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Narbotic Doll
“In the year 3535
Ain't gonna need to tell the truth, tell no lies
Everything you feel, do and say
Is in the pill you took today”
Aus “In the year 2525” von Zager & Evans
It’s a hard days night
...
Das Messer rutscht aus dem Schädel.
Sie schmeckt das Blut, das in ihre Kehle fließt, in ihren Magen rinnt. Aufgelöst im Neuronenbrei: Erythrozyten. Leukozyten. Naniten, die durch ihre Magen- und Darmwände dringen, den Kreislauf bevölkern, immer weiter vorwärts dringen. Durch Koronargefäße und Kortexwände. Auf Amygdala programmiert.
Die Pupillen des Mädchens weiten sich im herbeigesehnten Synapsenfeuer. Sie wird ganz still und starr. Hirn tropft von ihren Händen.
The dove brings peace
Die Finger huschen über das Tastenpad des Injektionssets. LCD-Licht wirft ihren Schatten an die Wand, färbt ihre Züge in hoffnungsvolles Grün. Irgendwo plätschert Regenwasser durch die Löcher in Dach und Decke. Ungesehen. Vermischt sich mit den Tastentönen zu einer bizarren Melodie. Ungehört. Hinter dem Skelett eines Fensterrahmens, im obersten Stock einer Hotelruine, in einer Straße, deren Namen die Stadt längst vergessen hat, in einem Viertel, an das die Stadt sich nicht erinnern will, dort sitzt das Mädchen in einer Ecke. Die Skintex-Jacke schnell übergestreift, die Erinnerungen an die letzten Stunden, Jahre kurz abgelegt. Eindringliches hinausgedrängt. Nur Augen, Ohren und Finger für das Piktogramm-Menü ihrer Bot-Spritze.
Sie überlegt nicht. Und wählt das weiße Vögelchen. Den Membranstempel auf den Hals gedrückt, die Lösung mit fünf Bar durch die Haut gepresst und schon hält der Friede Einzug. Reist auf den Rücken einer Millionen Nanobots, die einen Augenblick später durch ihre Adern fluten, sich ihren Weg ins Gehirn bahnen. Vorbei an Neuronen und Dendriten. Direkt an die Synapsen. Alles passiert gleichzeitig: Prozeduraufrufe. Parameterübergaben. Neurotransmitterausschüttung. Und aus amygdaler Stimulation wird alkyonische Simulation. Der Rausch nie gekannter und unvergessener Leichtigkeit. Mit einem Lächeln auf den Lippen versinkt das Mädchen im Dunkel des Raums.
Wicked Games
„Du sollst lächeln, verdammt noch mal!“ Die Hand des Alten kommt von rechts, lockert den letzten Backenzahn. Eine große Hand. Haarig und hart, stellt sie fest. Etwas Blut fließt ihr aus dem Mundwinkel. Sie lächelt. Durch das angekippte Fenster dringt urbanes Getöse: Menschen auf dem Bürgersteig, Fetzen von Musik und Autolärm. Die ganze Stadt ist in diesem Zimmer und hört uns beiden zu, denkt sie. Auf seiner Stirn glitzert hundertfach der Schweiß im Neonblau der Leuchtreklamen. Wie ein kleiner Sternenhimmel. Fast könnte sie auch mit dem Herzen lächeln.
„Starr mich nicht an! Ich kann nicht abspritzen, wenn du mich mit deinen Puppenaugen anstarrst.“ Ein Schlag auf die linke Wange. Sie schließt die Augen und lächelt weiter. „Abspritzen“ hat der Alte gesagt.
Sie hasst ihn nicht. Sie liebt ihn nicht. Sie hasst und liebt nicht einmal sich selbst. Sie trauert nicht. Sie leidet nicht. Sie fühlt nicht. Sie ist nur da. In diesem Raum. In diesem Bett. Unter dem Alten, der wie ein Sternenhimmel schwitzt und seine Lust hinausstöhnt. Genau dort ist sie. Und macht nichts weiter, außer dort zu sein und zu denken. Und zu begehren. Heiße, inbrünstige, gefühlslose Begierde. Sie begehrt Narbotic.
