Was ist neu

Novelle Narben der Freiheit

(Vor)lese-Alter
(Vor)lesealter: +20
Mitglied
Beitritt
30.01.2025
Beiträge
1

Narben der Freiheit

Narben der Freiheit​

Zwanzig Schritte​

Der junge weiße Hengst stand regungslos am Rand der Koppel. Hinter ihm lag der warme Stall, vor ihm die endlosen Weiten der Bergwelt. Das Tor stand offen.

Ein Fehler des Knechts – der ihn so oft mit der Peitsche gezüchtigt hatte und sich seiner Sache zu sicher schien. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, während seine Hufe den Boden scharrten, unschlüssig zwischen Vorwärts und Zurück.

Zwanzig Schritte. Mehr brauchte es nicht für die Freiheit. Doch die Erinnerung an die Peitsche des Knechts ließ ihn zögern. Er kannte den Preis, wenn er versuchte, seinen Kopf durchzusetzen – trug ihn eingebrannt in seiner Seele, eingeritzt in sein Fleisch. Jede Narbe eine Geschichte von Auflehnung und Züchtigung.

Ein Windstoß trug den Geruch der Wildnis zu ihm – den Atem der Bäume, harziger Waldluft, lebendiger Erde. Der gleiche Wind, der ihn als Fohlen zum ersten Mal berührt hatte. Seine Instinkte drängten ihn vorwärts, ungebändigt und wild, wie sie es seit seiner Geburt waren.
Keine Gedanken an Morgen, keine Angst vor der Nacht.
Nur der Rausch der Geschwindigkeit, die Freude am eigenen Körper, die Gewissheit der Unbesiegbarkeit.

Der Knecht bemerkte seinen Fehler. Seine hastigen Schritte knirschten auf dem Kies. In wenigen Sekunden würde er das Tor schließen und ihm die Entscheidung verwehren, vor der er sich fürchtete.

Das Klappern des Futtertroges erinnerte ihn an die Sicherheit des Stalls. An regelmäßige Mahlzeiten, frisches Stroh und die vertraute Routine des Stalllebens. Die Schritte kamen näher.

Zwanzig Schritte bis zur Freiheit.
Zwanzig Schritte, die sein Leben für immer verändern würden.

Der weiße Hengst traf seine Wahl.

Seine Hufe donnerten über den gefrorenen Boden, als er durch das Tor brach. Der Knecht fluchte hinter ihm, aber seine Worte verwehten im Wind. Mit jedem Galoppsprung löste sich eine Fessel – der Geruch von Heu und Stroh, die Wärme des Stalls. Er ließ alles hinter sich, wie der Sommer den Winter.

Die ersten Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Er hatte den Winter vergessen, in der Wärme des Stalls. Jetzt schnitt die Kälte durch sein Fell wie tausend Nadelstiche. Doch er verlangsamte seinen Lauf nicht. Die Kälte war der Preis der Freiheit, und er war bereit, ihn zu zahlen.

Auf einer entfernten Hügelkuppe hielt er inne. Sein Atem dampfte in der kalten Luft, während sein Blick über die verschneite Landschaft schweifte. Der Stall war von hier aus nicht mehr zu sehen, verborgen hinter den sanften Wellen des Geländes. Für einen Moment zog sich sein Herz zusammen. Er hatte eine Wahl getroffen, aber war es die richtige?

Die erste Freiheit​

Die Zweifel verflogen so schnell wie sein Atem in der eisigen Luft. Mit jedem Sonnenaufgang, der die Berggipfel in goldenes Licht tauchte, verblasste die Erinnerung an den Stall ein wenig mehr. Die Peitsche des Knechts wurde zu einem fernen Schatten, überstrahlt von der gleißenden Helligkeit seiner neu gewonnenen Freiheit.

Frostige Lektionen​

Die ersten Tage waren hart gewesen. Der Winter hatte seine Krallen tief in das Land geschlagen, und sein Körper, verwöhnt von der Stallwärme, musste sich erst an die Kälte gewöhnen. Nachts hatte er sich in windgeschützte Mulden gekauert, während der Schneesturm um ihn heulte.
Hunger nagte an seinem Magen, als er lernte, die zarten Triebe der Tannenzweige zu fressen, die ihm in seiner Not süßer schmeckten als das beste Heu des Stalls.

Doch mit jeder Herausforderung, die er meisterte, wuchs sein Mut.

Die Zeichen der Peitsche verblassten und wichen neuen Narben – Orden seiner erkämpften Freiheit. Der Schnee, der ihm anfangs ein Feind war, wurde zum Spielgefährten. Jeder Hufabdruck war wie eine Signatur seiner Freiheit.

Die Unsicherheit, die ihn auf der Hügelkuppe noch gequält hatte, verwandelte sich in eine wilde Freude an der Unabhängigkeit. Er brauchte keine warme Box mehr, keine regelmäßigen Mahlzeiten, keine vorgegebenen Wege. Die Bergwelt wurde zu seiner neuen Heimat, wild und grenzenlos wie sein junges Herz.

Mit jedem Tag wurde er kühner. Was gestern noch wie ein unüberwindbares Hindernis erschien, wurde heute zur willkommenen Herausforderung. Die steilen Hänge, die tiefen Gräben, die reißenden Bäche – sie alle riefen nach ihm, lockten ihn mit dem Versprechen neuer Abenteuer.

Die Vorsicht, die der Stall ihm eingeimpft hatte, löste sich auf wie Morgennebel in der Sonne. An ihre Stelle trat ein unbändiger Lebensdurst, ein Hunger nach immer neuen Erfahrungen. Die Konsequenzen seines Handelns waren ihm so gleichgültig wie die verschwindenden Sterne am Morgenhimmel – er lebte nur für den Moment, berauscht von seiner eigenen Unbesiegbarkeit.

Jeder neue Tag war eine Herausforderung, koste es, was es wolle.

Der erste Winter neigte sich seinem Ende zu. Die Tage wurden länger, die Sonne schmolz den Schnee von den Südhängen. Wo eben noch eine weiße Decke lag, zeigten sich erste grüne Spitzen, die nach dem Licht tasteten.
Der Hengst hatte überlebt – härter und stärker, aber auch müder als zuvor. Seine einst gepflegte Mähne hing struppig und ungekämmt, die Rippen zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. Die wilde Freiheit hatte ihren Preis gefordert, hatte ihn gezeichnet mit den Spuren des Überlebenskampfes.

