- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Nanyte: Die Kleinen
Jackson starrte aus dem Fenster. Nichts als Glas, Stahl und Beton. Nicht einmal der Himmel wollte sich ihm zeigen.
Er seufzte. Unruhig trommelten die Finger seiner linken Hand auf der Matratze herum. Die Schwester, die jüngere mit dem lieben Lächeln, hatte ihm ein paar Comichefte besorgt, aber die waren schon alle durchgelesen. Ihm war todlangweilig, so ganz allein. Niemand zum Unterhalten oder Spielen. Jackson lag jetzt schon eine Woche im Krankenhaus, seit er auf dem Schulweg von einem Auto angefahren worden war. Sein rechter Arm war gebrochen und ihm wurde immer furchtbar übel, wenn er sich aufsetzte. Doktor Mangold hatte gesagt, das komme davon, dass sein Gehirn ordentlich durchgeschüttelt worden sei. Jackson musste sich dann immer einen Barkeeper mit diesen glänzenden Metallbechern vorstellen und lachen. Aber davon bekam er Kopfschmerzen und hörte ganz schnell wieder auf.
In den Hochhäusern flammten gerade die Lichter auf, als der Radau auf dem Flur losging. Ein Quäken und Schnattern, das nur von einer Entenfamilie kommen konnte. Jackson wandte seinen Blick vom Fenster und stellte sich vor, wie die Tiere lautstark über den Stationsflur watschelten. Kaum hatte er das getan, wurde die Zimmertür geöffnet und der Lärm war plötzlich überall. Doktor Mangold kam herein, sein Gesicht ein Ausdruck schierer Verzweiflung. Er schaute kurz zu Jackson herüber und zwang sich zu einem wenig überzeugenden Lächeln. Eine Frau folgte dem Arzt. Zumindest vermutete Jackson, dass es sich dabei um eine Frau handelte. Ihr Gesicht sah wie aufgeklebt aus. Eine dünne Nase stach daraus hervor, unterstrichen von unnatürlich prallen Lippen und eingekeilt zwischen kalten Augen. Die Frau redete und redete, verstummte jedoch schlagartig, als sie Jackson bemerkte. Sie lupfte eine ihrer aufgemalten Brauen. “Was hat das zu bedeuten, Doktor Mangold? Ich hatte ausdrücklich ein Einzelzimmer verlangt. Das ist nicht akzeptabel.”
Der Arzt hob abwehrend die Hände. “Es tut mir leid, Mrs. Vanderbeak, aber das hier ist das einzige noch freie Bett.”
“Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen”, sagte die Frau kühl. Doktor Mangold seufzte. “Der wird Ihnen das Gleiche sagen. Wir sind momentan hoffnungslos überlastet. Sie können von Glück reden, dass wir überhaupt noch ein Bett gefunden haben. Wenn Sie es nicht wollen, müssen Sie in ein anderes Krankenhaus gehen.” Die Frau schnaubte wütend, schien aber keine Einwände mehr zu haben. Sie richtete einen knallroten Fingernagel auf Jackson. “Ich möchte nicht, dass mein Sohn Kontakt mit diesem Kind hat. Wer weiß, ob es nicht die Läuse oder so hat.” Dann holte sie ein Handy aus ihrer Tasche, begann zu telefonieren und stöckelte hinaus. Doktor Mangold schüttelte den Kopf. “Keine Sorge, Jackson. Dein neuer Zimmergenosse ist wesentlich weniger anstrengend.” Mit einem Zwinkern verabschiedete er sich.
“Ich heiße William Vanderbeak, freut mich sehr. Die meisten Leute nennen mich Billy”, stellte sich der Junge vor, der nun das Bett neben Jackson bewohnte. Soweit er es schätzen konnte, waren sie etwa im gleichen Alter, aber Billy war schmächtiger und sah allgemein kränklich aus. Außerdem sprach er fast wie ein Erwachsener.
“Ich bin Jackson und...” Ein Hustenanfall Billys unterbrach ihn. Der gesamte Körper des Jungen bebte, während er die Hand vor den Mund schob. Mit tränenden Augen kam er wieder zur Ruhe.
