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Narziss inmitten seiner Hühner

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01.12.2002
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Narziss inmitten seiner Hühner

Schon lange habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, am Abend, wenn alles erledigt ist, noch für eine Weile auf die niedere Mauer des Hühnerhofs zu sitzen, den sonnenwarmen Stein an meinen Hosen zu spüren und über den Tag nachzusinnen, während ich dabei den Hühnern zuschaute, wie sie sich um Körner stritten oder ihrerseits in die letzten Sonnenstrahlen des Abends blinzelten. Das heisst, ich war mir nie ganz sicher, ob sie wirklich auch blinzelten, und, wie ich, das warme Sonnenlicht genossen, oder ob sie einfach nur dümmlich dastanden, wie es Hühnern oftmals nachgesagt wird. Ehrlich gesagt, ich war mir eigentlich immer ziemlich sicher gewesen, dass sie nichts von der Schönheit der Sonne verstehen, und sehe auch noch heute keinen Grund daran zu zweifeln.
Selbstverständlich kann man mir nun vorwerfen, ich sei ein Narziss inmitten seiner Hühner, sich in seiner Überlegenheit suhlend, und sehr wahrscheinlich bin ich das auch. Es gibt mir ein grossartiges Gefühl, wenn ich auf den Haufen seelenloser Geschöpfe herabsehen kann, und mich ab ihrem unverständigen Wesen belustigen kann.
Ich mag es, zuzusehen wie sich die Hähne mit stolzgewallter Brust aufeinander stürzen um die Hierarchie in meinem Hühnerhof für einige Zeit festzulegen, wie sie stundenlang am Boden nach Körnern suchen konnten, ohne sich anscheinend auch nur ein einziges Mal nach dem Sinn ihres Daseins zu fragen. Über all dies freute ich mich jeden Abend. Meine Mauerschau war mein Glück und mein Trost.
Jeden Abend. Bis sie mich mitnahmen, weil ich nun zu alt sei. Sagten sie. Als ob ich nicht wüsste, wie sie wirklich denken... Ich habe sie lange genug von der Mauer aus beobachtet. Jetzt sind die Mauern um mich herum, das Fenster ist klein, und der Fenstersims ist am Abend immer kalt.

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich finde die Geschichte humorvoll, aber weniger philosophisch. Auch wenn der Prot. sich für einen solchen hält.

Liebe Grüße

Das S

 

Hallo trassamar,

wollte eigentlich etwas zu Deiner Geschichte schreiben. Doch wer holt den Mann? Rein formal könnten „sie“ die Hühner sein. Unwahrscheinlich- doch im Forum gibt´s die tollsten Überraschungen...

Tschüß... Woltochinon

 

Nun, die Geschichte hat zwei Bedeutungsebenen: Zum einen sind da tatsächlich der Alte und seine Hühner, zum anderen sind all diese Objekte auch Sinnbilder für Leben (der Hof), für die Mitmenschen (die Hühner) usw. Wenn dann der Alte am Ende abgeholt wird, so sind es in gewisser Weise tatsächlich die Hühner, die das tun... die zwei Ebenen verlaufen ineinander...
Von der Mauer:
trassamar

 

Hallo trassamar,

nun, da dies geklärt ist, kann ich ja noch einmal in den Text schauen. Der zweideutige Satz müßte aber nicht so sein (er wirkt eher so, als ob der Bezug nicht stimmt), um die zwei Ebenen im Text zu haben.

Tschüß... Woltochinon

 

*Lichtaufgeh* Ah ja :) Stimmt, wenn man es unter den Gesichtspunkten liest ists klar :) Also schaut er nicht nur auf ein paar Federviecher herab sondern an sich auf das ganze Leben und die Menschheit.

 

Hallo trassamar,

eine ganz gut eingefädelte Geschichte: Der Prot. wird von seinem eigenen Selbstverständnis eingeholt, die „Mauern sind um mich herum“. Die Geschichte zeigt das vergebliche Tun, außerdem wie das Naheliegende das Nachdenken über das Gesamte verdrängt.
Am Schluß ist auch das „Fenster“ für den vormals Überlegenen nur noch „klein“.
Die Geschichte ist der Parabel sehr verbunden, ein Spannungsbogen würde ihr gut tun.
Trotzdem ist sie recht ansprechend zu lesen.
(Interessanter Titel!)

Tschüß... Woltochinon

 

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