Mitglied
- Beitritt
- 05.06.2018
- Beiträge
- 37
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Narben
Als ich vor Emmas zu Hause parke, sind die Fenster alle dunkel. Ich bin froh, dass ich nicht allein bin, ich bin feige und habe Angst vor der Trauer und der Einsamkeit. Chloe, Ben und ich steigen aus und laden unsere Einkäufe aus dem Kofferraum. Chloe trägt ein weiches, schwarzes Wollkleid und hohe Schuhe, die nicht für den Winter geeignet sind. Die Haare hat sie zu einem schicken Knoten zusammengebunden. Wie immer sieht sie aus, als gehöre sie in eine „New York Street Fashion“ Fotostrecke und nicht nach Fronhausen bei Köchte bei Olpe. Als sie den Kofferraum zumacht sehe ich, dass sie zwei rote Plastik-Lichtschwerter benutzt hat, um den schicken Knoten auf ihrem Hinterkopf festzustecken.
Wir sind alle stiller als sonst, wir sind nervös. Nur weil man weiß, was einen erwartet, heißt das ja nicht, dass man sich nicht davor fürchten kann.
Geistesabwesend zieht Chloe an dem weißen Schild, das aus Bens Nacken hervorsteht. Sie muss sich dafür recken, weil Ben fast zwei Meter groß ist. Erst jetzt bemerke ich, dass Ben seinen Pulli auf links anhat. Mal wieder. Seine schwarzen Haare sind nass von einer schnellen Dusche, sie gefrieren in der kalten Winterluft.
Einen Moment lang stehen wir drei neben meinem Auto. Seit der Grundschule sind wir in Team, Chloe, Ben, Emma und ich. Viel hat sich in der Zeit verändert, bald machen wir Abi und fangen alle unser eigenes Leben an. Ich hoffe, dass wir auch danach noch ein Team sein werden, egal wohin das Leben uns versprengt.
Der Wagen von Emmas Mutter steht nicht in der Einfahrt, sicher ist sie schon in die Kirche gefahren. Sie wird den Tag mit ihren Freunden aus der Gemeinde verbringen. Betend, nehme ich an.
Es ist heute genau elf Jahre her, dass Emma überlebt hat. Emma war mit ihrem Vater und ihrer Schwester auf dem Weg zur Oma, als ein betrunkener Fahrer frontal in ihr Auto gerast ist. Es ist ein Wunder, sagt Emma manchmal, dass sie überlebt hat. Aber sie sagt es traurig. Seit elf Jahren hasse ich Emmas Mutter dafür, dass Emma an diesem Tag ganz allein ist. Sie könnte ja mit in die Kirche gehen, würde ihre Mutter sagen, wenn man sie fragt, aber Emma hat zu viel Angst vor Gott.
In den ersten Jahren war es schwieriger, ins Haus zu kommen, mittlerweile habe ich einen Schlüssel. Es ist dunkel, jemand hat die Vorhänge vor alle Fenster gezogen. Es riecht nach dem überquellenden Mülleimer in der Küche und nach Kaffee. Es ist still bis auf das Tropfen des Wasserhahns.
„Emma?“, ruft Chloe. Sie stellt die Einkaufstüten auf der Kücheninsel ab. Während sie anfängt die Küche aufzuräumen, folge ich Ben die Treppe nach oben. Die Stufen knarren unter unseren Tritten, viel zu laut in der Stille des Hauses.
Der Lack auf Emmas Zimmertür ist abgesplittert, man kann ihr hölzernes Inneres sehen. Jemand müsste sie neu lackieren, aber es gibt niemanden mehr, der sich darum kümmert. Emmas Mutter hat sich seit dem Unfall verändert. Ich kann die Frau, die mit leiser Stimme und Filzpantoffeln über die Flure schleicht und sich um nichts und niemanden schert, einfach nicht mit der fröhlichen, offenen, energiegeladenen Frau übereinbringen, die ich von Kindergeburtstagen in Erinnerung habe. Emma kümmert sich jetzt meist um den Haushalt. Und die Finanzen. Und die Arzttermine ihrer Mutter.
Ich klopfe an die Tür und wir warten. Nichts.
„Emma“, sage ich in die dunkle Stille hinein.
Es riecht nach Papier, Schweiß und Kaffee. Emma sitzt in nichts als einem weiten, grauen T-Shirt auf ihrem Bett und sieht aus dem Fenster, obwohl die Vorhänge zugezogen sind. Sie ist immer blass, aber heute ist ihre Haut beinahe durchsichtig, so als könnte man in sie hineinsehen, wenn man die Augen zusammenkneift.
