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- 02.06.2001
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Naturrecht
Im blassen Schein des prallen Mondes schimmerte der Maschendrahtzaun silbern wie das Rückgrat eines prähistorischen Monsters, das in einer lauen Sommernacht döste. Die sanfte Brise wehte das muntere Piepsen eines in seiner Ruhe gestörten Waldbewohners, vielleicht einer Feldmaus, zu ihnen herüber. Marvin genoss den kurzen Moment der Idylle, des im Einklang mit der reinen, unverdorbenen Mutter schlagenden Herzens. Er atmete tief durch, ehe er den Werkzeug-Beutel öffnete und eine Kneifzange daraus entnahm.
Plötzlich flüsterte George seinen Namen. Er wandte ihm das Gesicht zu. „Was ist?“
„Ich weiß nicht, ob ich -“
George schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Na ja, ob ich das wirklich durchziehen kann.“
„Du wirst jetzt nicht schlapp machen!“, fauchte Janets Stimme hinter ihren Rücken.
Marvin lächelte, als er gewahrte, wie George zusammenzuckte. Janets direkte, unverblümte Art hatte damals jegliche Zweifel hinweggespült, ob die Motive der Tierschutzfront lauter waren. Es gab dutzende Organisationen, die sich die Durchsetzung von Tierrechten aufs Banner geschrieben hatten. Allesamt versuchten sie, potenzielle Spender oder Mitglieder mittels aufrüttelnder Bilder von Schlachthöfen, Transporten, Folter und Laboratorien zu gewinnen. Aber was halfen die entsetzlichsten Bilder gequälter und geschundener Kreaturen, wenn die Überbringer der Botschaft selbige nur halbherzig verkündeten? Wenn sie die absurde Hoffnung hegten, der amoralischen Menschheit ihre Widernatürlichkeit mit ein paar hohlen Phrasen vor Augen zu führen?
Janet hatte ihn vor zwei Jahren mitten auf der Straße, während er nur ziellos durch die Stadt flaniert war, mit der Flamme der Leidenschaft gefüttert, für die richtige Sache zu kämpfen. Die Tierschutzfront bestand nicht aus Geschäftemachern oder Öko-Hippies, die aus der sicheren Deckung ihrer Schreibtische heraus schwafelten, und dieses Geschwafel mittels Computer oder Flugblätter in die Welt hinauszutragen gedachten. Nein: Ihre Maxime war schlicht und einfach der Mut zu handeln.
Wie in dieser Nacht. Schluss mit geduldigen Worten, Schluss mit Dialogen, Schluss mit sinnlosen Protestaktionen – das Schreckgespenst der Tierschutzfront begann in den Köpfen vieler Verbrecher wider die Natur zu spuken. Auf Grund der geringen Mitgliederanzahl mussten sie ihre Aktionen noch auf den Bundesstaat beschränken. Aber bald würde ihr Geist das ganze Land erfassen.
Und bis es so weit war, musste man zähneknirschend selbst feige Typen mitschleppen.
„Ich sage ja nicht, dass ich schlapp mache“, begann sich George mit jener weinerlichen Stimme, die Marvin inzwischen verhasst war, zu verteidigen. „Aber vielleicht ist das hier noch eine Nummer zu groß für uns.“
Marvin stieß einen tiefen Seufzer aus. „Mit Leuten wie dir an der Spitze würde die alliierte Streitmacht immer noch in England lagern und darüber debattieren, ob die Landung in der Normandie nicht doch eine Nummer zu groß sei.“
George blickte betreten zu Boden. „Ein paar Nerze aus einer kleinen Pelztierfarm oder Hühner aus einer Legebatterie zu befreien, ist die eine Sache. Da gab es keine Zäune und Überwachungskameras. Doch das hier ist ein riesiger Mastbetrieb, und ich wette, die überwachen jeden Quadratzentimeter des Geländes mit Kameras.“
Natürlich hatte George nicht Unrecht: So viel sie in Erfahrung bringen konnten, wurden zumindest die Viehställe mit Kameras observiert, und es hieß sogar, der Eigentümer der Farm hätte privates Sicherheitspersonal angeheuert. Aber nichts, das dermaßen lohnend war, entbehrte jeglichen Risikos.
