Nanyte: Der Dealer
“Ein neues Schweinchen?“, fragte Barrow gelangweilt. Er musterte den Neuankömmling ohne sonderliches Interesse. “Wird es Ärger machen?“
“Ich glaube nicht“, antwortete Ambers und zuckte mit den Schultern, “Bloß ein kleiner Junkie. Lief halbnackt auf der Straße rum und hat eine Familie zu Tode erschreckt.“
„Ist ja wohl kein Wunder, der Kerl sieht aus wie 'ne lebende Leiche.“ Barrow tippte auf seiner Tastatur herum. “Kann er sich ausweisen?“
“Kein Ausweis und scheinbar hat 'ne Katze seine Zunge gefressen. Ich bekomme nicht eine Silbe aus ihm raus.“
„Ab in den Zwinger damit.“
Machine war 21 Jahre alt und hieß eigentlich David Seyers. Machine nannten ihn nur seine Kunden und die Cops. Trotz seines jungen Alters gehörte er schon zu den ganz Großen, wenn es um das Absetzen von Substanzen aller Art ging. Er hatte früh angefangen und sich hochgearbeitet. Machine brachte alles an den Mann, egal, wie verboten oder gefährlich die Ware war. Aufgrund seiner Kaltblütigkeit hatte ihm irgendein verlauster alter Penner den Spitznamen „Machine“ verpasst. Sie hatten ihn schon etliche Male eingebuchtet, aber nie lange halten können. Er war bei einem Gelegenheitsdeal erwischt worden. Nichts Großes. Nur ein paar bunte Pillen an eine Gruppe experimentierfreudige Kids. Neue Kunden gewann man am besten, wenn sie noch jung waren. Nach seinem Maßstab war das fast schon ein Kavaliersdelikt. Schlimmer wäre es gewesen, wenn sie ihn zwei Stunden vorher geschnappt hätten. Er hatte einen neuen Stoff in die Hände bekommen. Irgendein chemisches Zeug, das „Nanyte“ genannt wurde, und das man sich spritzte. Die grüne Flüssigkeit sah aus wie pures Gift, aber scheinbar war der Trip, den das Zeug einem verschaffte, unschlagbar. Heute Abend war Machine wieder eine Dosis losgeworden. Sein Kunde war ein stinknormaler Junkie und trotzdem hatte er es geschafft, ganze fünf Ladungen Nanyte in seinen Körper zu pumpen und immer noch zu leben. Machine kannte seinen Namen nicht, aber er verkaufte ihm den Stoff zum Vorzugspreis. Er wollte sehen, wieviel der Junge noch vertragen konnte, sah es als Marktforschung.
Machine grinste still vor sich hin. Er hätte auch laut loslachen können, immerhin war der Abend noch jung und er in der Zelle der U-Haft allein. Er würde hier wieder raus sein, bevor sich zuviel Gesocks ansammelte.
Aus dem angrenzenden Gang erscholl der Signalton der Gittertür, die den Zellentrakt von Barrows Schreibtisch trennte. Machines Lächeln gefror zu einer starren Maske, als er sah, wen Ambers hereinschob. Sein Nanyte-Junkie!
Und er sah alles andere als gut aus. Ambers öffnete die Zellentür und schubste ihn auf die Bank gegenüber von Machine. “Ein Freund von dir?“, fragte er und grinste herablassend. Machine fiel keine gute Antwort ein und schüttelte einfach mit dem Kopf. Ambers zuckte mit den Schultern, verließ die Zelle und schloss die Tür hinter sich wieder ab. Sie waren allein.
Machine betrachtete die abgemagerte Erscheinung, die halb bewusstlos auf der Bank hing. Er machte es bestimmt nicht mehr lange. Er war nackt, abgesehen von seinen schwarzen Boxershorts. Seine Haut war ausgebleicht, glänzte wächsern. Rippen traten hervor, die Wangen waren eingefallen. Glasige Augen waren in dunkle Ringe eingebettet wie zwei Perlen. Er atmete in kurzen, heftigen Stößen und schwitzte.
