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Natascha und der Regenbogen
Auf einer Insel, inmitten eines blauen Sees, thront seit vielen hundert Jahren ein altes Königsschloss. Umgeben von Bergen, Wiesen und Wäldern, strahlt es eine majestätische Schönheit aus, die Besucher aus nah und fern immer wieder an diesen Ort lockt.
Erbauer dieses schönen Anwesens war einst König Luggi, der hier seither wohnt. Schon lange Zeit spukt er jetzt als Geist durch das alte Gemäuer um die Gäste ein bisschen zu erschrecken. Das Zepter in der Hand hat aber seine fleißige Helferin Natascha. Sie sorgt dafür, dass alles repariert, in Ordnung gehalten und organisiert wird. Sie begrüßt die Besucher, führt sie durch das Schloss und erzählt ihnen, die ein oder andere Geschichte über Luggi und seine Streiche.
Natascha hat stets eine Tasche bei sich, aus der ein großer Schraubenschlüssel ragt, mit dem sie ruckzuck die Köpfe aller lockeren Schrauben wieder festzieht. Luggi mag es nämlich gar nicht,
wenn Türen lauter ächzen als er, oder wenn Wasserrohre lauter klirren und rasseln als seine Ketten.
Schließlich, so sagt er, sei es eine Kunst, die Besucher gerade so zu erschrecken, dass sie nicht vor Angst davonlaufen aber doch noch genügend, um allen eine aufregende Schlossbesichtigung zubieten.
Die beiden haben gemeinsam schon viele kleine Abenteuer und seltsame Begebenheiten erlebt. Unvergesslich ist auch jene Geschichte als Natascha auf den Regenbogen klettern musste. Alles fing damit an, dass es jedes Mal wie aus Eimern zu schütten begann, wenn sie in der Frühe zum Schloss ging, oder wenn sie abends wieder nach Hause musste. Es regnete so sehr, dass die Ärmste immer triefnass am Ziel ankam. Morgens betrat sie die Schlosshalle, stampfte mit den Füßen auf den Boden, um das Wasser aus ihren Schuhen zu schleudern, aber auch aus Ärger über die Wolkenbrüche, die ihr das Leben zunehmend schwer machten. Zuerst dachte Natascha noch, es wäre sicher nur eine ungewöhnliche Wetterlage. Als es aber selbst nach Monaten nicht aufhörte zu regnen, glaubte sie, dass Luggi ihr einen bösen Streich spielt.
Wütend betrat sie also die Schlosshalle und rief laut, „ Luggi, komm sofort hier her! Ich muss ein ernstes Wort mit dir reden“. Luggi schwebte mit einem lauten wuhuuhuuu in die Halle. „ Was ist los, Natascha? Warum schreist du hier am frühen Morgen schon so zornig herum?“ Natascha stützte
ihre Hände in die Hüften und begann zu poltern. „ Seit Monaten spielst du mir jetzt diesen
gemeinen Streich und lässt es regnen, sobald ich die Insel betrete. Ich habe mir schon zweimal einen Schnupfen geholt und keine Lust mehr, mir noch ein weiteres Mal einen einzufangen. Ich will jetzt, dass du sofort aufhörst, mich ständig nass zu regnen!“ Luggi lachte laut und hielt sich den Bauch dabei.
„Zugegeben,“ sagte er, „es ist schon ziemlich lustig, dich tropfnass ins Schloss stapfen zu sehen. „Aber,“ fuhr er ernst und mit aufrichtigem Blick fort, „ich habe damit nichts zu tun. Was außerhalb des Schlosses passiert, liegt nicht in meiner Macht.“ Er zuckte mit den Achseln und fügte hinzu: „Vielleicht kann dir der Brunnengeist Nepomuk helfen. Zumindest weiß er über das nasse Element genau so gut Bescheid, wie DU das inzwischen tust.“ Wieder lachte Luggi, so, dass er sich seinen Bauch dabei halten musste. „Geh in den Park zur Brunnengrube, steige hinunter, dreh dich dreimal im Kreis und rufe: ‚Nepomuk erscheine!‘ dann wird er sich dir zeigen.“ Mit einem lauten
„wuuuhuuuuhuuuu“ schwebte Luggi durch das dicke Mauerwerk und verschwand.
