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Nanyte: Der Technokrat
"Wie lange sind wir jetzt schon unterwegs?", fragte Natasha, während sie sich näher an Samuel heranzog. Das monotone Rumpeln der Schiffsmotoren übertönte ihre Worte fast.
"Keine Ahnung", antwortete er. Seine Stimme war heiser. Trotz der sie umgebenden Finsternis und des ohrenbetäubenden Lärms erkannte sie, dass er weinte. Er weinte häufig, seit sie ihre Heimat verlassen hatten. Nicht, weil er das Land so vermisste, sondern weil er sie, seine Ehefrau, zum gleichen Schritt gezwungen hatte. Für ihn war ein Bleiben unmöglich gewesen. Wenn man sich als Journalist der staatlichen Zensur widersetzte, hatte man beruflich keine Chancen mehr und brachte im schlimmsten Fall sein Leben in Gefahr. Samuels Fall gehörte dazu. Brisante Informationen im Kopf machten eine erstklassige Zielscheibe. Eine Flucht ins Ausland war der einzige Ausweg gewesen. Natasha hatte ihn freiwillig begleitet, dennoch hörte er nicht auf, sich bei ihr zu entschuldigen und ihr zu danken. Sie küsste ihn auf die feuchte Wange, strich durch sein zerzaustes Haar.
Die Motoren wurden plötzlich leiser. Draußen brüllten Männerstimmen.
"Eine Patrouille? Haben sie uns gefunden?"
"Es ist bestimmt nichts", sagte Natasha, "Vielleicht sind wir ja angekommen?" Das glaubte sie selbst nicht. Gefahr lag in der von Schweiß und Ausscheidungen schwangeren Luft. Auch die anderen Menschen in dem Container wirkten angespannt. Die Motoren erstarben. Trampelnde Stiefel. Knallende Metalltüren. Schreie. Samuel begann zu zittern. "Weg von mir", flüsterte er, "Dich suchen sie nicht. Versteck dich bei den anderen."
"Nein, ich bleibe bei dir", erwiderte sie, ergriff seine eiskalte Hand. Im gleichen Moment wurde der Container aufgerissen. Weiter vorne kreischten ein paar Frauen, als sie ins Freie gerissen wurden. Gestalten in dunklen Uniformen arbeiteten sich durch die verängstigten Flüchtlinge, trieben sie hinaus. Samuel stellte sich schützend vor Natasha. "Sie wollt ihr nicht! Lasst sie in Ruhe!" Eine Hand griff seinen Kopf, schmetterte ihn gegen die Stahlwand. Natasha schrie. Der Uniformierte beförderte Samuel mit einem Fußtritt auf das grelle Viereck am anderen Containerende zu. Natasha wurde hinterhergeschubst.
Künstliches Licht brannte in Augen, die lange Zeit im Dunklen verbracht hatten. Natasha blinzelte, hob die Hand zum Schutz vor der gleißenden Helligkeit. Dabei bemerkte sie, wie dünn ihre Finger geworden waren. Knochen, umspannt von bleicher Haut, die Nägel abgebrochen und schmutzig. Der restliche Körper konnte nicht viel besser aussehen. Sie wäre nur zu gern wieder zurückgekrochen in die sichere Finsternis des Containers, aber kräftige Hände schlossen sich um ihre Schultern, zerrten sie hinaus. Unsanft wurde Natasha auf den Boden gepresst, wobei ihre Knie noch ein paar zusätzliche Schrammen erhielten. Den Schmerz nahm sie kaum noch wahr, er war nichts im Vergleich der Torturen der letzten Tage. Und all die Mühen waren umsonst gewesen – letztlich waren sie den Behörden doch ins Netz gegangen. Samuel kniete neben ihr, ein grausamer Spiegel der hinter ihnen liegenden Strapazen. Um die beiden herum herrschte Aufruhr. Menschen wurden aus ihren Verstecken getrieben, Befehle gebellt. Die Stimmen klangen verzerrt, elektrisch. Natasha hörte, wie jemand verprügelt wurde. Eine Frau weinte, flehte um Gnade. Kinder kreischten.
"Trennt Männchen und Weibchen voneinander!"