“Hast du Anthrax?”, fragte Jackson besorgt, “Meine Mommy hat erzählt, dass böse Leute Anthrax in Briefumschläge tun und verschicken, damit man ganz furchtbar krank wird.”
Billy schaute ihn an. “Das habe ich auch gehört.” Dann schüttelte er den Kopf, was einen kleinen Nachhuster auslöste. “Ich habe etwas Giftiges eingeatmet. Jetzt habe ich starken Husten und Schmerzen in der Brust. Aber Doktor Mangold ist der Meinung, dass das schnell auskuriert ist. Meine Mutter neigt zur Übertreibung.” Er deutete auf Jacksons eingegipsten Arm und die verschorften Gesichtsverletzungen. “Und was ist dir passiert?”
“Ein Auto hat mich angefahren. Tut immer noch etwas weh, aber mir geht's schon wieder viel besser. Hey, hast du vielleicht ein paar Comics dabei?”
“Nein, ich darf so etwas nicht lesen. Comicbücher sind schädlich für die Intelligenz.”
Das kam Jackson wie die größte Lüge vor, die er mit seinen elf Jahren je gehört hatte. Er sah sich verpflichtet, sie zu widerlegen. Mit seinem gesunden Arm griff er nach dem Stapel auf seinem Nachtschrank, zog ein Heft heraus. “Möchtest du vielleicht in eines von meinen schauen?” Billy saß schneller neben ihm, als er gucken konnte. Gemeinsam blätterten sie sich durch die bunten Bildchen. Jackson erklärte stolz, wie welche Figur hieß und ob sie zu den Guten oder den Bösen gehörte. Billy war nicht mehr von den Heften loszueisen. Als die Schwester, die strenge mit der dicken Brille, hereinkam und sie zum Schlafen aufforderte, schenkte Jackson ihm eines davon. Überglücklich über seinen Schatz legte Billy sich in sein Bett, verstaute ihn unter dem Kopfkissen.
Die Schwester kehrte noch einmal zurück und stöpselte eine Plastikflasche an eine Buchse neben Billys Bett. Eine Kunststoffmaske wurde durch einen Schlauch damit verbunden. Die Schwester erklärte dem Jungen, dass er sie aufsetzen und an dem Rädchen drehen solle, wenn er Schwierigkeiten beim Atmen hätte. Sie führte es kurz vor. Die Flüssigkeit in der Flasche brodelte. Dann waren die Jungen allein im Dunkeln. Es dauerte nicht lange, bis Jackson ins Reich der Träume hinüberglitt.
Er war gerade dabei, einem finsteren Schurken die Abreibung seines Lebens zu verpassen, als Jackson in das halbdunkle Krankenzimmer zurückgezogen wurde. Verschlafen schaute er sich um. Gedämpftes, grünes Licht warf unheimliche Schatten an die Wände. Zuerst vermutete Jackson, dass er noch immer träumte. Ein Blick zu Billy belehrte ihn eines Besseren. Das grüne Glühen strömte unter Billys Bettdecke hervor, zusammen mit einem schleimig klingenden Röcheln. Der Schlauch der Atemmaske verschwand darunter, die Flasche arbeitete auf Hochtouren.
“Hey, liest du immer noch”, fragte Jackson müde, “Lass das lieber bleiben, sonst bekommst du Ärger mit der Schwester.” Billy antwortete nicht, bewegte sich aber unter der Decke, schien zu zittern. “Billy? Geht es dir gut? Soll ich die Schwester rufen?” Noch immer keine Reaktion. Jackson tastete nach dem Rufknopf, doch ein anderes Geräusch ließ ihn innehalten. Irgendetwas tropfte auf den Boden. Hatte Billy vielleicht ins Bett gemacht und schämte sich einfach zu sehr, um etwas zu sagen? Jackson war das schon lange nicht mehr passiert, aber er kannte das peinliche Gefühl sehr gut. Wenn er jetzt jemanden holte, würde alles nur noch schlimmer für seinen Zimmergenossen werden. Vielleicht ging es ihm aber auch wirklich schlecht? Was, wenn er keine Luft bekam? Wenn er keinen Atem hatte, nach Hilfe zu rufen? Jackson wollte ihm helfen.
