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Narzissus und die Tulipan
N. stöhnte. Nur einen kurzen Moment war er abgelenkt gewesen, hatte aus dem Augenwinkel zum Fenster hinübergesehen und Aufmerksamkeit vom Monitor abgezogen. Ein Blick nach draußen blieb bei diesem Spiel nicht ungesühnt, obwohl er es jetzt schon zum dritten Mal meisterte. Und das bei all den unzähligen virtuellen Toden, die er sich dabei immer wieder zugezogen hatte! Die sinfonische Musik aus den Lautsprechern schwoll an, abgehackt eingeworfene Chorgesänge, dann der Schlag, den er nicht mehr mit dem Schild blocken konnte, ein zu spät platzierter Hieb ...
"Na gut, bereit zu sterben", entfuhr es N., kurz bevor die rote Schrift den Bildschirm füllte: "Ihr seid gestorben!" Wie erwartet, fand sich darauf sein Ebenbild am Leuchtfeuer wieder. Zeit für eine Pause.
Jetzt wand N. den Kopf und blickte ganz bewusst aus dem Fenster. Endlich war draußen der Frühling ausgebrochen, verspätet in diesem Jahr, aber inzwischen beschleunigt wie in einem Zeitraffer. Man konnte den Pflanzen fast beim Wachsen und Knospen zusehen. Als er letzte Woche zwei Tage zur Supervision nach Basel gefahren war, hatte er fast die Magnolienblüte vor dem Haus verpasst. Im Garten lockte nicht nur der frische Grünton des Rasens, sondern die weißen und roten Tupfen dazwischen: Narzissen und Tulpen. Wie in dem alten Lied, das er in der Grundschule mit vielen Strophen gesungen hatte. Von allen Liedern aus der Kindheit war ihm das im Gedächtnis geblieben, wegen der seltsamen Sprache. Narzissus und die Tulipan, die ziehen sich viel schöner an als Salomonis Seide. Blumen, die sich anziehen? Als Kind hatte ihn das verwirrt.
Aus einem Impuls heraus zückte er sein Handy und tippte: "Geh aus, mein Herz, und suche Freud." Fast auf der Stelle erschien eine Erwiderung auf dem Display: "Suche Freud? *g* "
Na klar, von E.! Musste die immer alles wiederholen? Aber er verstand natürlich, was sie meinte und tippte: "Das Lied gab es doch, bevor der Psycho-Freud überhaupt geboren war!"
Kurz überlegte N., ob er mal durch den Garten gehen sollte, den Wind auf der Haut spüren und die Düfte einatmen. Er sah auf den Rücken seines rastenden Ritters, die Bewegungen des Brustkorbes wirkten wie echtes Ein- und Ausatmen. Er wollte ihn nicht warten lassen.
Soviel hatten sie schon miteinander erlebt. Begonnen hatte er mit unterschiedlichen Charakteren, einem Dieb, einem Zauberer und einem Kleriker, aber inzwischen hatte er die anderen alle gelöscht. Dafür hatte er mit diesem Ebenbild die ganze Welt der alten Fürsten erforscht, war durch immer neue dunkle Gänge und feuchte Gewölbe geschritten, hatte steinerne Treppen und rostige Leitern erklommen und mit gigantischen Gegnern gekämpft. Fröstelnd dachte N. an den riesigen Wolf mit dem Leuchtschwert, wie er ihm beim ersten Mal begegnet war. Inzwischen dauerte es nur ein paar Minuten, ihn durch gezielte Schildparaden und Angriffhiebe zu zerstören. Präzises Timing war eben alles.
Voller Hingabe hatte er seinen Helden mit allem ausgestattet, was ihm dienlich war. Er trug jetzt nicht mehr seinen Schwertstumpf vom Anfang in der Hand, sondern besaß ein ganzes Inventar an Waffen. Den speziellen Nutzen von Hellebarde, Armbrust oder Zauberschwertern hatte er bei Kämpfen ausprobiert. Flakons mit Heiltränken und Gegenstände wie Masken, Kronen und Ringe, die ihn beim Tragen mit Magie ausstatteten, hatten ihm manchmal ein Leben gerettet. Und obwohl das nackte Gesicht des Avatars eine innere Leere andeutete, war es doch von Symmetrie geprägt. N. lächelte seinen Stellvertreter an. "Komm, mein Held, gehen wir mal weiter."