Samuel wurde von Natasha fortgerissen. Sie streckte die Hand nach ihm aus, rief seinen Namen. Er tat es ihr gleich. Für eine Sekunde berührten sich ihre Fingerspitzen, dann wurden sie zu den gegenüberliegenden Seiten der Hafenplattform gezogen. Natasha wurde zu einer Gruppe anderer Frauen geschleift, die ängstlich am Boden kauerten. Achtlos wie Vieh ließ man sie liegen. Hektisch sah sie sich um. Sie befand sich in einer Art unterirdischem Hafen, einer gewaltigen Grotte. Scheinwerfer unter der gewölbten Decke warfen ihr grelles Licht auf das Geschehen. Noch immer waren Gestalten in schwarzen Uniformen damit beschäftigt, Leute aus den Containern auf dem anliegenden Frachtschiff zu holen. Ihre Vorgehensweise war ungewöhnlich brutal. Es flogen mehr Fäuste als Worte, während die zwei Menschengruppen auf beiden Seiten der Hafenplattform kontinuierlich vergrößert wurden. Wie befohlen, trennten die Uniformierten Männer und Frauen, ungeachtet deren Alters. Man entriss Kinder den Armen ihrer Eltern, prügelte weitere Eheleute auseinander.
So verhielt sich keine Behörde. Etwas war nicht richtig. Waren sie Menschenhändlern in die Fänge geraten? Hatten vielleicht Piraten das Schiff gekapert? In all dem Tumult entdeckte Natasha ein bekanntes Gesicht. Es war der Schleuser, der ihre Überfahrt organisiert hatte! Ein Vermögen hatte er für seine Dienste haben wollen und dabei eine sichere Ankunft versprochen. Nun stand er seelenruhig neben einen großgewachsenen Uniformträger, ein dreckiges Lächeln auf den Lippen. Er hatte sie verkauft! Verkauft an diese Kerle!
"Schwein!", schrie sie in seine Richtung und bereute es im gleichen Augenblick. Dies war ein ungünstiger Moment, sich in den Vordergrund zu spielen. Der Mann schaute zu ihr herüber, regte sich jedoch nicht und lächelte nur noch breiter. Der Uniformierte hingegen schien aufmerksam geworden zu sein, setzte sich in Bewegung. Seine Haut war kalkweiß, der Schädel kahl. Mund und Nase waren unter einer schwarzen Maske verborgen, sodass nur die Augen sichtbar waren. Milchige, weiße Kugeln.
Er blieb weniger als einen Meter von Natasha entfernt stehen. In Handschuhen steckende Finger legten sich um ihre Kehle, rissen sie in die Luft, bis sie den Boden nicht mehr unter ihren Füßen spürte. Kälte ging vom Hünen aus, als steckte kein Fünkchen Leben in ihm. Er starrte sie gefühllos an.
"Hübsches Weibchen."
Die freie Hand des Hünen fuhr ihren Körper entlang, betastete ihre Brüste, legte zwei Finger an ihre Scham, knetete ihren Hintern. Natasha empfand die Prozedur nicht als demütigend, sondern als angsteinflößend. Der Hüne zeigte keinerlei Erregung oder Freude. Vielmehr fühlte sie sich wie ein Stück Vieh, das vom Metzger begutachtet wurde, bevor es zur Schlachtbank ging.
"Der Leib ist noch zu schwach, aber geeignet."
Er ließ sie fallen. Schmerzhaft prallte sie mit dem Steiß auf den Boden, kroch sofort rückwärts in die Gruppe hinein, weg von dem Hünen.
Mittlerweile hatten die restlichen Uniformträger ihre Aufteilung abgeschlossen, bezogen in der Plattformmitte Stellung. Der Hüne baute sich vor ihnen auf.
"Die Männchen kommen in die Sortierung zur Weiterverarbeitung, die Weibchen in die Kammer zu Magnus."