Zwei Herzen​

Der Frühling zog in die Täler ein. Mit dem Schmelzen des letzten Schnees kehrte das Leben zurück – zuerst die Vögel, die ihre Nester bauten, dann die ersten Schmetterlinge über frischem Gras. Schließlich erschienen auch die Menschen wieder. Ihre Gestalten wirkten weniger bedrohlich als in seiner Erinnerung. Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie sie ihre Herden auf die ersten grünen Weiden trieben. Der Geruch von Heu wehte zu ihm herüber, weckte längst vergessene Erinnerungen an die Wärme des Stalls.

Die Einsamkeit, die im Rausch der ersten Freiheit wie ein Triumph erschienen war, lastete nun schwer auf seinem Herzen. Er sehnte sich nach Gesellschaft, nach der Berührung einer sanften Hand, nach dem Klang einer freundlichen Stimme.

Langsam, fast unmerklich, begann er näher an die Weiden heranzutreten. Die Menschen bemerkten ihn, aber sie jagten ihn nicht. Sie ließen ihn gewähren, wenn er am Rand ihrer Herden graste. Manchmal sprachen sie zu ihm, ihre Stimmen weich wie der Frühlingswind, ohne Ähnlichkeit mit den harten Befehlen des Knechts. Sie klangen wie ein Versprechen – ein Versprechen von Wärme, von Geborgenheit, von einem Ende der Einsamkeit.

Tag für Tag wagte er sich näher heran, getrieben von einer Sehnsucht, die er nicht verstand.
Die Freiheit ließ sein Blut immer noch wild pulsieren, ließ seine Nüstern beben bei jedem Windhauch aus den Bergen. Doch nun gesellte sich zu ihr ein neues Verlangen nach Wärme und Geborgenheit. Zwei Herzen schienen in seiner Brust zu schlagen – eines wild und ungezähmt wie die Bergwelt selbst, das andere hungrig nach der Wärme einer sanften Berührung.

Goldenes Geschmeide​

Unter all den Menschen, die ihn mit Heu und freundlichen Worten lockten, war eine, die anders war. Sie kam nicht mit ausgestreckten Händen auf ihn zu.

Jeden Morgen suchte sie Kräuter am Rand der Weide, ihr langes Haar glänzend in der Frühlingssonne. Sie sprach nicht zu ihm, machte keine Anstalten, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Stattdessen bewegte sie sich in ihrer eigenen Welt, bückte sich nach Heilpflanzen, pflückte Blätter und Blüten mit kundigen Fingern, während sie leise alte Kräuterlieder vor sich hin summte, als wäre seine Anwesenheit ihr gleichgültig.

Diese scheinbare Gleichgültigkeit weckte seine Neugier mehr als alle lockenden Rufe der anderen. Tag für Tag wagte er sich ein Stück näher an sie heran. Ihre ruhige Präsenz hatte etwas Vertrautes, erinnerte ihn an die friedlichen Morgenstunden in den Bergen, wenn die Welt noch schlief.

An einem besonders warmen Frühlingstag, als die Luft vor Leben summte, kam er so nahe, dass er ihren Duft wahrnahm. Sie roch nicht nach Stall und Zaumzeug, sondern nach Tannenzweigen und frischem Gras, die er in seiner Freiheit lieben gelernt hatte.

Als sie langsam ihre Hand hob, wich er nicht zurück. Ihre Bewegung war sanft wie eine Frühlingsbrise, ohne Anspruch. Sie ließ ihm die Wahl, die ihm der Knecht damals mit seiner Peitsche genommen hatte. Ihre Fingerspitzen berührten seine Nüstern, federleicht, und er verstand: Nicht jede menschliche Berührung bedeutet Fesseln.

Sie schien seine wilde Seele zu erkennen, zu achten.

Als sie sich eines Tages erhob und langsam in Richtung des Dorfes ging, folgte er ihr wie ein treuer Gefährte. Seine Hufe trugen ihn freiwillig über die Schwelle eines Stalls, der anders roch als sein alter Hof – nach frischem Stroh und Frühlingsblumen.

Sie holte etwas aus einer Truhe, das im Sonnenlicht aufblitzte – ein golden schimmerndes Geschmeide, fein gearbeitet, filigran wie Eisblumen. Seine Augen weiteten sich bei diesem Anblick, der ihn an die glitzernden Bergbäche und die ersten Sonnenstrahlen auf Schneekristallen erinnerte. Als sie das Geschmeide behutsam an seinen Kopf legte, fühlte es sich wie eine Krönung seiner freien Entscheidung an, ihr zu folgen.

Schritt für Schritt wurde aus dem wilden Tanz ein geordneter Rhythmus, aus dem freien Geist ein gezähmtes Herz.

Jedoch was einst wie edles Geschmeide schimmerte, verwandelte sich in harte Zügel, die sich wie Ketten um seinen Willen legten. Die Wärme des Stalls wurde zu erstickender Enge. Wo einst Freiheit herrschte, regierte nun Kontrolle. Die Enttäuschung traf ihn wie der erste Frost die Sommerblüten.

Der weiße Hengst hatte seiner ersten Herrin blind vertraut, bis die Zügel seinen Atem zu ersticken drohten. In einer Nacht der Entscheidung zerriss er seine Fesseln und galoppierte los. Tag für Tag trieb es ihn weiter nach Osten, der Atem schwer in seiner Brust, die Hufe blutig vom endlosen Lauf. Diese neue Welt des Ostens war ihm völlig fremd – die Weiden anders, die Sprache der Winde unverständlich, selbst die Regeln des Überlebens folgten anderen Gesetzen.

In eisernen Ketten​

In dieser Verwirrung wurde er leichte Beute. Fremde Hände legten ihm eiserne Ketten an, unter deren Last sich sein stolzer Nacken beugte. Sie erkannten in ihm einen wertvollen Fang – ein Wesen, das ihren Zielen dienen würde. In einer dunklen Halle am Rande der Stadt, dicht gedrängt zwischen vielen anderen Gefangenen, fand er sich wieder. Die meisten Gesichter um ihn herum waren freundlich, doch die täglich schwerer werdenden Ketten ließen ihn nie vergessen, wo er war. Manche trugen ihre Ketten schon so lange, dass sie vergessen hatten, wie es war, ohne sie zu leben. Was er für Freundschaft gehalten hatte, war nur das Band gemeinsamen Elends.