Auf N.s Kommando erhob sich der Ritter und marschierte schweren Schrittes durch den dachlosen Gang die grasbewachsenen Treppenstufen hinauf. Doch irgendetwas war merkwürdig gewesen an dem vertrauten Haltepunkt. N. lenkte seinen Charakter wieder hinunter, zurück zu dem Leuchtfeuer im Freien und sah sich um. Es war ein Burghof, umgeben von Ruinen, mit kniehohen Gräsern und gewucherten Sträuchern. Am Rand stimmte das auch noch, aber in der Mitte, wo eigentlich festgetretener Erdboden vorherrschen sollte, sprießte jetzt frisches Grün rund um das Feuer. Ob das ein neues Bonus-Feature war, was man erst beim dritten Mal entdecken konnte? Das Erdreich decket seinen Staub
mit einem grünen Kleide, summte es in seinem Kopf. N. sah sich weiter um, entdeckte den vorher knorrigen alten Baum am Rand, der plötzlich neu begrünt frische Triebe bildete. Als wäre der Frühling auch hier angekommen. Dazu schien sich der Himmel aufzuhellen; das passte doch gar nicht zu den sonst fahlen bis dunklen Tönen der Umgebung.
Die sonst herumlungernden Non-Player-Charaktere fehlten, und der Brunnen wirkte richtig einladend. Kleine Tröpfchen sprühten über den Rand wie winzige Fontänen, und N. lenkte seinen Ritter heran und ließ ihn die Hand ins Nass tauchen.
"Wie unlogisch!", rief N. etwas verärgert, ein randvoller Brunnen in dieser Höhe? Bisher hatte er sich über alle Zusatzangebote gefreut, hatte die schwierigeren Gegner zerstört und sämtliche Trophäen bis zu Platin eingesammelt, aber das hier war doch hanebüchen. N. zuckte mit den Schultern, erstaunt über seine eigene Wortwahl. Na gut, wenn die Macher des Spiels sich im Frühlingskitsch ergehen wollten! Er würde jetzt weiter gehen.
Aber irgendwas stimmte mit dem Controller nicht. Sein Ritter blieb am Brunnen stehen, mit der Hand im Wasser, das Gesicht gespiegelt auf der Oberfläche, und die Kommandos über das Pad hatten keinerlei Wirkung.
N. stöhnte laut auf. Hatte sich das Spiel aufgehängt? Hoffentlich hatte er sich nicht den Save zerschossen!
"Alles ist gut!", sagte sein Alter Ego, "lass mich nur noch einen Moment hier stehen."
N. sprang auf. Noch nie hatte der Ritter zu ihm gesprochen.
"Wie kannst du reden?", entfuhr es ihm. "Das geht doch gar nicht! Und das Pad ..."
" ...ist in Ordnung. Ich will hier nur stehen. An dem einzigen Ort, der ein bisschen schön ist, Leben birgt." Er nahm sich den Helm ab und wischte über die Augen.
"So ein Weichei! Das kann doch gar nicht passieren!" N. schüttelte den Kopf. Nein, er träumte nicht.
Ein böser Streich? Aber er war doch im Offline-Modus. Wie auf ein Stichwort meldete sich E. am Handy. Nervös tippte er:
"Was willst du? Sag bloß, du willst dich mit mir treffen?"
Als Antwort eine SMS: Treffen. Als brauchte er jetzt ein Echo.
"Hach, wie die nervt!"
N. wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Was war nur los? Er liebte seine Welten getrennt: hier der Frühling in der Realität, dort der morbide Charme des Seelensammelns mit seinem Alter Ego als unbeirrbar starkem Helden.