Janet setzte ihre zweite Stimme ein: Die der guten Freundin. „Eben deshalb müssen wir es tun. Es wird ein Warnsignal für die Tierschlächter sein.“
„Und es wird uns Gehör in den Medien verschaffen. Ich wette, dies wird viele Leute aufrütteln, und nicht wenige werden sich unserer gerechten Sache anschließen. Habe ich nicht Recht?“, sagte Marvin und warf Janet einen unmissverständlichen Blick zu.
„Absolut“, meinte die junge Frau und tätschelte Georges Schulter.
„Ist gut, okay“, flüsterte er und öffnete seinen Beutel, in dem die Skimasken und Handschuhe verstaut waren. „Vielleicht klappt es ja.“
„Selbstverständlich wird es klappen“, entgegnete Marvin und begann, ein riesiges Loch in den Zaun zu schneiden. Es musste groß genug sein, damit die Tiere, die es fanden, hindurchschlüpfen und in den Wald fliehen konnten. Während sich das scharfe Blatt der Zange durch die Drähte fraß, wurde er von einem wohligen Schauder erfasst. Die Befreiung möglichst vieler Tiere würde auch ihn ein Stückchen weit befreien von all den Schuldgefühlen, die ihn seit jeher begleiteten. Versager hatten sie ihn geheißen, in der Schule, auf dem Sportplatz, zu Hause im Kreis der Familie. Aber inzwischen hatte er erkannt, wer die wahren Versager waren, nämlich, sein versoffener Vater, seine lethargische Mutter, seine nichtsnutzigen Brüder, die stolz auf ihre dämlichen Jobs waren, die das System der Unterdrückung nur weiter in seinen Grundmauern fest zementierten.
Er hingegen schenkte geknechteten Tieren ein Leben ohne Käfige und Schlachtermesser.
Er war ein guter Mensch, falls man das von einem Vertreter dieser perversen, widernatürlichen Spezies überhaupt behaupten konnte.
Mit verträumtem Blick schnitt er unter der gleichgültigen Fratze des Mondes ein Loch in den Zaun.
Nachdem sie die Masken übergestülpt und die Handschuhe angezogen hatten, schlüpften sie durch und betraten das riesige Areal.
„Riecht ihr das? Als hätte der Tod sein Nachtlager aufgeschlagen.“
Marvin ignorierte Georges geflüsterte Worte, wenngleich er auch in diesem Punkt den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Zwar wurden auf dieser Farm die Tiere nur so lange mit billigem Fraß vollgestopft, bis sie fett genug waren, dem Schlachter überantwortet zu werden. Aber bestimmt waren auch hier unzählige Tiere gestorben. An Krankheiten, die sich auf engstem Platze rasend schnell verbreiteten. Oder an untereinander zugefügten Verletzungen. Mitunter erdrückten Mutterschweine ihre Ferkel, die sich instinktiv an ihren Leib drücken. Manchmal sollte es sogar vorgekommen sein, dass ein Eber aus seiner Box ausbrach, in die Abferkelbucht eindrang und ein heilloses Gemetzel anrichtete.
Marvin konzentrierte sich auf einen der riesigen Viehställe, um die entsetzlichen Gedanken abzuschütteln. Bereits die Konturen des Gebäudes erinnerten an Bilder von jenen Lagern, in welchen Menschen ihrerseits wie Zuchtvieh gehalten worden waren. Wütend ballte Marvin die Fäuste. Eilend strebten die drei dem Stall zu.
„Seht mal da drüben!“, rief George, und Marvin hätte ihm am liebsten eine gescheuert.
„Halt die Klappe“, zischte er ihm zu. „Willst du, dass man uns hört?“
George hielt die Klappe und streckte einen Arm aus. Marvin sah in die angedeutete Richtung und runzelte unter der Maske die Stirn. Direkt an einen anderen Stall angeschlossen stand ein Käfig.
„Das ist ja interessant“, murmelte er. „Vielleicht sollten wir uns dort mal umsehen.“
„Wir sind hier nicht auf einer Besichtigungstour, Marv.“
Selbst unter der Maske glaubte er fast erkennen zu können, wie ihr Gesicht rot anlief vor Zorn. „Wir befreien so viele Tiere als möglich und hauen ab, bevor man uns erwischt. Das ist unsere Mission, und daran hat sich nichts geändert.“
Er dachte über ihre Worte nach. Sie hatte natürlich Recht, aber manchmal mussten Missionen modifiziert werden. „Das werden wir auch machen. Trotzdem möchte ich wissen, was es mit diesem Käfig auf sich hat.“
Unsanft packte sie ihn an der Schulter. Obgleich sie einen Kopf kleiner und zierlich war, übten ihre Hände einen überraschend kräftigen Druck aus. „Wozu? Wir vergeuden nur kostbare Zeit.“
„Hast du schon einmal einen solchen Zwinger auf einer Schweinefarm gesehen?“, fragte er sie freundlich und spürte, wie ihr Druck nachließ.