Mit jedem Tag lasteten die Fesseln schwerer auf ihm, während sein früheres Selbst mehr und mehr verblasste. Ein Tag folgte dem anderen, bedeutungslos wie einzelne Tropfen im Regen.

Doch dann geschah das Unerwartete: In einer stürmischen Nacht erschienen zwei Gestalten an seinem Stall. Es waren Fremde, die sein stummes Leiden erkannten – sie sahen in seinen Augen die sterbende Flamme eines einst stolzen Geistes. Ohne zu zögern öffneten sie das Tor zu seiner Box. Vielleicht waren es Menschen, die selbst wussten, wie sich Gefangenschaft anfühlt, oder einfach Seelen, die das Leid eines gefangenen Wesens nicht ertragen konnten. In dieser Nacht fand der weiße Hengst seine Freiheit wieder, auch wenn der Weg dorthin mit zitternden Beinen und pochendem Herzen begann.

Die Flucht aus der Gefangenschaft hatte seine letzten Kräfte aufgezehrt. Tagelang irrte er durch unbekanntes Land, getrieben von der Angst vor Verfolgung. Erst als der Gestank der Stadt weit hinter ihm lag, wagte er es, seinen erschöpften Körper ruhen zu lassen. In einer geschützten Mulde, umgeben von hohem Gras, sank er in einen unruhigen Schlaf.

In der Morgendämmerung erwachte er und nahm sich zum ersten Mal seit seiner Flucht Zeit, seine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Die Landschaft hier war anders – flacher, weitläufiger als seine Bergwelt. Der Wind trug fremde Gerüche zu ihm, und selbst der Boden unter seinen Hufen fühlte sich fremd an.

Uralter Ruf​

Er begegnete einer Gruppe wildlebender Pferde. Ihr Leithengst, ein alter Falbe mit vernarbter Flanke, erkannte seine Erschöpfung und lud ihn mit sanftem Schnauben ein, sich der Herde anzuschließen. Dort fand er Heilung für Körper und Seele.

Die Herde war auf dem Weg nach Westen, folgte dem uralten Ruf der Wanderung. Tag für Tag legten sie weite Strecken zurück, immer der sinkenden Sonne entgegen. Der weiße Hengst lernte von ihnen, die Zeichen des Landes zu lesen – wo klares Wasser zu finden war, welche Gräser kräftigten und wie man den Weg an den Sternen ausrichtet.

Mit dem Erreichen der ersten Ausläufer der Berge wurde sein Herz unruhig. Etwas in der Luft, im Geschmack des Wassers, rief Erinnerungen wach. Der alte Falbe spürte seine wachsende Unruhe. An einem klaren Herbstmorgen berührte er sanft seine Flanke – eine stumme Erlaubnis zu gehen.

Der weiße Hengst trennte sich von der Herde, die ihm in den Wochen der Wanderschaft eine zweite Familie geworden war. Sein Weg führte ihn nun steil bergauf. Mit jedem Schritt wurde die Luft klarer, frischer, vertrauter. Als er den Grat erreichte, erkannte er in der Ferne die schneebedeckten Gipfel seiner Heimat.

Diesmal wird es anders​

Dort warteten neue goldene Zügel, sanfte Stimmen, verlockende Versprechen. Sein Herz, noch immer hungrig nach Wärme und Zugehörigkeit: „Diesmal wird es anders. Jetzt kenne ich die Zeichen, jetzt weiß ich, wie man das goldene Geschmeide trägt, ohne dass es zu Ketten wird", flüsterte er in den Wind, mehr Versprechen als Gewissheit.

Die ersten Begegnungen waren flüchtig wie Morgennebel. Sie erschien am Rand der Weide, ohne ihm nachzusehen, wenn er sich zurückzog. Anders als die anderen Menschen versuchte sie nicht, ihn mit Lockrufen oder Leckereien zu ködern. Stattdessen brachte sie eine Gitarre mit, setzte sich ins hohe Gras und spielte sanfte Klänge, als wäre seine Anwesenheit nebensächlich.

Unbewusst fühlte er sich wieder von dieser distanzierten Art angezogen, ohne zu erkennen, dass sich damit ein altes Muster wiederholte. Von sicherer Entfernung aus studierte er die fremden Klänge – ihre geschmeidigen Bewegungen, die Art, wie sie leise sang, völlig versunken in ihre eigene Welt. Sie erinnerte ihn an die Vögel im Wald, die jeden Morgen mit ihren Liedern den Tag begrüßten. Mit jedem Tag wagte er sich ein Stück näher heran, angezogen von ihrer sanften Stimme, die ihm Sicherheit versprach.

Unter ihrer sanften Oberfläche spürte er etwas Vertrautes – einen unbändigen Geist, der dem seinen ähnelte. Es zeigte sich in kleinen Momenten: Wenn sie barfuß durch das Gras lief, mit dem Wind um die Wette. Wenn sie auf Bäume kletterte, nur um den Sonnenuntergang besser sehen zu können. Sie schien die Wildheit in sich selbst zu verstehen.

An einem Herbstmorgen, als goldenes Licht durch die Nebelschwaden brach, geschah etwas Unerwartetes. Sie hatte sich wie gewöhnlich mit ihrer Gitarre niedergelassen, doch diesmal begann sie laut zu singen. Ihre Lieder handelten von Freiheit und Wildheit – Geschichten, die seine Erfahrungen widerzuspiegeln schienen. Er fand sich näher und näher herantreten, gefesselt von ihrer Stimme, ihren Worten. Sie unterbrach ihr Lied nicht, als er sich nur noch wenige Schritte von ihr entfernt niederließ. Nur ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie weiterspielte, ein Lächeln, das ihn an die warmen Sommertage seiner Jugend erinnerte.

Während er glaubte, die Kontrolle zu haben, hatte sie längst begonnen, sein wildes Herz zu zähmen. Ihre scheinbare Gleichgültigkeit war ein geschickt geworfenes Netz, der Text ihrer Lieder der Köder, mit dem sie seine Seele einfing.

Mit jeder Begegnung wob sie ihren Zauber enger um ihn. Ihre sanften Berührungen, zunächst so unschuldig wie Schmetterlingsflügel, wurden zu einem unsichtbaren Halfter. Die Wildheit in ihr, die ihn so angezogen hatte, verwandelte sich unmerklich in den Willen zu formen und zu lenken.

