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Narziss inmitten seiner Hühner
Schon lange habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, am Abend, wenn alles erledigt ist, noch für eine Weile auf die niedere Mauer des Hühnerhofs zu sitzen, den sonnenwarmen Stein an meinen Hosen zu spüren und über den Tag nachzusinnen, während ich dabei den Hühnern zuschaute, wie sie sich um Körner stritten oder ihrerseits in die letzten Sonnenstrahlen des Abends blinzelten. Das heisst, ich war mir nie ganz sicher, ob sie wirklich auch blinzelten, und, wie ich, das warme Sonnenlicht genossen, oder ob sie einfach nur dümmlich dastanden, wie es Hühnern oftmals nachgesagt wird. Ehrlich gesagt, ich war mir eigentlich immer ziemlich sicher gewesen, dass sie nichts von der Schönheit der Sonne verstehen, und sehe auch noch heute keinen Grund daran zu zweifeln.
Selbstverständlich kann man mir nun vorwerfen, ich sei ein Narziss inmitten seiner Hühner, sich in seiner Überlegenheit suhlend, und sehr wahrscheinlich bin ich das auch. Es gibt mir ein grossartiges Gefühl, wenn ich auf den Haufen seelenloser Geschöpfe herabsehen kann, und mich ab ihrem unverständigen Wesen belustigen kann.
Ich mag es, zuzusehen wie sich die Hähne mit stolzgewallter Brust aufeinander stürzen um die Hierarchie in meinem Hühnerhof für einige Zeit festzulegen, wie sie stundenlang am Boden nach Körnern suchen konnten, ohne sich anscheinend auch nur ein einziges Mal nach dem Sinn ihres Daseins zu fragen. Über all dies freute ich mich jeden Abend. Meine Mauerschau war mein Glück und mein Trost.
Jeden Abend. Bis sie mich mitnahmen, weil ich nun zu alt sei. Sagten sie. Als ob ich nicht wüsste, wie sie wirklich denken... Ich habe sie lange genug von der Mauer aus beobachtet. Jetzt sind die Mauern um mich herum, das Fenster ist klein, und der Fenstersims ist am Abend immer kalt.