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Nahwehen
Nahwehen
Nur noch 19 Minuten. Wieso habe ich ausgerechnet heute nicht mehr Zeit eingeplant? Wir feiern doch unser Jubiläum.
Auf den Tag genau vor vier Jahren, es war an der Lolek und Bolek Retrospektive im Alten Krematorium, hast Du eingeschlagen. Vier hungrig aussehende Studenten spielten während der Pause Bossa Nova, der sich gut mit meinem Daiqiri vertrug. Guten Freunden wäre aufgefallen, dass sogar meine Hüften andeutungsweise mitwippten. Es waren aber keine guten Freunde da. Dafür bahnte sich, was ich als Kollegin vom äusseren Rand des Beziehungsspektrums bezeichnen würde ihren Weg durch die Menge. Paula - mit Dir im Schlepptau. "Kurt, wieso hast Du nicht gesagt, dass Du auch kommst?" Tausend mögliche Antworten schrumpften zu einem: "Ach." - "Ihr kennt Euch noch nicht...", da hast Du dich umgedreht und Dein Name, wie überhaupt alles um mich herum verschwand in einem schwarzen Loch. Beim Stamm der Jivaro-Indianer vom Oberlauf des Orinocos ist es ein beliebter Zeitvertreib, die Drüsen am Hinterteil einer Aga-Kröte zu lecken, um in einen tranceähnlichen Zustand zu fallen. Man spürt dann weder Atmung noch Puls, ist reduziert auf die emotionale und intellektuelle Stufe eines Pantoffeltierchens. Ich brauchte dafür nur in Deine Augen zu schauen. Keine Ahnung, über was wir uns unterhalten haben, und genauso wenig hätte ich später beschreiben können wie Du ausgesehen hast. Ich bin erst erwacht, als die Studenten schon beinahe alle Reste des kalten Büfetts verputzt hatten.
"Nächster Halt - Barnerflösse!" Noch fünf Stationen und mir bleiben dafür zwölf Minuten. Ich halte es nicht mehr aus, stehe auf, stelle mich neben den Ausgang und mustere mich in der Scheibe der Wagentüre. Mein Spiegelbild tanzt mit der unebenen Tunnelwand einen wilden Mambo.
In den darauffolgenden Wochen hatte sich Paulas Status in meinem Leben erheblich verändert. Von der Agendaleiche zur Dealerin, deren Stoff ich so dringend brauchte. Der Weg zu Dir führte über sie. Irgendwann genügte das nicht mehr. Nach tagelanger Vorbereitung und drei, vier Versuchen, die in letzter Minute abgebrochen werden mussten stand ich schliesslich vor Dir. Ich kannte mittlerweile Deinen Tagesablauf und war sicher, Dich Mittwoch abends in Kais Kaffeestube zu finden, wo Du die Müdigkeit mit einem Ristretto austreibst, bevor Du nebenan durch die Tür des Fitnessstudios verschwindest. Das Windspiel über der Türe hallte in meinen Ohren wie die Orgel des Petersdoms während eine Kolonie Ameisen von meinem Nacken ausschwärmte. Mit affektierter Nonchalance schlenderte zu Deinem Tisch, wo ich mich vor Dir aufbaute. "Hättest Du Lust, mit mir die David-Seymour-Ausstellung zu besuchen?". Verbale Hausmannskost. Halt das, was vom tausendfachen Üben und Durchspielen aller möglichen Varianten übrig geblieben war. "Klar! Wie wär's übermorgen? Sagen wir um sechs?" Einen Lidschlag später stakste ich mit filigranen Beinen zur Tür hinaus. In den folgenden 48 Stunden liess ich mich krankschreiben, nahm alles an Beruhigungsmitteln, was in meiner Wohnung zu finden war und besuchte die Ausstellung in den lichten Momenten dazwischen dreimal. In der Hoffnung, so wenigstens über die Bilder sprechen zu können . Nachdem ich Dir also den halben Ausstellungskatalog runtergeleiert hatte überraschtest Du mich später beim Essen in der in der schummrigen Arbeiterkaschemme mit Deiner Eloquenz. Dir einfach so gegenüber zu sitzen, nur wir beide, das war der Beginn unseres Traums.
Noch acht Minuten. So lange dauert der Liebesakt bei den Japanern im Schnitt und eine durchtrainierte Schnecke schafft dabei eine Gehsteigbreite. Ich wünsche mir, diese Stadt hielte die Luft an, um mich ein wenig schneller durch ihre Därme zu drücken.
