seinen Augen und seine Zähne erkennen. „Ich will dir eine Geschichte erzählen, kleine Phäakin, meine größte Heldentat. Nicht einmal dein Vater und sein ganzer Hofstaat wissen davon. Denen habe ich viel erzählt heute Nacht, aber nicht alles, nicht das.
Denk dir eine Stadt wie die eure, aber umgeben von Weizenfeldern, schön, stolz, reich, und dann stell sie dir brennend vor. Die Flammen verzehren schon die Unterstadt, Winde tosen heiß, Menschen schreien, flüchten, werden niedergemacht, trampeln sich gegenseitig nieder, aber die Zitadelle steht noch, da muss ich hinauf. Die Stufen sind schlüpfrig vom Blut, es klebt bis in Mannshöhe an den Wänden. Wer von den Verteidigern überhaupt noch lebt, wälzt sich stöhnend darin. Wir stechen nieder, was sich rührt, es ist nicht mehr viel. In den dunkelsten Ecken kreischen Frauen, keuchen Männer stoßweise, du willst nicht wissen, was da geschieht, ich werde nicht darüber sprechen. Ich nehme eine Gruppe meiner Leute immer weiter hinauf, wir stoßen kaum auf Widerstand, Aias und Diomedes waren vor uns da. Aber sie haben nicht gesucht, was ich suche. Was ich finden muss, damit es ein Ende hat, damit es in zwanzig Jahren nicht wieder aufs Neue beginnt.“
Er hielt inne, atmete tief durch. „Ich wollte nicht mit, weißt du. Ich wollte den Ruhm nicht und nicht die Beute, sollten sie mich für wahnsinnig halten, dass mir der Felsbrocken, den ich mein Königreich nenne, und die paar Ziegen darauf wichtiger waren, aber sie glaubten mir den Wahnsinn nicht, den ich ihnen vorspielte. Sie lachten, als sie mich durchschauten. Sie hielten es für einen Scherz. Und ich spielte mit und ließ sie mich mitzerren. Manchmal wird man aus Feigheit zum Helden.“
Während er sprach, hatte er den Dolch aus dem Boden gezogen und damit gedankenverloren Zeichen in den felsigen Untergrund geritzt.
„Und dann“, fuhr er fort, „saß ich zehn Jahre vor dieser Stadt und sah meinen Leuten beim Verrecken zu. Und glaub mir, die meisten starben nicht im Kampf vor Troja. Und die wenigsten davon als Helden. Sie wurden einfach niedergemacht, weil sie nicht schnell genug rannten, keine Streitwagen hatten und ihre Wämse aus Leder und die Schilde nur aus Holz waren. Andere gingen an Krankheiten ein in der sumpfigen Kloake, die wir Lager nannten. Und am Hunger, in jedem Winter, wenn die Winde uns am Auslaufen hinderten und wir keine Beute machen konnten. Oder sie starben in Scharmützeln mit Leuten, die uns nichts Schlimmeres getan hatten, als in der Nähe zu wohnen und noch etwas zu besitzen, das wir brauchen konnten. Dieser lausige Krieg machte Raubmörder aus meinen Männern, Viehdiebe, Piraten. Und lass mir dir erzählen, was er aus mir machte.“
Er verstummte. Unweit der Stelle, an der wir saßen, kämpfte sich eine Krabbe an Land. Während ich darauf wartete, dass er weitererzählte, beobachtete ich das Tier, wie es quälend langsam den gepanzerten Leib in unsere Richtung schob.