Sie war eine Meisterin der sanften Unterwerfung. Wo andere mit Gewalt gescheitert waren, siegte sie durch geduldiges Warten. Wo Peitschen nur Widerstand geweckt hatten, erreichte sie ihr Ziel durch verständnisvolles Lächeln. Ihre goldenen Zügel waren so leicht wie Spinnweben – und gerade deshalb so gefährlich.

In ihrer Gegenwart fühlte er sich vollkommen verstanden. Die Falle schloss sich so sanft, dass er den Moment verpasste, als sich Zuneigung in Kontrolle verwandelte.

Die Geschichte wiederholte sich, unerbittlich wie die Jahreszeiten. Im Moment der Erkenntnis, dass er wieder in die gleiche Falle getappt war, verlor der einst so stolze Hengst beinahe seinen Lebenswillen. Die Scham über seine Leichtgläubigkeit nagte an ihm gleich einem schleichenden Gift, tiefer noch als die Ketten es je vermocht hatten. Die Jahre vergingen in Trauer und einer unstillbaren Sehnsucht.

Der zweiten Herrin bedeutete sein Weggang wenig. Während er mit hängendem Kopf davonschlich, war ihr Blick bereits auf einen schwarzen Hengst gerichtet.

Die folgenden Monate verschwammen zu einem grauen Schleier. Der Hengst streifte ziellos durch unbekannte Täler und fremde Höhen, getrieben von einer Unruhe, die keine körperliche Rast zu stillen vermochte. Die Jahreszeiten wechselten, er nahm sie kaum wahr. Weder die brennende Sommersonne noch die eisigen Winterwinde konnten die Taubheit durchdringen, die sich wie eine schützende Decke um sein Herz gelegt hatte.

Er mied bewusst alle bekannten Pfade. Die vertrauten Weiden seiner Heimat, die verschneiten Gipfel seiner Jugend – sie alle bargen zu viele Erinnerungen. Stattdessen trieb es ihn immer weiter in unbekanntes Terrain, als könnte die Fremdheit der Umgebung die Fremdheit in seinem Inneren ausgleichen.

Der verlassene Berghof​

Der Herbstwind trieb welke Blätter vor sich her, als der weiße Hengst den verfallenen Berghof entdeckte. Das alte Gemäuer duckte sich zwischen die Hänge, als wolle es sich vor der Zeit verstecken. Moos bedeckte die Steinmauern, und die Fensterläden hingen schief. Aus dem ehemaligen Stall drang ein Geräusch, das ihn aufhorchen ließ – das leise Schnauben eines anderen Pferdes.

Vorsichtig näherte er sich dem halb verfallenen Gebäude. Der muffige Geruch von altem Stroh und Staub stieg ihm in die Nüstern, vermischt mit etwas Ungewöhnlichem – ein schwacher Hauch von Zuckerwatte und alter Schminke. Im dämmrigen Licht, das durch die löchrige Decke fiel, stand dort ein hochgewachsener Rappe, sein einst glänzendes schwarzes Fell von grauen Strähnen durchzogen, der Rücken leicht gebeugt von den Jahren.

"Ah, Besuch!", die Stimme des alten Pferdes klang überraschend kräftig. "Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause. Oder besser gesagt, in meiner letzten Garderobe." Ein amüsiertes Schnauben folgte. "Ich bin Maurice, ehemaliger Star der Manege, Meister der hohen Schule, Liebling des Publikums." Der alte Hengst vollführte eine angedeutete Verbeugung, die trotz seiner steifen Gelenke noch immer von vergangener Eleganz zeugte.

Der weiße Hengst beobachtete ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Skepsis. Die Art, wie der alte Rappe von seiner Vergangenheit, über seiner Zeit in der Manege sprach – voller Stolz und Sehnsucht – irritierte ihn zutiefst.

"Du scheinst verwirrt, mein junger Freund", Maurice musterte ihn mit klugen Augen. "Lass mich raten – du bist einer von denen, die die Freiheit über alles stellen? Die den Menschen nur die Peitsche zutrauen, nie den Applaus?" Er lachte leise. "Ich kenne diesen Blick. Aber weißt du, Freiheit ist wie ein Kostüm – sie sieht an jedem anders aus."

In den folgenden Tagen kehrte der weiße Hengst immer wieder zu dem ehemaligen Stall zurück. Anfangs nur aus Neugier, dann aus wachsendem Interesse an den Geschichten, die Maurice zu erzählen hatte. Der alte Zirkushengst sprach von glitzernden Lichtern und donnerndem Applaus, von der Harmonie zwischen Pferd und Reiter, wenn jede Bewegung perfekt saß, von dem Rausch der Musik und der Magie der Manege.

"Aber war das nicht auch ein Gefängnis?", fragte der weiße Hengst eines Abends. "All diese Kunststücke, diese Befehle..."

Maurice schüttelte seine lange, ergraute Mähne. "Weißt du, mein Junge, manchmal sind die Ketten, die wir uns selbst anlegen, schwerer als jedes Zaumzeug. Du fliehst vor jeder Bindung, aus Angst vor Gefangenschaft. Aber ist diese ständige Flucht nicht auch ein Gefängnis?"

Die Worte trafen den weißen Hengst tiefer, als er zugeben wollte. Er beobachtete, wie der erste Schnee die Welt in Weiß hüllte, und traf eine Entscheidung. Er würde bleiben, zumindest für den Winter. Maurice wurde schwächer, seine alten Knochen schmerzten in der Kälte. Der weiße Hengst begann, ihm Futter zu bringen – Gras, das er unter dem Schnee fand und zarte Tannenzweige.

In den langen Winternächten teilten sie mehr als nur den Schutz des alten Stalls. Maurice erzählte von den Menschen, die ihn gepflegt und geliebt hatten, von der Freude des gemeinsamen Erschaffens, von der Erfüllung, die in der freiwilligen Hingabe an eine Aufgabe liegt.

"Aber sie haben dich verlassen", warf der weiße Hengst eines Nachts ein.

"Ja", Maurice nickte langsam. "Aber das macht die schönen Jahre nicht weniger wahr. Weißt du, die Angst vor dem Verlassenwerden hat dich zu einem Gefangenen deiner eigenen Furcht gemacht. Du rennst so schnell vor der Liebe davon, dass du nie erfahren wirst, wie es ist, wirklich zu leben."

Als der Frühling kam, wurde Maurice schwächer. An einem milden Morgen fand der weiße Hengst ihn im Stroh liegend, den Blick auf die Morgensonne gerichtet, die durch die löchrige Stalldecke schien.