Sofort stoben die Uniformierten auseinander, prügelten, zerrten und schubsten beide Gruppen in zwei angrenzende Tunneleingänge. Natasha sah Samuel. Er war aus der Masse getreten und schaute sich suchend um. Sie rief ihn über den Lärm hinweg. Er hörte sie nicht, tat ein paar Schritte auf die Frauengruppe zu. Augenblicklich zwang ein Uniformierter ihn mit einem Schlag in die Knie, trieb ihn in die Reihe zurück. Natasha wollte zu ihm, kämpfte sich durch die panisch in den Tunnel stürmenden Frauen. Doch bevor sie den Rand des Stroms erreichen konnte, hatte er sie schon mit sich gerissen. Vorwärts, immer vorwärts. Wäre sie stehengeblieben, hätten die Anderen sie niedergetrampelt. Ihr blieb also keine Wahl, als sich ihrem Schieben und Drängen zu fügen, begleitet von der schrecklichen Ahnung, Samuel niemals wiederzusehen.
Der Tunnel endete in einem kreisrunden Raum, von dem Nischen abgingen. Die Uniformierten teilten die Frauen in kleinere Gruppen auf und trieben sie dort hinein. Sobald eine Nische voll war, schnellten Gitterstäbe aus dem Boden und versperrten sie. Von allen Seiten gellten Schreie. Auf ihrem Weg zu einer der Nischen erhaschte Natasha einen Blick auf ein Gewirr aus mechanischen Armen, welches die Wände bis unter die hohe Decke beherrschte. Nackte Körper wurden darin herumgereicht wie Puppen. Grüne Energieblitze durchzuckten knallend die Luft. Es stank nach Blut und Chemikalien. Nachdem alle Gefangenen untergebracht waren, verließen die Uniformierten den Raum, riegelten den Tunnelzugang hinter sich ab.
Die Kakophonie wurde noch grauenerregender, als sich wirres Gelächter zwischen die Schreie mischte. Irgendwas fiel klatschend auf den Boden, rote Flüssigkeit verspritzend. Natasha, die ganz vorn an den Gitterstäben stand, wich zurück, presste sich an die kreischenden Frauen hinter ihr. Fremde Hände ergriffen ihre und sie drückte sie so fest, als wären es Samuels. Sie sah, wie eine der anderen Zellen geöffnet wurde. Die Gefangenen drängten sich zusammen. Greifarme schnellten hinein, packten drei Frauen an den Hälsen und nahmen sie mit nach oben. Die Stäbe glitten sofort wieder hoch. Im nächsten Moment schwebten Kleidungsfetzen herunter, gefolgt von Sturzbächen klaren Schleims.
"Warum müsst ihr nur immer so schmutzig sein? Ihr verdreckt meine ganzen Instrumente!"
Die Stimme kam von überall her, troff vor Häme. Nach einigen Minuten wurden die nächsten Insassinnen aus ihrem Kerker gezerrt, diesmal direkt neben Natashas. Sie sah geweitete Augen, panisch zappelnde Arme und Beine. Ihr Herz krampfte sich zusammen.
"Was machen die mit uns?", fragte jemand weiter hinten.
"Wer sind die?"
"Wo ist mein Mann?"
"Wo ist mein Sohn?"
Die Fragen pflanzten sich fort und kurz darauf ertönten sie aus allen Zellen.
"Ruhe!", donnerte es zurück. Schlagartig herrschte Stille, bis auf das Surren der Mechanik und die Schreie von oben. "Wie soll man denn bei diesem Gejammer konzentriert arbeiten?"
Die Stäbe vor Natasha sanken hinab. Sie versuchte, sich zwischen ihre Mitgefangenen zu quetschen, den hereinschnellenden Greifern zu entkommen. Eine andere Frau bekam Panik, rannte hinaus. Sofort wurde sie gepackt und hochgerissen. Ein junges Mädchen in der Zelle fing an zu weinen. Die metallenen Arme griffen scheinbar willkürlich in die Menge hinein. Einer schnappte Natasha, bevor sie in Deckung gehen konnte. Wie ein Halsband legte sich die Zange um ihren Hals und nahm sie mit. Auf ihrem Weg nach oben zertrennten klingenbewehrte Arme ihre Kleidung. Sie wurde vor eine Batterie von Düsen gehalten und mit einem nach Desinfektionsmittel riechenden Schleim eingesprüht. Natashas Schläge und Tritte verpufften in der Leere. Blitze leckten begierig und prickelnd an ihrer bloßen Haut, richteten aber keinen Schaden an. Irgendwo neben ihr erscholl ein schrilles Kichern. Sie erblickte das junge Mädchen. Blanker Wahn stand in dem Gesicht, der Verstand ausgesetzt, während ihr nackter Körper abgesprüht wurde.