In den folgenden Jahren lebten wir wie im Rausch. Du hast mich in Deine Welt eingeführt. Ich habe Mandalas gemalt, als gäbe es kein Morgen mehr, habe mich selbst erfahren und war mit fünf Tibetern in der indianischen Schwitzhütte. Bei Sitar-Klängen krampft mein Magen nicht mehr und ich kann jeden Angreifer mit drei Griffen zur Strecke bringen. Stundenlang auf der bretterharten Liegewiese des Strandbades meinen Körper der Sonne zu opfern beeindruckt mich mittlerweile ebenso wenig wie den Directors-Cut eines Godard-Films auf den mönchischen Bänken des Studiokinos bei Dir um die Ecke durchzusitzen. Oh, und unsere Reisen. Der Krebs am Strand von Kathos. Erinnerst Du dich noch, wie er versuchte die Kunststoffhalterung eines Sixpacks in seinen Bau zu ziehen? Oder die Verblüffung in Deinem Gesicht, als Du auf den Stufen des Bayon-Tempels in Angkor Wat einen Ring mit Deinen Initialen findest. Später mein gequältes Lächeln, als Du ihn, ganz die gesetzestreue Touristin, der Aufsicht übergibst. Wir haben so viel erlebt; ich wollte alles tun, was Du tatest, sein, wo du warst.
Wieso fährt denn der Zug nicht weiter? Läppische 300 Sekunden bleiben noch. Ich würde es mir nie verzeihen, zu spät zu kommen. Nicht heute. Dazu kommt, dass wir uns seit drei Tagen nicht gesehen haben. Ich spürte, dass Du ein wenig Distanz gebraucht hast.
Natürlich, wir hatten auch harte Zeiten. Als Du die Stelle gewechselt hast und umgezogen bist, musste ich mich anpassen und dir folgen. Wir hätten uns sonst kaum mehr gesehen. Auch den Rauch meiner Zigaretten hast Du nicht vertragen; Deine feine Nase entdeckte ihn sogar durch Wandritzen schwitzend und gegen steife Brisen bis Stärke vier. Dem Tabak habe ich ebenso die kalte Schulter gezeigt wie meinen Freunden. Wollten mich zur Vernunft bringen, wie sie sagten. Aber ich habe sie durchschaut, dieses eifersüchtige Pack!
Endlich! "Hauptbahnhof - Umsteigen auf die Linien..." säuselt die mechanische Ansage und ich breche aus dem Wagen wie ein umgesiedelter Luchs aus seiner Transportkiste. Ich haste die endlos lange Rolltreppe hoch, die üblen Kommentare der Angerempelten im Rücken. Oben angekommen, drücke ich mich an die Wand und werfe einen Blick auf die Uhr. Gerade noch geschafft! Ich schliesse die Augen und konzentriere mich. Da, diese Vibration, das kaum hörbare Rumpeln, das ist Dein Zug. Ich zähle auf 23, hole tief Luft und reihe mich in den Strom der Pendler, die zu den Zügen hasten. Mit festem Griff packe ich das Band der nach unten führenden Rolltreppe. Da tauchst Du aus dem Schlund der U-Bahnschächte, lässt Dich nach oben tragen. Unsere Blicke treffen sich.
"Hallo!"
"Hi."
Mit einem Meter pro Sekunde gleiten wir auseinander. Ich torkle vom Band und lasse mich nach ein paar Schritten auf einen der Bänke fallen. Mitten im brüllenden Stossverkehr wabble ich als rosa Qualle im Nichts bis ich irgendwann gegen zwei Buchstaben pralle: Hi. ‚Hi’ bedeutet, es geht Dir gut. Der Morgen war gnädig mit Dir und Du hast sicher keine Sitzungen heute. Die hasst Du. An solchen Morgen gibt’s ein müdes ‚Hey’ und Deine Lippen sind schmal wie Streichhölzer. Morgen schaue ich die neue Wohnung an, die schräg gegenüber von Deiner auf der anderen Seite des Flusses liegt. Das war eine Empfehlung meines Arztes. Ehrlich! Stundenlang in der Kälte vor Deiner Tür auszuharren hat meiner Lunge nicht gut getan. Weißt Du, ich habe sie gehasst, verdammt, beweint, diese eine Sekunde, die Deine Umarmung zu kurz war. Damals an unserem ersten und einzigen gemeinsamen Abend. Eine Sekunde! Heute liebe ich sie.