Das Aufsetzen war nicht einfach, die ihn überkommende Übelkeit niederzukämpfen ebensowenig. Mit Mühe schlug er seine Decke zurück, schwang die Beine über den Bettrand.
Leise setzten Jacksons nackte Füße auf dem Boden auf. Um ein Haar wäre er zur Seite weggerutscht, hätte er sich nicht mit der freien Hand am Bettgestell festgeklammert. Ihm wurde schwindelig. Der Boden war feucht und glitschig. Eine Lache dunkler Flüssigkeit erstreckte sich schimmernd zwischen den beiden Betten. Jackson bückte sich, tauchte einen Finger in die Pfütze und hob ihn zur Nase. Das Zeug stank nach Metall, altem Fleisch und verbranntem Gummi. Ekel trat auf Jacksons Gesicht. Das konnte unmöglich von Billy sein. “Billy? Hast du das Zeug hier schon gesehen? Weißt du, was das ist?”
Gurgelndes Rülpsen antwortete ihm. Das grüne Licht schien an Intensität zu gewinnen.
“Billy?”
Ein Würgelaut. Der Schlauch der Atemmaske wurde plötzlich dunkel, im Fläschchen kochte schwarze Brühe. Schlagartig wurde Jackson bewusst, dass hier etwas ganz und gar nicht richtig war. Er drehte sich um, suchte den Rufknopf für die Schwester. Seine Füße glitten aus, er klatschte der Länge nach in die Lache. Brennend heißer Schmerz durchfuhr ihn, Tränen schossen in seine Augen. Ein gequälter Schrei entsprang seiner kleinen Kehle. Eine Weile blieb er liegen, weinte. Stiche pulsierten im gebrochenen Arm.
Etwas am Rande seines Sichtfeldes erregte seine Aufmerksamkeit. Bleiche Haut. Grüne, pupillenlose Augen. Rote, verschmierte Lippen. Durch den pochenden Schmerz hindurch wurde Jackson bewusst, dass er in Billys Gesicht blickte.
Billys Gesicht, unter der Decke hervorgeschoben. Geistlos starrend. Dahinter war Bewegung, ein scheinbar unkontrolliertes Zappeln von Dingen, die Jackson nicht zuordnen konnte. Er wusste nicht, was er sah, aber es war nicht normal und machte ihm Angst. In seiner Hose wurde es warm.
“Das ist nicht lustig, Billy”, schluchzte er, “Hör auf.”
Billy würgte zähen Schleim heraus, während er sich voranbewegte. Anfangs nur der kleine Kopf, dann folgte der restliche Körper mit leichter Verzögerung. Schwerfällig, ungelenk hievte sich das Etwas aus dem Bett, klatschte auf den nassen Boden. Die übelriechende Flüssigkeit spritzte in alle Richtungen. Billy sah aus wie eine monströse Schildkröte. Nur der groteske Kopf und knochige Auswüchse lugten hervor, der Rest blieb unter der Decke verborgen. Langsam stolperte das Billy-Monster auf seine Beute zu.
“Hör auf.” Jacksons tränenerstickte Stimme war kaum hörbar. Er lag noch immer in der Pfütze, gelähmt vor Angst. Das Ding war jetzt direkt neben ihm. Es stank. Jacksons kleines Herz klopfte so stark, dass er glaubte, es von der anderen Seite des Zimmers zu hören.
Die Tür wurde geöffnet. Licht flutete in den Raum, verscheuchte das grüne Leuchten. Billy riss den Kopf herum. Er bewegte sich unerwartet schnell und huschte unter das Bett, in den Schatten. Die Lampen im Zimmer gingen an. Schritte.
“Jesus!”
Doktor Mangold schaute fassungslos auf Jackson hinab. “Was ist hier passiert?”