Natasha wurde nach oben durchgereicht, von einem Greifer zum nächsten, bis sie unter der Decke baumelte. Ihr Hals fühlte sich an, als würde er jeden Augenblick zerreißen, musste er doch die ganze Last des Körpers tragen. Atmen war fast unmöglich, auch wegen des Schleims in den Nasenlöchern. Hustend wischte sie sich im Gesicht herum. Sofort schlangen sich dunkle Kabel um die Handgelenke, zogen sie weg.
„Was haben wir denn hier?“
Aus einem der Kabel drang ein grünliches Licht, erfasste ihren Ehering.
„Keine Fremdkörper.“
Eine winzige Metallklaue glitt aus dem Kabelende auf den Ring zu. Natasha ballte die Hand zur Faust. Diese Dinger hatten sie von Samuel getrennt, die einzige gebliebene Verbindung würde sie ihnen nicht überlassen, zumindest nicht kampflos.
„Wenn du dich wehrst, wird alles nur noch unangenehmer für dich.“
Die Klaue nestelte an dem Ring herum, zerrte an den Fingern, zog sich dann aber erfolglos zurück. Natasha verspürte einen Hauch von Triumph.
„Ich habe keine Zeit für derlei Unfug. Dann eben auf die Schnelle.“
Das Kabel lockerte sich, jedoch nur, um Klingen auszufahren und wieder zusammenzuschnellen. Heißer Schmerz flammte im ganzen Arm auf. Natasha brüllte, wobei ihr Unterkiefer gegen das Metall des Greifers stieß. Das Kabel wand sich um das Handgelenk, zertrennte Haut, Fleisch, Sehnen, bis die Klingen über den Knochen schabten. Ein scharfes Knacken. Natashas Hand stürzte in die Tiefe. Sie verlor fast die Besinnung, sah alles nur noch durch einen verschwommenen Schleier, spürte ihr Leben warm aus dem offenen Arm sprudeln. Schnell genug, hoffte sie, um bald wieder mit Samuel vereint zu sein. Sie war sich sicher, ihn nicht mehr lebend wiederzufinden.
Etwas zischte. Rasch verebbte der Schmerz und mit ihm jedes andere Körpergefühl. Natasha war vollständig taub. Schlaff hing sie in den Kabeln, betrachtete mechanische Arme mit merkwürdigen Instrumenten um sie herumwirbeln. Andere Frauen wurden ähnlichen Prozeduren unterzogen. Nackte Puppen, umtänzelt von glänzenden, spitzen Gegenständen.
Dann sah sie ihn, fast untergehend in dem Gewirr. Reglos schwebte er in der Raummitte. Nur Rumpf und Kopf, umspannt von grauer Haut, das Gesicht eine glatte Fläche. Schläuche ragten aus dem Fleisch, führten in die Decke hinein. Ein Blitz zuckte aus dem unfertig erscheinenden Körper heraus, züngelte durch die Luft, verschwand in der Mauer. Wer er derjenige, der diese Höllenmaschine bediente?
„Hör auf, mich anzustarren!“, kam es aus einem Lautsprecher unter der Decke. Natasha erblickte die auf sie gerichtete Linse einer Kamera. Da wurde es ihr schlagartig bewusst: Das Ding bediente die Maschine nicht, es war die Maschine! Was dem Fleisch fehlte, ersetzten die Geräte des Raums. Natasha fühlte sich auf einmal wie im Bauch einer gigantischen Bestie. Hätte sie noch Kontrolle über ihren Körper gehabt, hätte sie gezittert, teils aus Angst, teils aus Ehrfurcht. Von etwas Derartigem hatte sie noch nie gehört, geschweige denn, es gesehen.