„Nein“, gab sie zu. „Aber ich verstehe nicht, wieso das von Belang sein sollte.“
„Ich bin eben ein neugieriger Mensch.“
Sie schüttelte den Kopf. „Die Befriedigung deiner Neugierde steht nicht zur Debatte.“
Marvin klopfte auf den Werkzeugbeutel, den er über die Schulter gehängt trug. „Vielleicht doch. Wir haben schließlich eine Kamera mitgenommen, um das Grauen zu dokumentieren. Wer weiß, was dieser menschliche Abschaum noch zu verbergen hat.“
Da sie nicht sofort antwortete wusste er, dass er gewonnen hatte. „Du und George, ihr leert diesen Stall. Ich sehe mich inzwischen bei dem anderen um. Einverstanden?“
Janet hatte keine Einwände, und George trottete ihr wie an einer unsichtbaren Leine nach.
Marvin schätzte die Länge des Zwingers auf acht Meter und die Breite auf vier Meter. In der Höhe überragte er ihn um ein paar Zentimeter. Er schaltete die Digitalkamera sowie den Blitz ein und nahm ein paar Bilder des Käfigs. Nachdem er dies erledigt hatte, leuchtete er mit der Taschenlampe in das Innere. Den Boden bildete ein festes, geschlossenes Fundament, das mit Stroh ausgelegt war. Vorsichtig klopfte er gegen die Stangen. Sie bestanden aus Metall. Das Gatter war in die offene Wand des Stalls eingelassen worden.
Marvin versuchte, einen Blick hinter das Gatter zu erhaschen. Doch der Strahl der Taschenlampe war zu schwach, um ihm mehr als ein paar schwache Umrisse zu präsentieren, die alles Mögliche sein konnten.
Er wirbelte herum, als ein berstendes Krachen erklang. George und Janet machten sich offenbar am Torriegel der Stallung zu schaffen.
„Macht doch nicht so einen Lärm“, murmelte Marvin und biss die Zähne aufeinander, wie er es immer tat, wenn er nervös war. Bislang hatten sie Glück gehabt, wobei sie der Besitzer einer Nerzfarm ganz schön in die Bredouille gebracht und um Haaresbreite erwischt hätte. Bekanntlich endeten alle Glückssträhnen einmal. Aber nicht heute, bitte nicht heute Nacht, dachte Marvin und wandte sich wieder dem Zwinger zu.
Erst jetzt fielen ihm die Dellen an einigen der Stangen auf. Sie waren von jemandem – oder etwas? – im Käfiginneren verursacht worden, nicht von außen. Und sie befanden sich bei acht Stangen in exakt der gleichen Höhe. Irgendetwas war mit voller Wucht gegen die Stangen geprallt.
Oder wollte ausbrechen.
Ihm wurde heiß unter der Maske. Er hatte genug gesehen und musste seiner eigentlichen Mission Folge leisten. Bedächtig schritt er auf das doppelflügelige Tor zu. Bevor er das geeignete Werkzeug aus dem Beutel nehmen konnte, fiel ihm auf, dass es einen Spalt breit offen stand. Vorsichtig zog er an dem Tor. Es bot ihm widerstandslos Eintritt. Jemand vom Personal musste vergessen haben es abzuschließen. Oder sah noch zu dieser späten Stunde nach den Tieren.
Marvin warf einen Blick in den Stall. Nirgends brannte Licht. Es hatte keinen Sinn, die Gunst des Schicksals auszuschlagen. Kurz entschlossen trat er ein und leuchtete seine Schritte mit der Lampe aus. Selbst unter der Maske roch er den Gestank von Fäkalien und, wie er zu erkennen glaubte, Blut. Zu seiner Überraschung schien der Stall jedoch geradezu mustergültig angelegt zu sein. Er begutachtete einige der Boxen, in denen die Schweine untergebracht waren. Sie waren geräumiger als vieles, was er bislang gesehen hatte, und üppig mit Stroh ausgelegt. Jedes Tier war in einer eigenen Kobel untergebracht, in der eine Tränke und ein Trog standen. Ohne Zweifel musste der Betrieb automatisiert sein, aber er musste zugeben, dass die Haltung als „artgerecht“ im Sinne der Gesetzgebung durchgehen musste. Was natürlich dennoch jeglicher Natur und Ethik Hohn sprach.