Aus dem Augenwinkel sah Jackson einen schmutzigen Stoffberg in den Flur schnellen. Er wollte schreien, Mangold warnen, aber seine Stimme versagte ihm den Dienst. Der Arzt kniete vor ihm nieder. “Bist du in Ordnung? Ich habe Schreie gehört.” Mangold untersuchte die Pfütze, dann Jackson. “Woher kommt das, mein Junge?” Jackson richtete einen zitternden Finger auf Billys verwaistes Bett. Laken und Matratze trieften regelrecht. Beunruhigt richtete Mangold sich auf. “Wo ist er? Billy? Billy!” Bevor Jackson etwas sagen konnte, brach draußen die Hölle los: Türen knallten, Kinder kreischten, Schwester und Pfleger riefen nach Hilfe.
Mangold legte Jackson ins Bett zurück. “Warte hier. Ich schaue kurz nach, was da los ist.” Die Lampen explodierten knallend. Heiße Scherben und Funken regneten herab. Auch im Flur war es dunkel geworden. Mit dem Licht schien der Radau gleichzeitig erstorben zu sein.
“Doktor Mangold?”, flüsterte Jackson in die Stille hinein. Keine Antwort. Ängstlich tastete er in der Dunkelheit herum, bekam eine Hand zu fassen. Nass. Regungslos. “Herr Doktor?”
Zwei grüne Kugeln flammten in der Schwärze auf, von seltsamen Mustern umgeben. Etwas Schweres legte sich auf Jackson, presste ihn nach unten. Die Kugeln näherten sich. Er spürte etwas Klebriges auf seine Haut tropfen. Röchelnde Atemzüge. Im Dunkeln formten Jacksons Lippen lautlos ein Wort: Billy
Agent Drakes musterte den kleinen Jungen, der völlig apathisch auf dem Flur saß.
“Er steht noch immer unter Schock.”
Drakes wandte sich vom Bürofenster ab. Die Frau hatte die Beine übereinandergeschlagen und nippte an einem Glas Wasser.
“Werden wir irgendwelche Hinweise von ihm erhalten?”, fragte Drakes.
Die Frau stellte das Glas ab. “Nicht in naher Zukunft. Er hat sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Ohne eine langfristige Therapie wird er sich nicht in absehbarer Zeit erholen.”
“Gibt es keinen Weg, das zu beschleunigen?”
Die Frau bedachte ihn mit einem strafenden Blick. “Die menschliche Psyche ist keine Maschine, Agent. Ich kann keinen Schalter umlegen, der ihn genesen lässt. Ich habe natürlich Verständnis für Ihre Lage, aber das wird einige Zeit in Anspruch nehmen.”
Drakes sank in seinen Sessel. In den Schläfen spürte er die ersten Zeichen einer sich anbahnenden Migräne. “Der Junge muss die Hölle gesehen haben und ich stehe vor einem verdammten Rätsel. Innerhalb einer einzigen Nacht verschwinden sämtliche Patienten einer Kinderstation ohne jede Spur. Zurück bleiben nur die bestialisch abgeschlachteten Leichen des Personals und ein traumatisierter Elfjähriger, der eine abgetrennte Hand umklammert.”
“Ein ziemlich harter Fall.”
Drakes massierte seine Nasenwurzel. “Manchmal hätte ich lieber weniger zu tun.” Er warf noch einmal einen Blick auf Jackson Bowles, seinen einzigen Zeugen. Der Junge hob gerade die Hand vor den Mund und hustete.
Überall klackten spinnenartige Beine über das Linoleum. In Cyphrims Ohren klang der Marsch der Kleinen wie eine schauerliche Melodie. Verzückt lauschte er ihren Bewegungen, badete im Licht ihrer grünen Augen. Eines der Wesen schmiegte sich an sein Bein. Er tätschelte ihm den nur noch spärlich behaarten Kopf. Ein fröhliches Glucksen kam aus dem blutverschmierten Mund, dann mischte es sich wieder unter die anderen. Dabei verlor es den blutigen Fetzen eines Pyjamas, auf dem "W. V." in verschnörkelten Buchstaben eingestickt worden war.
Cyphrim lächelte.