Machine interessierte es nicht, ob der Kerl gleich abkratzte, sondern ob er ihn verpfiffen hatte. “Hey! Hey du!“
Der kahlgeschorene Schädel des Junkies kippte nach vorn und wackelte auf dem dürren Hals hin und her. Er sah aus wie eine dieser kleinen Figuren mit den riesigen Köpfen, die unentwegt nickten. Seine Augen blieben jedoch fast geschlossen, sodass man nur das Weiße sehen konnte.
“Hey! Hörst du mich?”
Eine Mischung aus Krächzen und Grunzen drang aus den aufgesprungenen Lippen des Junkies, sein Oberkörper sackte weiter zusammen. Auf der bleichen Haut bildeten sich Schweißperlen. Es sah aus, als schmelze sie gleich mitsamt dem Fleisch von den Knochen.
Machine sprang auf und ging zu ihm hinüber. Er nahm seinen Kopf in beide Hände und starrte ihn an. “Reiß dich zusammen, Mann. Ich will nur wissen, ob du geplaudert hast. Danach kannst du den Rest von deinem Trip genießen und meinetwegen gern den Löffel abgeben.”
Ein Rülpsen war die einzige Antwort, die er bekam. Wütend schlug Machine ihn gegen die Gitterstäbe. “Willst du mich verarschen?”
Er rammte dem Junkie die Faust in den Magen. “Rede endlich”, zischte er leise, “Dann haben wir alle unsere Ruhe.” Immer noch nichts. Die perlenartigen Augen stierten ins Leere.
“Ach, scheiß auf dich.”
Machine ließ ihn los, verpasste ihm aber noch einen Kinnhaken, der den dürren Mann von der Bank hob und auf den Boden schleuderte. Er trat nochmal nach und wollte sich gerade wieder auf seinen Platz setzen, als er von etwas festgehalten wurde. Er schaute nach unten und sah die knochige Hand des Junkies an seinem Bein. “Sag bloß, du hast deine Meinung geändert.” Machine beugte sich hinunter. “Was hast du mir zu sagen? Hast du mich in Schwierigkeiten gebracht?” Er schaute in das bleiche Totengesicht und stutzte. Es sah anders aus und das lag nicht an dem dünnen Blutfaden, der aus dem Mundwinkel kroch. Die käsige Haut war plötzlich von einem Adergeflecht durchzogen. Sie verliefen wie gerade Linien, knickten hier und da ab und setzten ihren Weg in andere Richtungen fort. Sie glühten grünlich. Machine riss sich los und wich zurück. “Verdammt, was ist mit dir los, Mann?”
Der Junkie stand auf. Sein gebrechlicher Körper schien schlagartig von neuer Vitalität erfüllt zu sein. Die Adern zeigten sich nun überall an ihm, bildeten Muster. Er starrte Machine an. Seine Augen waren nicht mehr weiß, sondern schimmerten in hellem Grün. Der Mund klaffte auf. Immer weiter. Die Mundwinkel rissen ein und helles Blut quoll hervor. Die Bauchdecke wölbte sich bedrohlich, als würde sie jeden Moment platzen. “Oh, Scheiße!” Machine wirbelte herum und rannte zur Tür, rüttelte an den Gitterstäben. “Hey! HEY! Mit dem Typen hier stimmt was nicht!”
Niemand antwortete ihm.
Der Junkie gab ein Schlürfen und Gurgeln von sich, das von irgendwo aus seinem Inneren zu kommen schien. Aus seinem Mund schob sich etwas, das wie ein Metallrohr aussah. Rötliches Gewebe klebte daran. Die Haut an den Unterarmen wurde rissig, platzte ab wie alter Nagellack. Glänzendes Metall wurde freigelegt. An die Stellen der Hände traten metallene Spitzen. Schlürfend wurde der aufgeblähte Bauch zusammengezogen. Aus dem Mundrohr und den Spitzen spritzte grünlicher Schleim. Machine brauchte nicht lange überlegen, um zu wissen, was das für ein Zeug war: Nanyte!
Das Ding setzte sich in Bewegung, direkt auf Machine zu. “Hilfe! Verdammt, lasst mich hier raus!”
"Jetzt halt endlich das Maul!“, kam es aus dem Gang.