Natascha machte sich sofort auf den Weg zur Brunnengrube. Sie öffnete die Luke und stieg eine
rostige Leiter, die an der feuchten Grubenwand befestigt war, hinunter. Dort drehte sie sich dreimal im Kreis und rief dann laut „Nepomuk erscheine!“ Begleitet durch ein Glucksen und Gurgeln, stand Nepomuk, wie aus dem Nichts, in voller Pracht vor ihr. Mit langem Haar und einem Bart der fast bis zum Boden reichte, bewachsen mit Moos und Algen, gurgelte es aus ihm heraus. „Hier wird nicht gebrüllt, hier wird geplätschert – wer bist du also und was willst du hier?“ Seine, mit Schwimmhäuten bewachsenen Füße, klopften ungeduldig auf den Boden als Natascha sich vorstellte. „Brunnengeist Nepomuk, ich brauche deine Hilfe! Wenn das mit dem Regen so weiter geht, sehe ich bald so moosig und mit Algen bewachsen aus wie du!“ Nepomuk sah sich von oben
bis unten an und raunte: „Was ist an meinem Aussehen zu bemängeln? Ich sehe fabelhaft aus!“ „Das mag für dich so sein,“ erwiderte Natascha, „für meine Gesundheit ist zu viel Feuchtigkeit aber eher schädlich,“ fügte sie hinzu. Nepomuk winkte ab; „Ach, ihr Menschen seid schon empfindliche Wesen“ und wieder gluckste und gurgelte es und er spie eine meterhohe Wasserfontäne aus seinem
Mund. „Nachdem du wohl wirklich keinen Spaß am Regen hast, will ich dich an eine andere Stelle verweisen. Ich kann dir leider nicht helfen aber die Inselwetterelfen sind für Regen, Sonne und Wind zuständig. Sie wohnen am östlichen Ende der Insel, am alten Baum bei Ottos Ruh. Nimm diese Flasche mit Brunnenwasser und gieße es dort aus, dann wirst du die Elfen sehen und mit ihnen sprechen können.“ Natascha bedankte und verabschiedete sich vom Brunnengeist. Der gluckste und gurgelte abermals, spie dabei nochmal eine riesige Fontäne aus seinem Mund und verschwand. Sie kletterte aus der Brunnengrube und verstaute die Flasche mit dem Brunnenwasser in der Tasche neben ihrem Schraubenschlüssel.
Der Weg nach Ottos Ruh war weit aber Natascha war entschlossen, das Problem noch am gleichen
Tag zu lösen. Also ging sie zügig los, um vor dem nächsten Regenschauer am Baum der Elfen anzukommen. Als sie Ottos Ruh erreicht hatte, nahm sie die Flasche mit dem Brunnenwasser und goss es dort auf den Boden. Ein Windhauch wehte durch das Laub des Baumes und sieben
wunderschöne Elfen schwebten herab zu ihr. Die Kleider, die sie trugen, unterschieden sich nur durch ihre Farben. Die erste Elfe hatte ein rotes Kleid, die Zweite ein Orangenes, die Dritte ein Gelbes. Die vierte Elfe war in grün gekleidet, die Fünfte in hellem blau, die Sechste in dunklem blau und die Siebte trug ein violettes Kleid. Jede der Elfen hielt einen Zauberstab in der Hand, passend zur Farbe des jeweiligen Kleides. Ihre hauchzarten Flügel glitzerten wie goldene Sterne in der Nachmittagssonne.