"Weißt du", sagte Maurice leise, "wahre Freiheit liegt nicht darin, keine Bindungen zu haben. Sie liegt in der Kraft, selbst zu wählen, welche Bindungen wir eingehen. Ich habe meine Wahl nie bereut." Seine Stimme wurde schwächer. "Versprich mir eines – lass nicht zu, dass deine Angst stärker ist als deine Fähigkeit zu lieben."

Der weiße Hengst blieb bei ihm, bis sein letzter Atemzug wie ein sanfter Windhauch durch den alten Stall wehte. Als er später, mit schwerem Herzen, über die Frühlingswiese schritt, spürte er trotz seiner Trauer eine Veränderung in sich. Maurice' Worte hatten etwas in ihm berührt, einen Knoten gelockert, den er seit langem mit sich trägt.

Vielleicht, so dachte er, während der Wind durch seine Mähne strich, lag die wahre Freiheit nicht im Davonlaufen, sondern im Mut, sich dem Leben mit all seinen Möglichkeiten zu öffnen. Diese Erkenntnis trug er wie einen kostbaren Schatz in seinem Herzen, als er seinen Weg fortsetzte – nicht mehr nur getrieben von der Angst vor Bindung, sondern geleitet von der Hoffnung auf echte Begegnung.

Mit jedem Wechsel der Jahreszeiten trieb es ihn weiter vom alten Stall fort. Er streifte durch die Wälder, deren Blätter sich langsam golden färbten, und versuchte, seinen Platz in dieser Welt neu zu finden. Die Trauer um Maurice verwandelte sich allmählich in eine sanfte Melancholie, eine Art wehmütiges Lächeln der Erinnerung, das manchmal noch Tränen in seine Augen trieb.

Zwischen den Zweigen​

Die Tage danach verschwammen in einem Nebel aus Einsamkeit und Trauer über den Verlust seines weisen Mentors und einzigartigen Freundes. An einem besonders kalten Herbstmorgen vernahm er ein leises Winseln aus einem Gebüsch. Zwischen den Zweigen entdeckte er einen kleinen weißen Hund, dessen zitternder Körper sich eng an den Boden presste. Ein schwarzer Fleck um sein rechtes Auge wirkte wie eine Maske der Angst. In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, erkannte der Hengst in den Augen des Hundes dieselbe Verletzlichkeit, die auch seine Seele zeichnete.

Der kleine Hund machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu, zuckte dann wieder zurück, gleich einem, der einen Schlag oder ein hartes Wort erwartete. Etwas in dieser scheuen Bewegung berührte den Hengst tief in seinem Inneren.

Er senkte seinen Kopf, um auf Augenhöhe mit dem kleinen Hund zu sein, und wartete geduldig. Jeden Tag wagte der kleine Hund sich näher, jeden Tag ein wenig mehr Vertrauen, angezogen von der ruhigen Gegenwart des großen Pferdes. Der Hengst schätzte die kleinen Zeichen der Annäherung sehr: das vorsichtige Wedeln der Schwanzspitze, das hoffnungsvolle Aufleuchten in den Augen des Hundes, wenn er ihn erblickte. Von diesem Tag an wichen sie nicht mehr voneinander, und der Hengst spürte zum ersten Mal seit langem etwas anderes neben seiner eigenen Verzweiflung – den Wunsch, diesem verängstigten Wesen die Sicherheit zu geben, die er selbst so schmerzlich vermisste.

In den folgenden Wochen wurde ihre Bindung enger, und der kleine weiße Hund mit dem schwarzen Fleck ums Auge blühte in der Gesellschaft des Hengstes auf. Seine verspielte Natur kam immer öfter zum Vorschein, und manchmal vergaß er sogar seine Unsicherheit ganz. Dennoch gab es Momente, in denen eine schwer fassbare Verletzlichkeit durchschimmerte – nicht offensichtlich, aber spürbar wie ein feiner Riss in einem kostbaren Gefäß. Der Hengst gab sein Bestes, war ein treuer Beschützer und geduldiger Freund, jedoch spürte er, dass trotz all seiner Bemühungen etwas fehlte. Es war, wie wenn er seinem Gefährten nicht ganz die letzte Sicherheit geben könnte, die dieser brauchte, um vollständig zu heilen.

Die Jahre vergingen. Mit jedem neuen Tag und jedem freien Galopp gewann er seine Kraft und seinen Stolz zurück. Die Wunden der Vergangenheit heilten, auch wenn ihre Spuren blieben.

Seine Rückkehr in die Wildnis war keine Rückkehr zur alten Unschuld. Seine zweite Freiheit war anders – geprägt von der Weisheit der Narben und der Stärke der Überwindung, seine weiße Mähne trug nun den Silberglanz der Erfahrung. Und an seiner Seite, treu wie ein Schatten und hell wie ein Lichtstrahl, der kleine weiße Hund – zwei treue Gefährten, die das Schicksal zusammengeführt hatte.

Unerschütterliche Ruhe​

An einem nebligen Herbstmorgen begegneten sie ihm – dem irischen Wolfshund. Er stand auf einer kleinen Anhöhe, seine imposante Gestalt hob sich majestätisch gegen den Himmel ab. Trotz seiner Jugend lag in seiner Haltung eine natürliche Würde, eine Gelassenheit, die den Hengst sofort an die weisen, alten Wölfe in den Geschichten seiner Kindheit erinnerte. Der kleine weiße Hund, sonst eher vorsichtig bei neuen Begegnungen, lief ohne zu zögern auf den Wolfshund zu, als spürte er instinktiv die besondere Ausstrahlung dieses Wesens.

Erstaunlich war die Entwicklung ihrer Dynamik. Die ruhige Präsenz des Wolfshunds wirkte wie ein unsichtbarer Schutzmantel. Wo der Hengst trotz all seiner Bemühungen nicht helfen konnte, geschah nun etwas Besonderes: Der kleine weiße Hund fand in der Gegenwart des Wolfshunds jene letzte Sicherheit, die ihm noch gefehlt hatte. Es lag nicht an Worten oder Taten – vielmehr war es die Art, wie der Wolfshund einfach da war, seine natürliche, unerschütterliche Ruhe, die sich gleich einer sanften Welle über sie alle legte.