Natasha war noch immer betäubt, als sich die mechanischen Arme nach ihrer gefühlt endlosen Arbeit zurückzogen. In den Wänden öffneten sich Luken. Sie und die anderen Frauen wurden hineingeschoben und sogleich von neuen Greifzangen in Empfang genommen, während weitere Gefangene ihre Plätze einnahmen. An eine Schienensystem hängend, glitt Natasha eine transparente Kunststoffröhre entlang. Vor und hinter ihr nackte, schlaffe Frauenkörper. Die Betäubung schwand langsam, aber spürbar. In Fingern und und Zehen kribbelte es bereits und in Natashas Stumpf erwachte ein leises Pochen. Die Fahrt war kurz, die Röhre wich einem gewaltigen Raum. Die Geräuschkulisse war der der Kammer nicht unähnlich. Die Zange um Natashas Hals sprang auf. Sie stürzte, ihre tauben Glieder nutzlos durch die Luft schlackernd. Der Aufprall war überraschend weich. Natasha brauchte einen Moment, sich zu orientieren. Sie sah Menschen, die nackten Körper ängstlich aneinandergepresst. Ein paar schauten zu ihr herüber, machten aber keine Anstalten, ihr aufzuhelfen. Hinter ihnen ragte ein Gitter in die Höhe, die Stäbe so dick und dicht beieinander, dass man auf die Entfernung nicht erkennen konnte, was dahinter lag. Irgendwo außerhalb von Natashas Blickfeld klackte etwas. Dann ein Surren. Die Frauen schrien vor Entsetzen, drängten sich wie ein Körper in die hinterste Ecke des Zwingers, denn genau das war dieser Raum. Ein riesiges Wesen stampfte den Gefangenen nach. Blasse, fleckige Haut, die Wirbelsäule grotesk verbogen hervortretend. Der Riese musterte erst die Menge, dann schwenkte der klobige Schädel zu Natasha herum, das Gesicht ein unbeschreibliches Wirrnis aus Fleisch und Metall. Ein Piepen wie von einem Wecker drang daraus hervor. Um und in Natasha wurde es plötzlich dunkel.
„Ich muss mit Magnus sprechen. Das ist jetzt schon das fünfte verstümmelte Weibchen diesen Monat. Wenigstens hat er die Wunde diesmal ordentlich vernäht.“
„Wen kümmert das schon? Sie braucht ihre Hand ohnehin nicht mehr.“
„Ich kann beschädigte Ware nicht ausstehen. Aber dass dir das nichts ausmacht, ist ja keine Neuigkeit. Dir mit deinen Gossenkindern.“
„Ich halte meine Methode trotzdem für besser. Deine ist so … organisch.“
„Schneller, Cyphrim, nicht besser. Deine Kinder sind geistlose Bestien und werden aussterben, wenn keine Menschen mehr da sind. Nachhaltigkeit ist das Stichwort.“
„Und deswegen diese ganze Anlage hier? Die Entführungen? Was für ein Aufwand! Ich habe nur ein paar Spritzen und die Gier der Menschen gebraucht.“
„Ja, und das Ergebnis ist unterwältigend.“
Natasha hörte ein Glucksen, ganz dicht am Ohr. Sie hob die Lider und blickte in ein Kindergesicht, welches sie neugierig anstarrte. Die Augen leuchteten grün, der kleine Mund war leicht geöffnet.
„Siehst du? Nimm das Ding von dem Weibchen weg, bevor es noch Schaden anrichtet!“
„Immer mit der Ruhe, Xyphon, der tut nichts. Billy! Bei Fuß!“
Das Kind gluckste erneut, bevor es davonhuschte, einen vielbeinigen, insektenartigen Körper hinter sich herziehend. Natasha war noch zu benommen, um sich darüber zu wundern oder erschrocken zu sein. Sie fühlte sich wie ein Computer, den man mitten im Betrieb vom Stromnetz gerissen und nun wieder eingeschaltet hatte. Ein kahlköpfiger Mann beugte sich über sie, die Augen hinter schwarzen Linsen verborgen.
„Dein Glück“, knurrte er, „Nimm deinen Schoßhund gefälligst an die Leine.“
Er entfernte sich wieder. Natasha schaute an sich herunter, entdeckte ihre Extremitäten in metallenen Fesseln auf einem Stuhl fixiert, der sie an den ihres Gynäkologen erinnerte. Ihr gegenüber befanden sich acht Frauen in gleichen Positionen und zu ihren Seiten sah es nicht anders aus.