Schließlich redete er wieder: „Denn ich finde, was ich suche. Eine Frau und ihr Kind. Sie sind bis an den Rand der Zitadelle geflüchtet, da, wo die Mauer viele Seilmaße über der Unterstadt aufragt. Ich sage den Männern, sie sollen die Frau festhalten und mir das Kind bringen. Ich halte das Kind und ziehe mein Schwert. Die Frau schreit wie ein Tier, vielleicht auch, weil jetzt einer meiner Männer auf ihr liegt. Das Kind ist still. Es ist ein Junge, nicht viel älter als ein Jahr, nicht viel jünger als mein eigener Sohn es war, als ich ihn zurücklassen musste. Es sieht mit großen Augen auf meinen Brustschild, in dem sich die Flammen, die in der Unterstadt lodern, rot schimmernd widerspiegeln. Und ich halte das Schwert, bis meine Faust verkrampft, und schaffe es nicht, es zu heben. Aber ich weiß, der Junge, den ich halte, der jetzt mit seinen kleinen Händen nach dem Widerschein der Flammen hascht, ist der künftige Herrscher der Stadt, die ich gerade zerstören half. Und meine Männer wissen es. Und die, die nicht gerade mit der Frau beschäftigt sind, warten darauf, dass ich tue, was ich tun muss. Ich sehe sie schlucken, als ich das Schwert wieder in die Scheide stoße.“
Die Krabbe war uns mittlerweile so nahegekommen, dass er sie spielerisch mit dem Dolch berühren konnte, um ihren Kurs zu ändern. Und das tat er, wieder und wieder, während er sagte: „Und ich nehme das Kind und werfe es im Bogen über die Zinnen, hinunter in die Unterstadt, dort, wo das Feuer am lautesten brüllt. Ich sehe ihm nicht nach. Nicht nötig, bei der Höhe und den Flammen. Und keine Ahnung, was aus der Frau geworden ist, ob sie noch lebte, als meine Männer mit ihr fertig waren.“
Er zuckte die Schultern und fuhr fort, mit der Krabbe zu spielen, bis ich es nicht mehr mit ansehen konnte, aufsprang und das Tier ergriff. Es zwickte mich mit seiner Schere, dass meine Hand blutete, aber der Schmerz war fast eine Erleichterung. Ich warf es in weitem Bogen zurück ins Meer und dann schauderte es mich.
Der Fremde schien von all dem nichts mitbekommen zu haben, denn er sprach einfach weiter aufs Meer hinaus: „Ich konnte keinen zurückbringen. Denn es ging ja weiter, immer weiter. Keine Stadt auf dem Rückweg war vor uns sicher. Wir hatten uns so daran gewöhnt, zu nehmen, was wir brauchten, zu zerstören, was wir nicht mitnehmen konnten, zu töten, wer uns zum Rächer werden drohte. Wie hätte ich so etwas, uns, mich, in unsere friedliche Heimat zurücktragen dürfen? Nicht die Sirenen oder Zyklopen, nicht Scylla und Charybdis, Kirke oder Kalypso, die Ungeheuer, die uns davon abhielten, nach Hause zurückzukehren, das waren wir selbst. Wie kann ich da zurück?“
Dabei sah er mich so verloren an, dass die eisige Taubheit, mit der ich seine Geschichte angehört hatte, wieder einer warmen Zärtlichkeit wich.
„Dann bleib doch hier“, brach es aus mir heraus. „Bleib doch bei mir.“
Ich weiß nicht, was ich als Reaktion auf dieses Angebot erwartet hatte, aber hätte er den Dolch, den er immer noch in Händen hielt, in mein Herz gestoßen, es hätte nicht mehr schmerzen können, als was dann folgte: In seinen Blick trat eine Mischung aus Verachtung und Spott.
„Du bist ein Kind und noch dazu ein dummes“, sagte er. „Ist das die Art, wie sich die Phäakinnen Männer besorgen? Hast du nicht zugehört? Ich habe Frau und Kind daheim. Und ich bin schon viel zu lange fortgeblieben.“ Und er fügte aufreizend gönnerhaft hinzu: „Geh ins Bett, du bekommst sonst noch Ärger.“
Bebend ging ich einige Schritte den Strand hinauf. Dann drehte ich mich um und schrie ihm zu: „Woher willst du denn wissen, dass deine Frau und dein Kind überhaupt noch am Leben sind? Vielleicht sind sie ja längst tot. Verdient hättest du es. Ich wünsche es dir.“
Es verging lange keine Nacht, in der ich nicht bittere Tränen der Reue über meine unbedachten Worte vergoss. Denn was danach geschah, erschien meinem kindlichen Sinn wie eine Strafe. In jener Nacht aber fielen nur Tränen des verletzten Stolzes über die Zurückweisung, die ich erfahren hatte. Ich weiß nicht mehr, wie ich zurück in die Kammer kam, ich blieb aber den ganzen nächsten Tag über freiwillig dort und erst, als es hieß, das Schiff nach Ithaka sei zum Lossegeln bereit und der Gast an Bord, mit allen Schätzen, die man für ihn zusammengetragen hatte, da ließ ich mich von meinen Brüdern zum Hafen ziehen, um an dem Rest der Feierlichkeiten teilzuhaben, die zum Abschied stattfanden.
Es war für lange Zeit das letzte Mal, dass wir Phäaken mit Freude und in Einigkeit an der Kaimauer standen, als wir mit unserem Gesang unseren Landsleuten eine gute Reise und gesegnete Heimkehr wünschten.
Sie kehrten nie zurück. Sie mussten bereits auf der Rückreise gewesen sein, als der Seeboden bebte, das Meer sich aufbäumte und sie verschlang, denn wie wir später erfuhren, hatte unser Gast seine Heimatinsel noch wohlbehalten erreicht.