“Bitte, Mann! Hier drin geht irgendwas ab! Ich will hier raus!”
“Du willst nicht still sein, nur das geht hier ab, Machine!”
Das Ding war jetzt ganz nah. Machine spürte seinen hechelnden Atem im Nacken. “Oh Scheiße!”
“Okay, es reicht! Jetzt seid ihr fällig!”, brüllte Barrow.
Machine wurde von den Gittern weggerissen und zu Boden geschmettert. Das Ding kniete sich auf ihn. Der Bauch schien wieder kurz vorm Bersten zu stehen. Es rammte die Speerhände in Machines Seiten. Sein aufkeimender Schrei wurde von dem Schlauch erstickt, der sich aus dem Metallrohr wand und in seinen Mund schnellte. Mit geweiteten Augen beobachtete Machine, dass sich der Bauch zusammenzog wie ein Blasebalg. Gleichzeitig spürte er das Nanyte in seinen Körper fließen. Es war kühl, linderte den Schmerz. Die Zelle und das Ding verschwammen vor seinen Augen. Auch Barrow, der die Tür wutentbrannt aufriss und dann vor Schreck starr wurde, war nicht mehr als ein blauer Fleck. Dann versank die ganze Szenerie in Dunkelheit.
Machine erwachte und fand sich noch immer auf dem Boden der Zelle wieder. Er fühlte sich erstaunlich gut. Mühelos und ohne Schmerzen richtete er sich auf, schaute an sich herunter. Sein Hemd war zerfetzt, wo die Stacheln des Dings eingedrungen waren, aber darunter schien alles in Ordnung. Keine Wunden, keine Narben. Nichts! War es nur ein furchtbarer Traum gewesen? Machine sah sich um. Neben ihm lag Barrow in einer Lache undefinierbarer, grünroter Flüssigkeit. Er war kaum noch zu erkennen, das Gesicht im Todeskampf verzerrt. Seine Zunge ragte gleich einem fetten Wurm zwischen blutigen Lippen hervor. Machine kroch von dem Leichnam fort. Warum lebte er noch, wenn der Polizist gestorben war? Wie war das möglich? Aus der Schleimpfütze führten Abdrücke nackter Füße zur Zellentür. Sie stand offen. Weg hier! Zu anderen Gedanken war Machines Verstand nicht mehr fähig. Dieses Ding konnte noch irgendwo hier in der Nähe sein, doch diesen Umstand schob er beiseite. Er wollte nur noch fort, sprang auf und rannte los. Die Polizeiwache flog geradezu an ihm vorbei. Nur aus dem Augenwinkel sah er die Toten, die Boden und Tische zierten. Er rannte weiter, immer weiter. Raus aus dem Gebäude, die Straße hinunter, die erschrockenen Blicke der Passanten ignorierend. Erst in einer schmalen Gasse, ein paar Blocks entfernt, kam er zum Stehen, holte Atem. Was sollte er jetzt tun? Er konnte nicht zur Polizei gehen. Wer würde ihm diese abgedrehte Scheiße schon glauben? Sie würden ihn für das ganze Gemetzel verantwortlich machen und auf den Stuhl schnallen, während dieses Ding durch die Nacht spazierte und weiter tötete. Nein, er musste aus der Stadt raus und zwar schnell. Er musste verschwinden, irgendwohin, wo ihn niemand kannte, niemand mit dieser ganzen Sache in Verbindung brachte. Machine rannte hinaus in die Nacht, einem Leben auf der Flucht entgegen. Er bemerkte nicht den Fleck in seinem Nacken, der mikroskopisch kleine Partikel in die Luft entsendete.
Cyphrim schaute vom Dach eines Hochhauses auf die Stadt hinunter, betrachtete das Leben, das in den Straßen pulsierte. All die kleinen Menschen, die ihren Trivialitäten nachgingen. Es hatte begonnen, die ersten beiden Kinder waren unterwegs. Eines geistlos, eines unwissend. Cyphrim streckte seine Hand aus, musterte fahles Fleisch, kalten Stahl, grün leuchtende Adern. Er richtete seinen Blick wieder auf die Stadt. Ein Lächeln umspielte seine dünnen Lippen.