Dreieck​

Aus ihrer zufälligen Begegnung entwickelte sich eine tiefe Verbundenheit. Der Wolfshund brachte eine Qualität in ihre kleine Gruppe, die sie vorher nicht gekannt hatten – eine Art zeitlose Weisheit, die sich nicht in Jahren maß, sondern in der Tiefe des Verstehens. Unter seinem stillen Einfluss veränderte sich besonders der kleine weiße Hund. Die neu gewonnene Sicherheit verwandelte sich in eine übermütige Lebensfreude. Er, der einst Schutz suchte, wurde zum selbsternannten Anführer ihrer kleinen Gruppe, tollte zwischen den langen Beinen des Wolfshunds hindurch und neckte den Hengst mit spielerischen Verfolgungsjagden.

Der Hengst beobachtete diese Verwandlung mit einer Mischung aus Glück und Dankbarkeit. Wo er allein nicht hatte helfen können, hatte die ruhige Kraft des Wolfshunds das letzte Puzzleteil eingefügt.

Gemeinsam bildeten sie ein perfektes Dreieck der Geborgenheit – der Hengst mit seiner beschützenden Stärke, der Wolfshund mit seiner heilenden Ruhe und der kleine weiße Hund, der sie mit seiner neu gefundenen Lebensfreude beide zum Lächeln brachte.

Der kleine weiße Hund, nun voller Selbstvertrauen, wurde zu ihrer treibenden Kraft. Mit seiner verspielten Art brachte er den Hengst dazu, seine eigenen Ängste zu vergessen, und selbst der gelassene Wolfshund ließ sich von seinem übermütigen Herumtollen anstecken. In solchen Momenten schien es, als wäre er schon immer der Chef ihrer ungewöhnlichen Familie gewesen, und niemand hätte in dem selbstsicheren kleinen Hund das einst verunsicherte Wesen wiedererkannt.

Ruf der Wildnis​

Die Jahre in Freiheit waren erfüllt von gemeinsamen Abenteuern mit seinen Begleitern. Eines Tages jedoch, während der Herbstwind die ersten bunten Blätter vor sich hertrieb, spürte der Wolfshund, gezeichnet von den Jahren aber noch immer von zeitloser Würde, den Ruf eines anderen Weges – jenen letzten Ruf, dem auch Maurice gefolgt war. Seine alten Augen hatten eine Weisheit erlangt, die über ihre gemeinsame Geschichte hinausreichte. In einer mondhellen Nacht verabschiedete er sich von seinen Gefährten mit einem langen, verstehenden Blick. Seine würdevolle Gestalt verschmolz mit den Schatten des Waldes. Der Hengst und der kleine weiße Hund blieben zurück, ihre Herzen schwer von Trauer, aber auch voller Verständnis für die Wege des Schicksals.

Die Verbindung zwischen dem Hengst und dem kleinen weißen Hund wurde noch enger, als wollten sie die entstandene Lücke mit noch mehr Zuneigung füllen. Ihre Tage waren erfüllt von gemeinsamen Streifzügen durch die Wildnis, von geteilter Freude und geteiltem Leid. Der kleine Hund, nun mit den ersten weißen Strähnen der Jahre im Gesicht gezeichnet, blieb der treue Begleiter durch alle Höhen und Tiefen.

Doch auch für ihn kam der Tag des Abschieds. Er musste den Spuren des Wolfshunds folgen.

Nordstern​

Der Verlust seiner beiden Gefährten hinterließ eine Leere in der Seele des Hengstes – er konnte ihnen nicht folgen, seine Zeit war noch nicht gekommen. Jedoch spürte er in stillen Momenten ihre Präsenz noch immer – das weise Lächeln des Wolfshundes im Mondlicht und das verspielte Bellen des kleinen weißen Hundes im Morgenwind. Diese bedingungslose Liebe, die seine beiden Freunde ihm geschenkt hatten, weckte eine fast vergessene Erinnerung: die einer anderen reinen Zuneigung aus längst vergangenen Tagen. In den stillen Momenten der Dämmerung wanderten seine Gedanken immer wieder zurück zu einem Kind aus der Zeit vor seiner ersten Flucht, dessen Lachen so rein war wie Morgentau, dessen Berührungen nie nach Kontrolle schmeckten. Damals, während er selbst noch jung war, hatte er erfahren, wie sich Liebe ohne Fesseln anfühlt. Diese Erinnerung wurde zu seinem Nordstern – irgendwo musste diese Beziehung noch existieren, diese bedingungslose Zuneigung, die nicht in goldene Ketten endet.

Die Sehnsucht nach dieser reinen Verbindung trieb ihn an, unermüdlich zu suchen. Über Täler und Hügel, durch Dörfer und Städte folgte er jeder noch so kleinen Spur. Von Weide zu Weide trug er seine Hoffnung, und wann immer er jemanden traf, der sie von früher kannte, schlug sein Herz schneller. Bis eines Tages, durch die verschlungenen Pfade des Schicksals, ein Freund eines Freundes ihn zu ihrem Bruder führte.

Offenes Tor​

Der Bruder wurde zur Brücke in seine Vergangenheit, zum Wegweiser in seine Zukunft. Und dann, nach all den Jahren des Suchens, stand sie vor ihm. Die Zeit hatte aus dem Kind eine Frau gemacht, und als sich ihre Blicke trafen, erkannte er sofort das reine Licht in ihren Augen – jenes Licht, das er nie vergessen hatte.

Das erste Jahr ihrer Wiedervereinigung war wie ein Traum. Ihre gemeinsamen Tage waren erfüllt von einer Leichtigkeit, die der Hengst längst verloren geglaubt hatte. Sie zwang ihm keine Zügel auf, verlangte keine Unterwerfung. Stattdessen entwickelte sich ein Tanz aus Nähe und Distanz, fließend wie die Wellen des Meeres. In ihrer Gegenwart konnte er gleichzeitig frei und geborgen sein.

Während sie zusammen waren, schien die Zeit stillzustehen. Sie verstand seine stumme Sprache, las in seinen Bewegungen wie in einem offenen Buch. Ihre Berührungen waren sanft gleich Frühlingsregen, ihre Stimme ein Echo seiner eigenen Sehnsucht nach Verbindung. Dennoch spürte er selbst in diesen vollkommenen Momenten manchmal eine leise Unruhe in seinem Herzen, ein Flüstern der Wildnis, das er nicht zum Schweigen bringen konnte.