Meine Augen wandern ganz von allein zu Emmas nackten Oberschenkeln, meine Fingerspitzen kribbeln in Erinnerung an die weiche Haut dort. Es ist nicht besonders sensibel, seine Freundin geil zu finden, wenn es ihr so schlecht geht. Emma hat eine schwarze Perlenkette um ihre rechte Hand gewickelt, von der ein Kreuz herabhängt. Die kleinen Perlen drücken sich in ihre Haut. Die dunkelbraunen, kurzen Haare, die sonst immer in alle Richtungen abstehen, kleben fettig an ihrem Kopf.
„Emma“, sagt ich nochmal, aber sie bleibt still sitzen und sieht weiter aus dem Fenster ohne aus dem Fenster zu sehen. Emma wird von Narben zusammengehalten, neuen und alten. Die alten, die vom Unfall, sind blass und chaotisch auf ihrer Haut. Die neuen sind schnurgerade und parallel, eine wie die andere, ihren linken Arm hinauf. Überall liegen Bücher verstreut, dazwischen Notizbücher, in die Emma Ideen gekritzelt hat, lose Zettel mit ihrer winzigen Schrift darauf, angefangene Geschichten, halbleere Kaffeetassen. Ihr Laptop steht aufgeklappt auf dem Bett neben ihr.
Ben legt die Hand an Emmas Kinn, sieht ihr in die Augen und seufzt. Dann schiebt er einen Arm unter Emmas Knie, den anderen um ihren Rücken, hebt sie mitsamt Decke von ihrem Bett. Emma lässt den Kopf gegen seine Schulter fallen, die Kette um ihre Hand zieht sich fester um ihre Finger.
Die Schublade des Nachttischs steht offen, ich kann verbogene, silberne Blister darin erkennen, ein paar Dosen Red Bull. Ich frage mich, ob es im Sinne des Erfinders ist, die angstlösenden Tabletten, die einem verschrieben werden, mit Energydrink runterzuspülen. Die Tabletten helfen sowieso nicht, sagt Emma immer. Aber ich glaube, dass sie sie nicht regelmäßig genug nimmt, damit sie funktionieren können. Darüber streiten wir uns oft.
Ben trägt Emma auf das Sofa im Wohnzimmer. Durch die Tür zur Küche höre ich Chloe. Sie hat Musik angemacht, die Spülmaschine läuft. Ich ziehe die Vorhänge von allen Fenstern im Wohnzimmer. Emma sitzt in der Ecke auf dem Sofa, genau wie Ben sie abgesetzt hat, und sieht auf ihre Hände runter, ohne ihre Hände zu sehen.
Ben fängt an im Wohnzimmer aufzuräumen, es stehen leere Kaffeetassen und halbvolle Teller auf dem Sofatisch und dem Boden vor dem Fernseher. Ich setze mich neben Emma aufs Sofa.
„Hi“, sage ich und komme mir total bescheuert vor.
Emma antwortet nicht. Ihr Atem ist ganz flach, sie sieht fast ganz regungslos aus. Ich strecke die Hand nach ihrer Schulter aus und sie dreht sich weg, nur eine winzige Bewegung, genug damit meine Hand zurückzuckt. Ich lasse sie nutzlos in meinen Schoß fallen.
Chloe bringt eine große Schüssel Kartoffeln, einen Teller und zwei Sparschäler aus der Küche und stellt sie vor uns auf den Sofatisch.
Ich halte Emma eine Kartoffel hin. „Hilf mit, sonst werden wir nie fertig“, sage ich und sie nimmt die Kartoffel ohne mich anzusehen, aber sie fängt an sie mit langsamen Bewegungen zu schälen.
Ich höre Tellerklappern und Brutzeln. Jemand dreht die Musik in der Küche lauter auf, Emmas Lieblingsband. Ich wünschte Emma würde aufspringen und, wie sonst so oft, lauthals schief mitsingen, während sie sich mit ausgestreckten Armen in der Zimmermitte dreht. Ben kommt mit einem vollen Putzeimer ins Wohnzimmer und verschwindet den Flur runter, Chloe holt Werkzeug aus dem Auto und repariert den tropfenden Wasserhahn in der Küche.
Als die Kartoffeln geschält sind, rupfen wir Salat klein. Die Musik wird ruhiger. Die Texte sind Emmas Lieblingsgedichte und auch wenn ich nicht viel damit anfangen kann, mag ich sie, weil ich weiß, was sie Emma bedeuten. Emma atmet tief aus und macht die Augen zu. Die Anspannung weicht aus ihren Schultern.
Als Chloe zweieinhalb Stunden später die erste Buffy DVD anmacht, ist das Haus einigermaßen ordentlich und sauber, die Küche aufgeräumt und der Kühlschrank voll. Wir haben Decken, Isomatten und Schlafsäcke auf dem Boden im Wohnzimmer ausgerollt und sitzen auf Sofa und Decken verteilt mit vollen Tellern vor dem Fernseher.
Emma hat immer noch kein Wort gesagt, sie sieht auf den Teller in ihrem Schoß herunter, die Knöchel ihrer Hand, in denen sie die Gabel hält, sind weiß. Ich bin immer noch nutzlos.
„Müssen wir mit der ersten Staffel anfangen?“, fragt Ben um eine Gabel Kartoffelauflauf herum.
„Aber wir gucken immer alle Folgen von Anfang an.“ Chloe klingt empört. „Ich verstehe nicht, warum wir diese Diskussion jedes Mal wieder führen.“
„Weil es jedes Mal wieder scheiße ist mit der kompletten ersten Staffel anzufangen!“ Ben dreht sich halb zu Chloe um und die beiden sehen sich so lange herausfordernd an, bis Ben anfängt zu lachen. „Mann, du bist echt stur.“
„Okay, wir können ja mal die erste Folge gucken, wir sind uns doch alle einig, dass wir die auf keinen Fall auslassen können, oder?“, frage ich und nehme die Fernbedienung vom Sofatisch.
Emma stochert in ihrem Salat herum, dann nimmt sie einen winzigen Bissen.
Ben spricht die Dialoge leise mit, bis Chloe sich zu ihr umdreht und „shhht!“, macht.
„Wir könnten alternativ auch einfach den Ton ausmachen und Ben reden lassen“, schlage ich kichernd vor.
„Ist deine Mama in der Kirche?“, frage ich, als Buffy Angel zum ersten Mal begegnet.
Emma nickt und zieht den Rosenkranz in ihrer Hand vorsichtig durch ihre Finger, als würde sie die Perlen zählen statt zu beten. Danach bleibt sie wieder still und stumm in ihrer Ecke des Sofas sitzen. Aber sie isst einen halben Teller Auflauf und Salat.
Nach dem Essen spüle ich ab und koche uns allen einen riesigen Topf Chai-Tee. Ich mache ihn ganz scharf, so wie Emma es gern mag. Ben und Chloe haben sich offensichtlich darauf geeinigt, ein paar Folgen zu überspringen, denn sie sind schon bei Staffel zwei angelangt, als ich mit dampfenden Tassen wieder ins Wohnzimmer komme.
Als Angel Willows Fische tötet, legt Emma die Finger ihrer rechten Hand auf meinen Oberschenkel. Ich kann die kleinen Perlen der Kette spüren, die sie immer noch darum gewickelt hat. Ich lege meine Hand auf ihre.
Ich schlafe zwischendurch ein, verpasse das große Finale der zweiten Staffel und den Anfang der dritten. Die Sonne geht unter und wieder auf und wir machen Pfannkuchen, Toast, Kaffee, mehr scharfen Chai-Tee.
Es ist stockdunkel und die dritte Staffel Buffy läuft, als Emma ihren Kopf in meinen Schoß legt. Ich schlafe beinahe, aber nicht ganz. Chloe und Ben schnarchen leise in ihren Schlafsäcken. Ich vergrabe meine Finger in Emmas ungewaschenen Haaren.
„Es tut mir leid, Lina“, flüstert Emma. Ihr Atem riecht nach Schlaf und Kaffee. In der Dunkelheit sind ihre Pupillen so groß, dass sie das Grün ihrer Augen beinahe ganz verdecken.
Es macht mir Angst wie klein und zerbrechlich Emma ohne den Trotz und die wilde Energie aussieht, die sonst unter ihrer Haut brennt. Statt einer Antwort lehne ich mich vor, drücke meine Stirn an Emmas, lege meine Hände um ihr Gesicht, als könnte ich ihr helfen, sich vor der Welt zu verstecken.
Es ist heute genau elf Jahre her, dass Emma überlebt hat. Ich weiß, dass sie sich oft wünscht, sie wäre im Krankenhaus nicht wieder aufgewacht. Ich denke manchmal darüber nach wie mein Leben wäre, wenn Emma nicht mehr da wäre. Ich glaube sie denkt öfter darüber nach als ich. Ich würde gern etwas sagen, das alles wieder gut macht. Wie: „Es ist nicht deine Schuld, dass du überlebt hast, Emma“ und „ich bin froh, dass es dich gibt, Emma.“ Aber so einfach ist es nicht.
Ich nehme Emma in den Arm und wippe vor und zurück,
vor und zurück,
vor und zurück,
während sie Küsse in meinen Haaren versteckt.