Die Tiere ließen sich von dem Eindringling nicht stören und schliefen. Ab und zu furzte ein Schwein oder stieß ein schlaftrunkenes Quieken aus.
Nur eine einzige Box war von allen anderen getrennt und ungleich größer. Es war jene, die an den Käfig grenzte. Daneben befand sich auch ein Büroraum, von welchem aus wohl alle nötigen Arbeiten direkt erledigt werden konnten. Er nahm zunächst die separate Box in Augenschein. Ihre Ausmaße entsprachen etwa jenem des Zwingers, wobei sie jedoch in der Höhe mit der Decke abschloss. Beunruhigender als die massiven Stahlwände waren die Proportionen des Tors, das in die Box führte. Was für ein Tier hatte man hier untergebracht? Ein Nilpferd?
Erneut zückte er die Kamera und schoss Bilder. Marvin erkannte, dass das Tor nicht verriegelt war. Er zögerte, aber nur ganz kurz. Dann öffnete er das Tor, wobei er nicht wusste, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte, als er kein Tier darin vorfand. Der Gestank war bestialisch, und nur dank starker Willenskraft vermied er es, sich zu übergeben. Er schluckte mehrmals hart, bis er seinen revoltierenden Magen wieder im Griff hatte. An der Wand waren drei Infusionsflaschen angebracht. Die Kanülen tänzelten sanft, angeschubst vom Windzug, den er beim Öffnen der Tür verursacht hatte.
Er hielt den Schein der Lampe auf die Flaschen. Eine war leer, in den beiden anderen befand sich jeweils eine transparente Flüssigkeit. Auf einer konnte er den handschriftlichen Hinweis „Trommcardin“ erkennen, ehe ihn das plötzliche Grunzen mehrerer Schweine aufschreckte. Er wirbelte herum und lugte aus dem Tor heraus um nachzusehen, ob jemand den Stall betreten hatte. Vorsichtshalber schaltete er die Taschenlampe ab. Was auch immer die Schweine erregte, schien seinen Augen verborgen zu sein.
Das Kreischen der Tiere steigerte sich zu einer berauschten Kakophonie, als wären sie allesamt im selben Augenblick erwacht und entweder in Todesangst oder höchster Verzückung schwebend.
Und dann sah er es. Kurz erwehrte sich sein Verstand der Unmöglichkeit, die seine Augen erblickt hatten. Einen Moment lang liebkoste er den tröstenden Gedanken, Opfer eines absurden Tagtraums zu sein. Aber die Monstrosität, die durch das Stalltor schritt, war Realität. Hässlich verzerrte Realität wie Tiertransporte, oder Affenköpfe, die an Maschinen angeschlossen waren um zu sehen, wie lange sie ohne ihren Leib überleben konnten.
Marvin sog die abgestandene, fäkalgeschwängerte Luft ein, bis seine Lungen zu platzen drohten. Erst jetzt war er sich der Gefahr bewusst, von dem Monster erblickt zu werden, und presste sich an die Wand hinter der Tür.
Seine Hoffnung, das Wesen würde die Box nicht aufsuchen, war vergebens. Die gewaltige Schnauze glitt in Augenhöhe an ihm vorbei. Wenn er den Arm ausstreckte, könnte er es berühren. In seinem gewaltigen Maul trug es seine Beute, wie eine Katze eine geschlagene Maus in ihr Versteck brachte, um sie zu zerfetzen.
Es öffnete die Kiefern und ließ den Menschenkörper auf die Strohunterlage plumpsen. Das muntere Rascheln des Strohs, untermalt vom wahnsinnigen Kreischen der Schweine, erinnerte ihn an die wenigen glücklichen Tage aus seiner Kindheit: Besuche auf dem Bauernhof seines Onkels. Das Füttern der Pferde und Kühe. Das Herumtollen am Heuboden. Der Duft frisch gemähten Grases.
