Mitglied
- Beitritt
- 21.01.2003
- Beiträge
- 5
Naseputzen
Manche tun es mit Tempos, die nach Kamille riechen. Manche nur mit Tempos, die nach Kamille riechen und extra weich sind. Anderen reicht auch schon ein Fetzen rauhen Papiers aus den Spendern neben den Waschbecken. Vornehmlich ältere Herrschaften benutzen einen Schneizhadern, ein großflächiges Taschentuch aus Stoff, das man waschen und wieder benutzen kann. Aber ist man mal in der freien Natur und merkt beim Griff in die Hosentasche, das diese leer ist, reicht auch schon mal der Hemdsärmel oder ein Blatt von einem Baum oder ein Löwenzahnstengel. Eine weitere Möglichkeit sich bei Taschentuchnot zu erleichtern, ist, sich in die Finger zu schneuzen und dann die Hände tief in den Taschen zu vergraben. Der Vorteil dieser Methode: Es ist umweltfreundlich, man hat seine Hand immer dabei und man sieht nachher nichts.
Leider ist es fast unmöglich in einer normalen Erzählung auf die gesamte und faszinierende Breite des Schneuzens einzugehen. Ich nehme daher nur Bezug auf ein ganz stinknormales Tempo. Aber lesen sie selbst.
Mit der Hand wühlte er in seiner Tasche, bis seine Finger einen Zipfel des weißen Tempotaschentuchs fanden, und er es aus der Hose ziehen konnte. Seinen kalten Finger öffneten den verkrusteten, zerrissenen Stoff als würden sie ein Blatt Papier auseinanderfalten. Bevor er seine beiden Hände an die Seiten des Tempos legte, um es zum Gesicht zu führen, betrachtete er es eindringlich. Er hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, und auch nie darauf geachtet wie das Ding, in das er jedesmal hineinschneuzte, eigentlich aussah.
An den Seiten waren die drei Lagen, aus denen das schon alte Taschentuch bestand, schon in Auflösung begriffen. In der Mitte klafften große Risse in der ehemals glatten Zellulosefläche. Dunkle, braune Flecken – kleine, geronnene Blutstropfen – und hie und da heller gelblich-weißer Schorf bedeckten das Tempo. Die Knitterfalten wirkten, wenn man sie von sehr nahe betrachtete wie eine riesige, verschneite Gebirgslandschaft.
Er zögerte noch einen kurzen Augenblick, dann führte er das Tempo zu seiner Nase. Er spürte wie der getrocknete Rotz leicht an den Seiten seiner Nase kratzte aber auch wie sich die Knitterfalten unter dem Druck, der zwischen seinen Fingern und seiner Nase entstand, glätteten. Automatisch erhöhte er den Druck, presste mit seinen Finger das Tuch fest an die Nase, und verengte damit gleichzeitig seine Nasenlöcher. Nachdem er tief eingeatmet hatte, schloss er seinen Mund und die Augen und stieß die Luft langsam, aber kraftvoll durch die Nase wieder aus. Durch den starken Druck strömte die leichte, zähe Flüssigkeit aus seinen Nasenschleimhäuten ebenso hinaus, wie größere, schon getrocknete, schorfartige Brocken. Noch bevor die letzte Luft aus seinen Lungen die Nase verlassen hatte, drückte er mit den Zeigefingern die Nasenspitze zu und entfernte damit den Schleim, der sich eventuell noch dort befunden hätte. Zum Schluss rieb er sich mit den Seitenflächen seiner Zeigefinger, auf denen das Tuch des Tempos auflag, unter der Nase einmal nach rechts und einmal nach links.
Danach führte er das Tempo von seiner Nase wieder weg und betrachtete, bevor das Tempo erleichtert und zufrieden wieder in seine Hose steckte, noch neugierig die Sachen die aus seiner Nase herausgekommen waren. Das meiste war, wie er feststellte, nur heiße Luft gewesen. Ansonsten noch ein Nasenhaar und ein kleiner, gelber Popel.
Er sah wieder auf und vorne stand immer noch sein Lehrer, mit dem Rücken zur Klasse und verdeutlichte den Integralsatz von Moivre an einem „einfachen“ Beispiel. Übers Naseputzen könnte ich mal was schreiben, dachte er kurz, bevor er sich wieder voll auf den Unterricht konzentrierte. Denn eigentlich tut es jeder, und doch ist die Beschreibung des Naseputzens anscheinend tabu in der Litertatur. Jedenfalls hatte er noch nie darüber gelesen.
Als er seinen Stift in die Hand nahm, hörte er aus der ersten Reihe schon das nächste Niesen und „Hat ana a Tempo?“.