Nach kurzem Staunen erhob Natascha ihre Stimme und sprach bei den Sieben vor. „Ich bin Schlossgeist Luggis Helferin Natascha. Ihr wisst ja sicher, dass es seit Monaten, morgens und abends regnet. Genau dann, muss ich zum Schloss hin oder wieder aus dem Schloss hinaus gehen und jedes mal werde ich tropfnass. Ich habe mir sogar schon einige male einen Schnupfen geholt. “Natascha bat die Elfen, doch das Wetter wieder so zu verändern, wie es früher war. Alle Elfen erwiderten im Chor ein lang gezogenes „ooooooh, das tut uns wirklich leid,“ dann senkten sie die Köpfe und schauten verlegen auf den Boden. Die rot gekleidete Elfe begann zögerlich zu sprechen. „Weißt du, es ist so…“ dann redete die zweite Elfe weiter...“wir haben ein Problem mit dem Wetterstellwerk...“ und die dritte Elfe beendete den Satz, “...weil sich die Wolkenschleuse nicht mehr ganz schließen lässt.“ Die vierte Elfe erklärte, dass sich dadurch die Regenwolken füllen und früh morgens sowie abends wieder leer regnen würden. Natascha verstand das Problem sofort und fragte, wo das Wetterstellwerk zu finden sei. Mit ihrem Schraubenschlüssel hätte sie schließlich immer noch jedes Rohr dicht bekommen. „Ach, das wäre zu schön, um wahr zu sein,“ entgegnete die fünfte Elfe, „wir haben wirklich schon alles versucht aber leider bisher ohne Erfolg.“ Die sechste Elfe verriet ihr schließlich, dass sie auf einen Regenbogen klettern müsse, um am anderen Ende das Wetterstellwerk zu finden. Alle sieben Elfen stellten sich nun in einen Kreis, streckten ihre Zauberstäbe zur Mitte hin, so dass die Spitzen sich berührten. Ein riesiger Regenbogen bildete sich aus der Mitte des Kreises und Natascha nahm all ihre Kraft zusammen, um auf ihn zu klettern. Mit viel Mühe erreichte sie nach einer Weile den höchsten Punkt, dann setzte sie sich auf den Hosenboden und rutschte bis zum anderen Ende des Regenbogens hinunter.
Die Landung war nicht sonderlich sanft aber das war immer noch besser, als ein Leben lang im Regen zum Schloss gehen zu müssen. Endlich sah Natascha das Wetterstellwerk und auch die
undichte Schleuse, die ständig Wasser in die Wolken hinein ließ. Sie nahm ihren großen Schraubenschlüssel aus der Tasche, setzte ihn an der Schleusenschraube an und mit einem beherzten Ruck, zog sie den Schraubenkopf fest. Um zu sehen, ob die Schleuse dicht ist, klopfte sie mit dem Finger auf das Barometer am Stellwerk – und siehe da – der Zeiger bewegte sich von Regen auf
Sonnenschein. „Ich hab’s geschafft!“ rief sie freudig, „alles wird wieder gut!“
Glücklich und mit sich zufrieden, trat Natascha die Regenbogenrückreise an. Am anderen Ende warteten schon die jubelnden Elfen auf sie. Die Wolken hatten sich verzogen und alle umarmten sich vor Freude. Die siebte Elfe ergriff dann das Wort und dankte Natascha für ihren Einsatz. „Du hast uns wirklich sehr geholfen, ohne dich wäre die Schleuse wohl nie dicht geworden. Als Belohnung für deine Mühe, schenken wir dir diesen Armreif. Trage ihn immer bei dir! Sollte es regnen, klopfe sieben mal darauf dann wird sich ein Regenbogen über dich spannen und du kommst
trockenen Fußes an dein Ziel.“ „Vielen Dank, das ist wirklich ein tolles Geschenk,“ sagte Natascha sichtlich gerührt und freute sich sehr darüber. Sie verabschiedete sich nun von allen und bot ihnen an, jederzeit zu helfen, falls mal wieder etwas kaputt gehen sollte. Dann machte sie sich auf den Weg zum Schloss um Luggi und allen anderen zu erzählen, dass der Spuk mit dem Regen endlich ein Ende gefunden hat. Am nächsten Tag wurde ein großes Fest im Schloss veranstaltet. Sogar Nepomuk der Brunnengeist und natürlich auch die sieben Elfen waren gekommen um das Ende des Dauerregens zu feiern. Natascha strahlte nun noch mehr als sonst und ihr sonniges Gemüt war nochsonniger als früher geworden. Seither musste sie auch nie mehr tropfnass die Schlosshalle betreten und das wird nun auch für immer so bleiben.