All dies stand in krassem Gegensatz zu dem Ungeheuer, das aus den Untiefen seiner Alpträume in die reale Welt hinaufgeklettert war. Vielleicht stammte es von Schweinen ab. Doch der Leib, den es mit seiner abscheulichen Grässlichkeit füllte, hatte mit dem eines Schweins kaum noch etwas gemein. Allenfalls die borstige Haut und die faltigen Ohren mochten noch von seiner Abstammung zeugen. Aber die langgezogene Schnauze mit seinen Reißzähnen, die kräftigen, sehnigen Beine standen in der Tradition eines Raubtiers.
Marvin wagte keine Bewegung, obwohl er die Möglichkeit sah, an dem gewaltigen Leib vorbeizuschlüpfen und zu flüchten. Doch neben der Todesangst hielt ihn ein Respekt, den er bei nüchternem Verstand gemessen als pervers eingestuft hätte, zurück. Vor dieser Kreatur aus Mutter Naturs fruchtbarem Schoß musste man tiefste Ehrfurcht empfinden.
Plötzlich drehte sich das Wesen um und schnitt ihm so jeglichen Fluchtweg ab. Einen schrecklichen Moment lang war er sich gewiss, dass es ihn gesehen hatte. Aber dann trottete es aus dem Tor, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Marvins Knie begannen zu zittern, als hätten sie erst jetzt das Ausmaß der Gefahr begriffen. Er wartete und wagte es nicht, hervorzutreten. Allmählich nahm das Lärmen der Schweine an Intensität ab, was er als Anzeichen für das Verschwinden des Monsters wertete. Er begann sich zu fragen, ob die Tiere tatsächlich Angst vor der Kreatur hegten, oder nicht doch vielmehr … was? Respekt? Ehrfurcht? Gefühle, die seinen ganz ähnlich waren?
Ein zaghaftes Stöhnen riss ihn aus seinen Gedanken. Er stürzte zu dem Körper, den die Kreatur abgeladen hatte. Dem vielen Blut und dem nur schwachen Mondlicht zum Trotz erkannte er das Gesicht sofort.
„Mein Gott, George!“
Speichelfäden, mit Blut vermischt, flossen zäh über die Mundwinkel seines Kameraden. George versuchte zu sprechen. Seine tapferen Versuche, den entsetzlichen Schmerzen, die ihn quälen mussten, zum Trotz etwas zu sagen, rührten Marvin beinahe zu Tränen. Er spürte einen dicken Kloß in seinem Hals stecken. „Nicht. Du musst dich schonen. Hör zu: Ich hole Hilfe. Ich laufe zu meinem Wagen und rufe einen Notarztwagen und die Polizei.“
George wandte ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf zu und flüsterte etwas. Dann schluckte er, hustete, und setzte erneut zum Sprechen an. Marvin wollte protestieren, da vernahm er endlich Georges Worte, die so zerbrechlich wie ein Seidenkokon schienen. „Ist zu spät. Da war eine Leiche. Schweine hatten sie angefressen. Janet weggelaufen. Ich –“
Wieder hustete er. Warme Bluttropfen schlugen gegen Marvins Wangen. Er wischte sie beiläufig weg. „Es wird alles gut. Ich werde hinter mir die Box abschließen, dann kann dieses Ding dich nicht erwischen.“
„Zu groß. Hab’s gleich gesagt. Zu groß.“
Irgendwie schaffte es George ein heiseres Kichern auszustoßen. „Zehn Nummern zu groß. Mindestens zehn Nummern zu –“
Plötzlich verstummte er. Seine Augen starrten Marvin durchdringend an. Durchdringend und anklagend.
„George?“, flüsterte Marvin.
Fast widerwillig drückte er Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf die Halsarterie. Vielleicht machte er etwas falsch und fühlte deshalb keinen Puls. In dieser Position verharrte er lange Zeit, bis er den ihn beschuldigenden Blick Georges nicht mehr ertragen konnte.
„Es tut mir leid. Verzeih mir.“
Marvin stand auf und verließ die Box, schwankend, als wäre er betrunken oder gerade erst aus einer Ohnmacht erwacht. Mit einem Mal wurde ihm klar, was er bereits vor langer Zeit hätte erkennen sollen: Die Natur brauchte keine Hilfe. Sie hatte in Jahrmilliarden gelernt, sich zu verteidigen. Sie hatte Zähne, Klauen und Gifte entwickelt. Der Mensch war nur ein unbedeutender Erdenwurm, der sich heillos überschätzte, während um ihn herum Galaxien entstanden und verwirkten.