A little Piece of my Heart
„Die Kleine hatte schon genug Narbotic heute Nacht, Snetch. Lass sie doch einfach in Ruhe. Bitte.“
„Halt’s Maul, Bliz!“ Snetchs ringbewehrte Faust schickt Bliz zu Boden.
„Ich hab dir Schlampe schon Tausend Mal gesagt: Misch dich nicht in meine Geschäfte ein. Wieviel Narbotic sich meinen Dolls spritzen, ist ihre Sache. Ich zwinge niemanden.“
Bliz kriecht in die hintere Ecke des Zimmers und richtet sich am Bettpfosten auf. Sie hat ungewohntes Mitleid mit dem Mädchen, dass da apathisch im Türrahmen steht. Ein zarter Körper, feingliedrig, weich und erblühend. Aber ihr Blick ist leer. Ein Puppenblick. Unendlich tiefe schwarze Löcher anstelle menschlicher Pupillen.
„Sieh dir ihre Augen an. Sie sieht schon aus wie ein Cold.“
„Ach was.“ Snetch packt das Gesicht des Mädchens und schaut sie prüfend an. „So ein Quatsch. Sie ist noch nicht soweit. Das dauert noch mindestens drei Monate, bis sie cold ist. Nicht wahr, meine Kleine?“
Das Mädchen sagt nichts, starrt nur auf den Nachttisch neben Bliz, wo Snetchs Injektionsset verlockend blinkt. Sie will die Spritze.
„Du bist ein verdammtes Schwein, Snetch!“ Bliz steigen Tränen in die Augen.
„Halt’s Maul. Spritzt dir ein paar Glücks-Bots und sei ruhig. Du hast überhaupt keine Ahnung. Bei mir sind die Dolls noch gut dran. Jeder andere würde die Mädchen in die Slums schicken, wenn sie Colds geworden und kurz vorm Durchdrehen sind. Weißt du, was die Freaks in den Slums mit solchen Mädchen wie dem hier machen?“ Bliz schweigt betroffen.
„Aber ich bin nicht so! Wenn’s soweit ist, dann schnell ein schmerzloser Schnitt in die Kehle...“ Snetch legt die Hand auf den Dolch an seinem Gürtel. „... Und sie haben ihren Frieden. Das schulde ich meinen Dolls.“ Bliz zurrt ihren Bademantel zurecht und stürmt an Snetch und dem Mädchen vorbei hinaus in den Motelflur.
„Ich hasse dich“, hallt es die Treppe rauf. Snetch bleckt die Zähen und entblößt dabei das Stahlimplantat seines Kieferknochens.
„Was für eine Dreckschlampe“, lächelt er, „aber ich liebe sie einfach. Nun zu Dir, kleine Lady. Die Credits von deinem letzten Kunden wurden gebucht, hab ich bereits gescheckt. Gut gemacht. Jetzt willst du dir sicherlich deine Belohnung abholen, was?“ Das Mädchen schweigt weiterhin. Ihr Blick bleibt starr.
Snetch geht zum Nachtisch und nimmt die Spritze in die Hand, tippt einige Mal auf das Pad. Stählernes Grinsen.
„Leider hat sich da kurzfristig etwas geändert. Über LinkCom kam grad ne Bestellung eines alten Stammkunden. Ich dachte mir, den Job könntest du noch schnell übernehmen.“
Der Mund des Mädchens öffnet sich. Ein kurzer Anflug von Protest. Doch sie fühlt keine Wut. Nur Ohnmacht und Begierde. Snetch tippt auf das Herzsymbol.
„Eine kleine Motivationsstärkung für den Weg“, sagt er und presst ihr die Spritze auf den Hals.
„Ein kleines Geschenk von mir.“
Es brennt in ihren Adern. Es brandet und schäumt. Warmes Rauschen. Eine seichte Welle der Liebe durchströmt jede Faser und jeden Muskel. Ein Hauch Chemo-Liebe. Narbotic-Liebe. Die einzige Liebe, die sie will.