„Das also sind die Erzeuger deiner Zukunft, Xyphon? Nicht gerade beeindruckend.“
„Nicht der Pinsel, sondern das Werk soll beeindrucken.“
„Durchaus zutreffend.“
„Dein Humor ist höchst menschlich, Cyphrim.“
„Manche Dinge legt man wohl nie ab.“
Natasha konnte die Redenden nicht sehen. Nur das Insektenkind trappelte munter zwischen den Stühlen umher.
„Die Drohnen sind bereit, wir können beginnen.“
Das Schmatzen nackter Füße auf Fliesen, vieler nackter Füße. Vernarbte, ausgezehrte Figuren, die Köpfe fette, verquollene Klumpen. So schwächlich sie auch wirkten, zeigte jede von ihnen ein mehr als deutliches Vitalitätszeichen. Angewidert musste Natasha den Blick abwenden. Sie brauchte nicht zu warten, bis eines der Wesen vor ihr Aufstellung genommen hatte, um zu wissen, was in Kürze geschehen würde. Noch schlimmer war, dass die Betäubung nicht mehr wirkte. Ihr Stumpf pochte wieder in dumpfem Schmerz. Sie wand sich in ihren Fesseln, während das Ding zwei dürre Hände auf ihre Knie legte. Grabeskälte. Irgendwie schaffte sie es, den Stumpf zu befreien und ihn dem sich langsam vorwärts bewegenden Monstrum in die nicht vorhandene Visage zu rammen. Die Nähte platzten auf, Blut spritzte heraus. Die Wunde sendete brüllenden Schmerz den Rest des Arms hinauf. Natashas Vergewaltiger in spe taumelte zurück. Sofort eilte der bebrillte Glatzkopf herbei. „Verdammter Magnus! Das muss behandelt werden, sonst verblutet mir das Weibchen noch.“ Er öffnete die Fesseln, zog Natasha unsanft aus dem Stuhl heraus. Die neuerliche Verletzung raubte ihr die Kraft, sich zu wehren. Der Schmerz war überwältigend, fast noch schlimmer als beim Verlust ihrer Hand. Der Glatzkopf schleppte sie zu einem Operationstisch an der Stirnseite des Raums. Währenddessen hatte um sie herum etwas begonnen, das sich ein gesunder Verstand nicht einmal ansatzweise ausmalen konnte. Übelkeit stieg wie ein ätzender Schleim in Natashas Kehle hoch. Der Glatzkopf desinfizierte ihren Stumpf, das Brennen bemerkte sie kaum. Ebenso war die Wunde schlagartig vergessen. Ihr Blick, und mit ihm ihr ganzes Bewusstsein, war auf etwas Anderes fixiert.
Inmitten der sich windenden, vor- und zurückschnellenden Körper stand etwas, das zuerst wie eine übergroße Marionette wirkte. Weiße Plastiksegmente, verbunden durch schwarze, kugelförmige Gelenke, formten einen schlaksigen Humanoiden. Sein Gesicht bestand aus drei schmalen Schlitzen, hinter denen ölige Schwärze funkelte. Das Insektenkind zog Kreise um die schlanken Beine, gleich einem treuen Haustier. „Dein Weibchen scheint mich interessant zu finden, Xyphon“, sagte er mit unverkennbarer Belustigung. Der Glatzkopf brummte nur und winkte ab. Mit klackenden Schritten näherte sich der Humanoid, die langen Arme vor der Brust verschränkt. Als er sich herunterbeugte, sah Natasha, dass er nicht, wie angenommen, aus Plastik bestand. Sie sah Poren, kleine Unebenheiten. Es war Haut! Der kunststoffartige Glanz rührte von einem durchsichtigen Film, der darauf lag. Wie zur Bestätigung ihrer Erkenntnis verformte sich der Mundschlitz zu einem breiten, zahnlosen Grinsen. Kälte machte sich in Natashas Eingeweiden breit. Dieses Wesen rüttelte nur durch seine Anwesenheit an ihrem Verstand. In seiner Schlichtheit, seiner Perfektion, war es eine ungleich schrecklichere Kreatur als alles, was sie bisher an diesem Ort gesehen hatte. Die meisten dieser Monster zeigten noch Grundzüge eines menschlichen Ursprungs, waren mehr misshandelte Opfer wie Natasha selbst. Aber dieses … Es … war so fremdartig, so … absolut irreal.