Marvin taumelte hinaus. Die frische Nachtluft füllte ihn mit neuem Lebenswillen. Er würde aller Welt erzählen, was er gesehen hatte, und dann würde man anerkennen müssen, dass er kein Versager war.
„Kein Versager“, sagte er zu sich selbst und rannte über das offene Feld.
Anscheinend hatten Janet und George einige Schweine befreien können. Eines der ausgewachsenen Tiere stellte sich ihm in den Weg, als stünde Absicht dahinter. Marvin schlug einen Haken und hörte das verwirrte Grunzen des Tiers wie eine Wehklage in seinen Ohren klingen. Sie hatten dies doch nur für diese Tiere getan! Sie hatten sie befreien wollen. Warum verstanden sie das nicht?
Ein hasserfüllter Schrei drang durch die Nacht. Marvin warf einen Blick über die Schulter zurück, konnte die Kreatur aber nirgends sehen. Nur noch ein paar Meter, dachte er, noch ein paar Meter und …
Er stolperte und klatschte der Länge nach hin. Das weiche Gras fing seinen Sturz auf. Benommen rappelte er sich wieder hoch, und kurz verspürte er die schreckliche Gewissheit, dass die abscheuliche Monstrosität, die man aus welchen Gründen auch immer gezüchtet hatte, ihn doch noch erwischen würde. Sie hatte nur mit ihm gespielt, in Sicherheit gewiegt, bevor sie ihn packen und bei lebendigem Leibe fressen würde.
Blind vor Angst stürzte er auf das Loch im Zaun zu, schlüpfte hindurch, blieb mit dem Hosensaum an einem aufgedröselten Drahtstück hängen und riss dermaßen energisch daran, dass der Stoff riss. Dann stand er auf und blickte auf die Farm hinter dem Zaun.
Er war in Sicherheit. Der Wagen stand keine zwanzig Meter entfernt. Er lief los, und eines der Schweine, das den Fluchtweg gefunden hatte, kam grunzend auf ihn zugeschossen. Erneut versuchte er einen Haken, aber das massige Tier durchschaute seine List, setzte nach und fällte ihn wie ein energischer Quarterback beim Football einen durchbrechenden Gegenspieler.
Marvin überschlug sich und klatschte mit dem Rücken auf den moosigen Boden. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn mit bislang ungeahnter Wucht. Dennoch sank er nicht in Ohnmacht. Das Grunzen des Schweins klang wie ein Triumphgeheul und hatte gar nichts Anheimelndes mehr an sich, wie er es ansonsten empfunden hatte. Er fühlte seine feuchte Schnauze am nackten Unterarm und hörte es schnüffeln.
Dann schnappte es nach seiner Hand. Marvin heulte auf und schlug mit der freien Hand auf das Tier ein. Aber es war zu spät: Mit einem kräftigen Ruck biss es drei Finger ab. Er wollte sich aufrichten, doch ein weiteres Schwein hatte sich ihm genähert und wuchtete mehrere hundert Pfund auf seinen ungleich schmächtigeren Brustkorb. Das Krachen der Rippen klang wie Kanonendonner und spülte eine neue Woge des Schmerzes durch seine Nervenbahnen.
Er begann zu weinen und die Ungerechtigkeit zu beklagen: Er hatte ihnen helfen wollen!
Irgendwo in verborgenen Winkeln seines Verstandes blitzte kurz die Erkenntnis auf, dass Moral und Gerechtigkeit menschliche Anmaßungen waren, die in der Natur keinerlei Bedeutung hatten. Hier gab es keine Richter, keine Angeklagten, keine Jury, weil jedes Lebewesen Teil eines unvorstellbar großen Ganzen war, das über niemanden richtete oder herrschte, weil es ein blinder Mechanismus ohne jegliche Vernunft war.
Ein blindes Schicksal ohne menschliche Regungen, das ihm so lange nicht gnädig war, bis die Schweine sich bis zu den Organen durchgewühlt hatten.
Nachdem die Schweine seine schmackhaftesten Teile verschlungen hatten, zogen sie weiter. Ihr Hunger war noch nicht gestillt.