„Für wen tust du es?“, fragt er.
„Für dich“, flüstert sie, meint es so, aber glaubt nicht daran. Und ihre schwarzen Löcher verwandeln sich zurück in die Pupillen eines kleinen Mädchens.
It’s a hard days night
„Die verdammte Göre hat grad geklopft.“ Snetch. Sie hört ihn durch die Tür hindurch, wie er mit jemanden über das LinkCom diskutiert. Echte biologische Wut liegt in seiner Stimme. Keine synthetische Narbotic-Emotion. Und dennoch wartet sie. Ohne Angst. Der Alte hatte Recht, überlegt sie. Ich bin wie eine Spielzeugpuppe.
„Okay, kriegst das nächste Mal ne Frische. Nein, keinen Rabatt. Und jetzt gib Ruhe.“ Das LinkCom piept. Das Gespräch ist vorbei. Snetch reißt die Tür auf, packt das Mädchen an seiner SkinTex-Jacke und zerrt es ins Zimmer.
„Das war grad Pete. Einer meiner besten Kunden.“ Seine Ohrfeige schleudert sie durch den Raum aufs Bett. Er zerrt sie wieder auf die Beine. „Hat sich beschwert, dass du nur da gelegen und ihn angestarrt hast.“ Er schüttelt sie. „Unsere Kunden wollen Spaß. Wenn sie keinen Spaß haben, dann kommen sie nicht wieder. Und dann werd ich richtig sauer, weil das schlecht fürs Geschäft ist!“
Noch ein Schlag und sie landet neben dem Nachtisch. Die Bot-Spritze fällt ihr in den Schoß. Sie ist zu benommen, um danach zu greifen. Snetch kommt ihr zuvor.
„Bist nur wegen der Bots hier, was?“ Erhält die Spritze triumphierend in die Höhe, zieht sein Messer und presst ihr die Spitze auf die geschwollene Wange. Ein kleiner Blutstropfen bildet sich und rinnt die Haut entlang. Ihr Gesicht bleibt regungslos. Ihre Augen fixieren die Spritze in seiner Hand. Snetch zögert.
„Vielleicht hatte Bliz doch Recht. Du hattest schon zuviel Narbotic.“ Er setzt ihr das Messer an die Kehle. Dann überlegt er.
„Wäre schade bei dir, wenn ich zu voreilig wäre. Bist eigentlich ganz hübsch. Vielleicht genügen auch schon ein paar Tage Entzug, um dein Gehirn wieder frei zu machen von dem Dreck.“ Er steht auf, steckt das Messer weg und zerrt sie hoch.
„Hau ab und kuriere dich aus“, sagt er und schubst sie in Richtung Zimmertür.
„Und das...“ Snetch wedelt mit der Spritze in der Hand, „... bleibt hier.“ Da ist es wieder, das Stahlgrinsen. Übermächtig, blendend und verhöhnend. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Nach dem harten Tag heute brauch ich jetzt’n Schuss Ruhe.“
Ihr Ausdruck bleibt starr. Ihr Blick haftet an der Spritze. Meine Spritze, denkt sie. Meine Bots.
Snetch presst den Daumen auf das Vogelsymbol und setzt sich den Stempel an den Hals. Gaspatronenzischen und sein Gesicht verwandelt sich augenblicklich in eine Bachus-Maske. Er bemerkt gar nicht, wie das Mädchen plötzlich wieder vor ihm steht.
Die Klinge verlässt die Gürtelscheide.
„Hey, was...?“
Knochen knacken und die Schläfe splittert. Das Mädchen reißt das Messer mit viel Kraft über Snetchs Stirn. Graue Masse quillt ihr entgegen. Will wohl vor mir flüchten, denkt sie. Dann greift sie zu. Reißt große Stücke heraus, schlingt sie in sich hinein. Kaut und schluckt. Mehr. Mehr!
...
Ende