"Ohne mich kannst du doch gar nichts machen!" N.s Stimme quäkte. "Du bist doch nur mein Ebenbild!"
Ein verächtliches Lachen drang aus dem Lautsprecher. "Dein Ebenbild? Kannst du denn ein Schwert halten? Du würdest hier doch keine Minute überleben!"
Jetzt war es N., der verächtlich lachte. "Und du lebst nur dank meiner Erfahrung! Alle deine Items hast du von mir!"
Beide schwiegen kurz. Dann fuhr N. leise fort: "Du bist doch ich."
"Ich bin nicht du. Hast du mal in den Spiegel gesehen?"
Das brauchte N. nicht. Schon seit seinen frühen Zwanzigern hatte er sich für das immer schütterer werdende Haar geschämt, und auch sein sich ausbreitender Bauch machte ihn nicht glücklich. Unbeholfen blickte er sich im Zimmer um, ließ den Blick schweifen von einem zum anderen Poster an den Wänden, blieb am Katana hängen. Auch wenn er es nur zur Dekoration angeschafft hatte, natürlich konnte er ein Schwert halten. Trotzig stand er auf und stieg auf seine Couch, reichte an die Wand, nahm das gewichtige Schwert in die Hand und befreite es aus seiner Scheide. Vorsichtig schwang er es ein paarmal durch die Luft, blickte dann aus dem Fenster und grollte: "Es kommt der Tag, da will das Schwert schw ... äh ... schwingen." Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten.
"Das meinst du doch wohl nicht ernst!" N. drehte sich um und sah in meine Richtung. "Du willst mich doch jetzt wohl nicht Amok laufen lassen!"
Mist! Immer dieses Eigenleben der ausgedachten Figuren! Ob andere Geschichtenschreiber das auch haben?
"Wieso? Ist doch eine schöne Szene", entgegnete ich. In meinem Kopf hatte ich schon alles gesehen: Wie N. hinausstürmte und Narzissen und Tulpen köpfte, dann im Vorgarten das Niedermetzeln der vollen Magnolienblüten, ignorierte Schreie der verängstigten Nachbarn, Polizeisirenen, Zurufe, der Schuss - und dann das Ausbleiben der roten Schrift am Himmel: "Du bist gestorben!"
"Wenn du das machst, reden sie wieder alle davon, solche Spiele zu verbieten!", fauchte N. in seiner Wut.
"Darum geht es mir doch gar nicht. Mich interessiert doch der psychologische Zusammenhang, Narziss-Mythos und narzisstische Kränkung."
"Ja klar, und deine Bildungsbürger haben das schon längst geschnallt. Aber ein Amok... Das macht doch alles kaputt!"
Seufzend verabschiedete ich mich innerlich von dem Blütenregen. Oder vielleicht ein Seppuku im Narzissenbeet, und die sich langsam rot färbenden Blütenblätter ...
"Und komm nicht auf die Idee mit einem Selbstmord", mischte er sich wieder ein. "Bedenke: Ich habe das Spiel zweimal durch, da musst du mir doch eine gewisse Leidensfähigkeit zugestehen. Mich haut doch die Ablehnung meines Ebenbildes nicht so einfach um. "
Ich nickte langsam. "Stimmt leider."
"Obwohl du mich ihm ähnlicher hättest schreiben können."
Sein schmollender Ton ließ mich grinsen. "Und welches Ende hättest du gern?"
"Eine Pause! Hinaus in den Garten, hinein in die Narzissen!"
Noch einmal seufzte ich. Dann sah ich ihm zu, wie er ohne Schwert auf den Rasen lief, sich mitten in die Ansammlung der weißen und roten Tupfen legte, in den blauen Himmel schaute und - au nein - dazu zu pfeifen begann. Geh aus , mein Herz ...
Ich aber freute mich, vom PC zur Konsole zu wechseln.
"Her, du Finstertöter!" rief ich aufgeregt. "Dunkle Seelen, alte Fürsten - ich bin bereit. Bereit zu sterben!"