„Mir gefällt der Blick in deinen Augen“, kicherte es, „Er ist so weit vom Verstehen entfernt, doch so nah an der Schwelle zum Wahn. Und dabei bist du eine Kämpferin, das hast du gerade deutlich gezeigt. Ich frage mich, was stärker ist - dein Wille oder dein Wahn?“
Der Glatzkopf wandte sich von Natashas Stumpf ab, der schmallippige Mund eine dünne Linie.
„Mir gefällt nicht, wo das hinführt, Cyphrim.“
Der Humanoid, Cyphrim, lachte laut auf; ein furchtbares, schepperndes Geräusch. Er grinste noch breiter. Lange Spinnenfinger legten sich um Natashas Kopf. Metallene Gelenke ruhten kalt auf der Haut. „Sie gefällt mir, Xyphon. Ihr Körper, ihr Geist – beides so fragil. Lass mich ein wenig Spaß mit ihr haben, du hast genug andere Weibchen im Zwinger.“
Natasha hörte den Glatzkopf etwas Unverständliches murmeln, dann flickte er ihre Verletzung mit ein paar Stichen und widmete sich einem Monitor voller Zahlenkolonnen. Cyphrim stieß ein vergnügtes Kichern aus. „Aufstehen, Sonnenschein!“
Der Raum drehte sich, flog an Natasha als Wirbel vorüber. Körper, Stühle, Wände verschmolzen zu einem grünlich-grauen Schleier. Es krachte. Tausende Spitzen bohrten sich in ihr Fleisch. Knochen zersplitterten. Verzweifelt versuchte Natasha, ihr Bewusstsein von sich zu stoßen, in dunkles Nichts zu entfliehen. Der Wirbel änderte stetig die Richtung, drehte und wand sich wie ein Lebewesen.
Er stoppte abrupt. Natasha fand sich bäuchlings auf einer Gitterplattform wieder. Zwischen den Verstrebungen sah sie einen grünen See, die Oberfläche brodelnd und schäumend. Sie wollte sich aufrichten, genauer umsehen. Nichts, keine Reaktion, nicht einmal ein Gefühl.
„Erstaunlich.“ Klackende Schritte hinter ihr. „Was bist du doch für ein strapazierfähiges Spielzeug, Sonnenschein. Viel zu schade für Xyphons Brutmaschinerie.“
Cyphrim hob sie auf, drehte sie so, dass sie in sein Schlitzgesicht schauen konnte. Im Hintergrund sah sie eine große, offene Tür und dahinter den Raum mit der immer noch andauernden Horrororgie. Zwei grüne Punkte flammten in Cyphrims Augen auf. „Und deinen Verstand hast du auch noch. Sehr schön.“
„Natasha!“
Diese Stimme! Samuel! Er lebte noch! Sie wollte ihn rufen, ihn sehen. Mehr als ein Gurgeln brachte sie nicht hervor. Cyphrim kicherte. „Natasha heißt du also. Sonnenschein gefällt mir besser. Ihr scheint euch zu kennen.“ Das Schlitzgesicht kam näher. „Dein Freund? Oder vielleicht sogar mehr?“ Er schaute zu ihrem Stumpf hinunter. „Was für ein hübscher Zufall. Schauen wir doch mal, wie dein Verstand die Show verkraftet.“ Er drehte sie in die entgegengesetzte Richtung.
Samuel hing über dem See in einer seltsamen Apparatur, beide Arme in Metallzylindern steckend. Weitere Männer teilten sein Schicksal, mit ihm insgesamt zehn.