Mit jedem Tag ihrer gemeinsamen Zeit wuchs nicht nur ihre Verbindung, sondern auch der Zwiespalt zwischen Freiheit und Nähe in ihm. Ihre bedingungslose Liebe war wie ein offenes Tor, und gerade diese grenzenlose Freiheit zu gehen ließ ihn erkennen, dass sein Wesen selbst der Wind war, nie bestimmt, hinter einem Tor zu verweilen.

Echo​

Wie ein Echo aus der Vergangenheit wiederholte sich die Geschichte. Vielleicht lag es am Hengst selbst, der sein Wesen, Freiheit und Nähe nicht zu vereinen wusste. Die Trauer, die ihn erfasste, war tiefer als je zuvor, denn er hatte nicht nur eine Bindung verloren, sondern auch seinen letzten Traum..

In ihrer letzten Begegnung lag ein stilles Verstehen – sie hatte sein wahres Wesen längst erkannt. Sie verstand, dass wahre Liebe auch bedeutet, loszulassen.

Die Trauer lag wie Schnee auf seiner Seele – erst leicht wie die ersten Flocken, dann tief wie eine Schneewehe, die alles unter sich begrubt. Doch selbst im tiefsten Winter träumte sein Herz noch von der Wärme der Freiheit. Tage wurden zu Monaten, Monate zu Jahren, während er in dieser Dunkelheit wanderte, suchend nach einem Ausweg aus seinem inneren Labyrinth. Bis er schließlich eine Wahrheit erkannte, die so klar wie schmerzhaft war: Die Freiheit war nicht nur ein Zustand, sondern sein wahres Wesen, sein Lebensatem, sein unverhandelbares Selbst – und die Einsamkeit ist der Preis dafür.

Nun streift er durch die Weiten. Die Erinnerung an seine treuen Gefährten begleitet ihn wie ein kostbarer Schatz – das verspielte Bellen des kleinen weißen Hundes und die Würde des Wolfshundes lebt in seinem Herzen weiter. In manchen Nächten, wenn der Mond besonders hell scheint, meint er ihre Schatten neben sich zu sehen, so lebendig, als wären sie nie gegangen. In stillen Momenten wandern seine Gedanken auch zu ihr, deren Liebe ihm zeigte, dass Verstehen keine Fesseln braucht.

Manchmal, in der Dämmerung, kehrt er zu jener Anhöhe zurück, wo er einst dem irischen Wolfshund begegnete, und steht dort, den Kopf stolz erhoben. In seinen Augen liegt nicht mehr die Trauer von einst, sondern die ruhige Gewissheit eines Wesens, das endlich seinen wahren Weg gefunden hat.

Jetzt​

○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●

Als wolle das Schicksal ihn prüfen, geschieht es genau in einem Augenblick der Klarheit: Hier und jetzt durchbricht eine unerwartete Begegnung seine Gewissheit. Als er eine Lichtung überquert, steht plötzlich eine junge Frau vor ihm. Sein Herz hämmert wild in seiner Brust. Die Welt verschwimmt zu einem unscharfen Schleier – nur sie steht in vollkommener Klarheit vor ihm.

Ein Zittern läuft durch seinen Körper, gefangen zwischen Fluchtinstinkt und einer überwältigenden Sehnsucht nach Nähe.

Der warme Sommerwind trägt ihren Duft zu ihm – eine zarte Mischung aus Wildblumen und Sonnenlicht. Der Boden scheint ihn zu verankern, während sein Instinkt zur Flucht drängt. Ihre Augen, die ihn unverwandt ansehen, spiegeln eine Tiefe wider, die ihn gleichzeitig anzieht und erschreckt.

Sie bewegen sich wie in einem zeitlosen Tanz. Seine Hufe finden von selbst den Rhythmus im hohen Gras, während sie sich ihm langsam nähert. Sein Atem geht flach und schnell. Das goldene Licht der untergehenden Sonne hüllt die Wiese in warme Farben, lässt sein silberdurchzogenes Fell schimmern. In ihrem Lachen liegt eine Leichtigkeit, die sein Herz berührt, ohne es zu bedrängen.

Dann geschieht es, dass seine sorgsam errichteten Mauern erschüttert werden. Sanft, fast schwebend, lehnt sie ihren Kopf gegen seine Schulter. Ihr warmer Atem streift seinen Hals, und für einen Moment wird die Welt um sie herum still. Eine Geste von solch unschuldiger Intimität, wie er sie seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Als sie den Kopf hebt und ihm direkt in die Augen sieht, liegt darin ein Vertrauen, das ihn bis ins Mark erschüttert.

In dieser einen Sekunde fallen all die Barrieren, die er über Jahre aufgebaut hat, wie Kartenhäuser im Sturm. Die plötzliche Verwundbarkeit trifft ihn mit der Wucht eines Blitzschlags. Seine jahrelang kultivierte Distanz, seine sorgfältig gepflegte Einsamkeit – alles wird von dieser einen, simplen Geste in Frage gestellt.

Die Panik bricht über ihn herein wie eine dunkle Welle. Mit einem Mal wendet er sich ab, seine Hufe trommeln einen wilden Rhythmus auf den Boden, als er über die Wiese galoppiert.

Am Waldrand hält er inne, sein Atem geht schwer. Noch einmal dreht er sich um, sucht ihren Blick über die Distanz hinweg. Sie steht noch immer dort, ihre anmutige Erscheinung im goldenen Abendlicht, und etwas in ihrer Haltung lässt sein Herz schmerzhaft zusammenziehen.

Erst im Schutz des Waldes, zwischen den Schatten der Bäume, tadelt er sich für seine Schwäche, dafür dass er sich überhaupt auf diesen Moment eingelassen hat. Die Stelle an seiner Schulter, wo ihr Kopf geruht hat, scheint noch immer warm zu sein – eine stumme Erinnerung an eine Nähe, die er sich so lange verwehrt hatte.

In den Tagen nach der unerwarteten Begegnung kreisen seine Gedanken immer wieder um diesen einen Moment. Der weiße Hengst ertappt sich dabei, wie er den Kopf wendet, wann immer der Wind einen Hauch von Wildblumenduft zu ihm trägt. Die Erinnerung an ihre Berührung ist wie ein Riss in der Rüstung, die er sich so sorgsam geschmiedet hat.