„Sieh gut hin, Sonnenschein. Der Prozess für Xyphons Auserwählte beginnt jeden Moment. Deine schlechtere Hälfte scheint gute Gene zu haben, sonst wäre sie schon Babynahrung.“
Motoren nahmen grunzend den Betrieb auf, die Apparate sanken auf den See zu. Die Männer brüllten und strampelten mit den Beinen. Samuel rief immer wieder nach Natasha, das Gesicht tränenüberströmt. Sie wollte ebenfalls weinen, schaffte es aber nicht. Etwas lähmte sie von innen heraus, machte sie zu einer Puppe in Cyphrims Händen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Männer unter die Oberfläche getaucht wurden. Natasha sah Samuels Gesicht in der grünen Brühe verschwinden; seine in Todesangst verzerrten Züge, erblasste Haut. Er blieb nur wenige Augenblicke unten, dann wurden er und der Rest der Männer wieder herausgehievt. Prustend und spuckend rangen sie nach Luft. Cyphrim schüttelte Natasha vernügt, wobei irgendetwas in ihrem Körper gefährlich knirschte. „Jetzt kommt der beste Teil. Ich mag Xyphons Arbeitsweise nicht, aber dabei zuzuschauen ist unerwartet unterhaltsam.“
Sie hörte ihm nicht zu, wollte nur noch hoch zu Samuel. Etwas Schreckliches stand bevor, das wusste sie. Sie sammelte ihre ganze verbliebene Kraft. Wenigstens noch einmal wollte sie ihn auch ihre Stimme hören lassen.
„Ich liebe dich!“
Sie klang heiser, brüchig, zerstört.
„Wie niedlich, Sonnenschein! Aber dein Schatz kann dich nicht mehr hören.“
Es stimmte. Samuel reagierte nicht, sah nicht einmal in ihre Richtung. Er sagte auch nichts mehr, hing still und reglos unter der Decke.
„Es geht los.“
Wie auf ein unhörbares Kommando hin verfielen die Männer gleichzeitig in Spasmen. Samuels Haut zitterte, schien sich vom Fleisch abzulösen und ein Eigenleben zu entwickeln. Das Gesicht floss auf die Brust, wurde von der wuchernden Haut verschlungen. Der Kopf blähte sich, platzte an mehreren Stellen auf und würgte rotes, feuchtes Gewebe hervor, welches sich zu dicken, festen Geschwüren formte. Grüne Adern glühten überall auf dem mutierenden Körper, hektisch pulsierend.
„Genau deswegen werden wir euch eines Tages beherrschen. Wir haben das Wissen und die nötigen Mittel dazu. Dein Liebling ist jetzt nicht mehr als ein hirnloser Samenfabrikant, Sonnenschein. Was sagst du dazu?“
Natasha starb langsam, so unendlich langsam. Körperlicher Schmerz hatte keine Bedeutung mehr, denn ihre Seele war vernichtet. Alles wurde dunkel, formlos, kalt. Jemand sagte etwas, aber seine unverständlichen Worte schienen aus weiter Ferne zu ihr herüberzuhallen. Samuels Gesicht leuchtete in der Finsternis auf, rasch näherkommend.
„Samuel? Bist du das? Küss mich, Liebling.“
Sein Mund war groß, viel größer als sonst, und er hatte Dutzende von Zungen. Es kümmerte sie nicht. Er war da, nur das zählte.
Bernard warf einen Blick auf den Pass. Alles schien in Ordnung. Routinemäßig verglich er Bild und Namen mit der aktuellen Fahndungsliste. Momentan war sie ziemlich knapp, nur die üblichen Verdächtigen und ein flüchtiges Ehepaar. Samuel und Natasha Lamb. Offenbar hatten die beiden Ärger mit ein paar hohen Tieren drüben auf dem neuen Kontinent. Das Foto im Pass hatte kaum Ähnlichkeit mit der gesuchten Frau. Die Wangenknochen waren zu hoch, die Lippen zu dünn, die Nase zu schmal und spitz. Auch die Augenfarbe stimmte nicht. Natasha Lamb hatte braune Augen, diese Frau aber leuchtend grüne. Vielleicht ein wenig plastische Chirurgie und Kontaktlinsen? Wäre nicht das erste Mal.
„Dauert das noch lange? Ich habe einen wichtigen Geschäftstermin, den ich nur ungern verpassen würde.“ Bernard schüttelte den Kopf. Wenn er so argumentierte, hätte er jede Frau aufhalten und melden müssen. Schnell drückte er den Stempel in den Pass und gab ihn zurück. Die Frau nahm ihn mit einer mechanischen Prothese entgegen, einem ziemlich modernen Modell, wie es sich nur reiche Leute leisten konnten. Die Frau zwinkerte ihm zu. „Danke, Sonnenschein.“