Der Wunsch, zurückzukehren, entspringt nicht nur der Sehnsucht nach einer weiteren Begegnung, sondern auch dem Bedürfnis, ihr zu zeigen, dass sie keine Hoffnung in ihn setzen sollte. Er will ihr ersparen, auf jemanden zu warten, der zur Nähe nicht mehr fähig ist, der es vielleicht nie wieder sein wird. In der Stille dieser Gedanken erkennt er plötzlich die Ironie seiner Sorge, und ein leises Schmunzeln stiehlt sich auf seine Züge. War es nicht eine seltsame Form von Hochmut zu glauben, diese kurze Begegnung hätte sie ähnlich berührt wie ihn? Wahrscheinlich war es für sie nicht mehr als ein schöner Moment gewesen – einer von vielen, die das Leben schenkt und wieder fortnimmt wie der Wind die Blätter im Herbst.

Hochmut​

Er erkennt, wie er in seinem Wunsch, verantwortungsvoll zu handeln, schon wieder dabei ist, sich selbst zu verpflichten – diesmal aus seinen eigenen Gedanken heraus gewoben. Gehören diese selbst auferlegten Pflichten nicht auch zu den unsichtbaren Verpflichtungen, die dem Grundsatz der Freiheit widersprechen?

Da wird ihm klar, dass er aufhören muss, sich um das Morgen zu sorgen. Die Stelle an seiner Schulter hat längst ihre physische Wärme verloren, allerdings wird er die Erinnerung daran – diesen einen kostbaren Augenblick völligen Vertrauens – für immer in seinem Herzen bewahren. Vergleichbar einem seltenen Edelstein leuchtet dieser Augenblick in seinem Gedächtnis, ein Geschenk des Schicksals, das ihm gezeigt hat, dass sein Herz noch immer fähig ist zu fühlen. Er ist dankbar dafür, nach all den Jahren der Einsamkeit noch einmal solche Nähe gespürt zu haben, wenngleich es nur für einen flüchtigen Moment war.

Ein paar Tage sind vergangen. Die erste Prüfung hat er in ruhiger Gewissheit überstanden. Die Erinnerung an die Begegnung auf der Wiese leuchtet in seinem Herzen wie ein Edelstein.

Frieden mit dem Wind​

Seine Hufe trugen ihn zu neuen Horizonten, während die aufgehende Sonne den Tau auf den Gräsern zum Glitzern brachte. Die Morgenluft war erfüllt vom Gesang der Vögel, und zum ersten Mal seit langem fühlte er eine tiefe Heiterkeit in sich. Es war nicht die überschwängliche Freude seiner Jugend, sondern etwas Reiferes – die stille Zufriedenheit eines Wesens, das sich selbst treu geblieben war.

Die Versuchung der Nähe, die Sehnsucht nach Verbindung – sie waren nicht verschwunden. Aber sie waren nun wie ferne Sterne am Nachthimmel: Sie leuchteten noch immer, doch ihr Licht führte ihn nicht mehr in die Irre.

So hätte der stolze weiße Hengst seine Geschichte gerne enden lassen. Eine Geschichte von Weisheit und Überwindung, von philosophischer Größe und der Fähigkeit, jeden Moment als kostbares Geschenk anzunehmen. Von einem Wesen, das über den Dingen steht, erhaben über die Versuchungen der Nähe.

Doch die Wahrheit war eine andere.

Die Wahrheit war die Erkenntnis, dass keine Weisheit der Welt stark genug war, den Wunsch nach Zugehörigkeit zu überwinden. Sie lag in der stillen Angst, der Versuchung einer neuen Begegnung nicht widerstehen zu können. In dem Wissen, dass das Herz manchmal seine eigenen Wege geht, ungeachtet aller Vernunft und Erfahrung.

Der weiße Hengst hatte zu oft die eisige Kälte der Enttäuschung gespürt. Er wollte nie wieder einen Winter dieser Art erleben, nie wieder zusehen müssen, wie die Wärme der Hoffnung zu Eiskristallen gefror. Und so mied er die Wiese, nicht aus überlegener Weisheit, sondern aus der demütigen Einsicht in die eigene Verletzlichkeit.

In den stillen Stunden der Dämmerung, wenn die Schatten länger wurden und die Welt zwischen Tag und Nacht zu schweben schien, fand der weiße Hengst sich oft auf der Anhöhe wieder. Die Jahre hatten Spuren in seinem Antlitz hinterlassen, jede Narbe eine Geschichte, jeder graue Schimmer seines Fells ein Zeugnis gelebten Lebens.

Doch während er dort stand, das letzte Sonnenlicht auf seinem Fell, erkannte er eine tiefere Wahrheit: Diese erste Freiheit war kein Fluch gewesen, der ihn zu ewiger Ruhelosigkeit verdammt hatte. Sie hatte seinen Geist geformt wie das Wasser die Steine des Flussbetts, hatte ihm die Gabe geschenkt, die Welt mit eigenen Augen zu sehen. Sein Geist hatte gelernt, wie der Wind zu denken und mit den Sternen zu träumen. Diese Weite hatte einen unstillbaren Hunger in ihm eingepflanzt, den keine noch so warme Umarmung je hatte stillen können. Sie hatte ihn Bindungen zerreißen lassen, die anderen Halt und Heimat bedeutet hätten.

Ja, er trug noch immer die Narben der Versuche, dieser Selbstbestimmung zu entkommen. Sein Herz kannte die Kälte der Winternächte und die Einsamkeit der endlosen Wanderschaft. Doch er war sich sicher, keinen dieser Schritte zurücknehmen zu wollen, denn jeder Versuch, jede Bindung und jeder Abschied hatte ihn gelehrt, wer er wirklich war.

Langsam wandte er sich ab von der untergehenden Sonne. Seine Hufe fanden von selbst den Weg durch die beginnende Nacht. Er war noch immer der weiße Hengst, gezeichnet vom Leben, aber nicht gebrochen. Diese Ungezwungenheit hatte ihn zu dem gemacht, der er war – und er hatte Frieden damit geschlossen. In der Stille wurde ihm bewusst, dass seine Narben nicht nur von Schmerz erzählten, sondern auch von der Kraft, die er gefunden hatte.

Die Nacht breitete ihre Schwingen über das Land, und irgendwo in der Ferne rief ein einsamer Wolf. Ein Lächeln voller süßer Melancholie zeichnete sich in den Zügen des weißen Hengstes ab – seine Freiheit hatte ihren Preis gefordert, doch er trug ihn mit Würde.

○●○●○●○●○●○●○

~ Charly ~

Die nächsten Seiten warten noch darauf, vom Wind der Zeit beschrieben zu werden...

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom