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Nahtoderfahrung

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24.01.2015
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Nahtoderfahrung

Nahtoderfahrung

Karl sitzt auf der Kirchentreppe von St. Jakob und hofft, dass ihm Vorübergehende einige Münzen in seinen Hut werfen. Der Fünfzigjährige gehört zur Schar der Obdachlosen, die ums tägliche Überleben kämpfen. Sein Körper ist ausgemergelt, nicht nur von Kälte und Hunger, sondern auch durch den Alkohol. Er sieht viel älter aus, als er ist. Schon oft hat er sich vorgenommen, mit dem Trinken aufzuhören. Aber wenn ihn die Erinnerungen an die Vergangenheit überfallen, dann greift er zur Flasche.

Die Kirchturmuhr schlägt elf. Und wie fast jeden Tag kommt Hanna, die Sozialarbeiterin der Kirche, vorbei und bringt ihm etwas zu essen. Bis jetzt hat sich Karl immer geweigert, zum Essen ins Pfarrhaus zu kommen.

"Karl, wie geht es Dir?"
"Nicht gut. So schlimm wie heute war es noch nie. Am Morgen sah ich beim Hotel zum Rebstock ein Kind über den Fussgängerstreifen laufen. Ein Auto konnte gerade noch stoppen. Da hat es mich gepackt. Wie in einem Film sind die Bilder abgelaufen. Ich konnte nichts dagegen tun."
"Möchtest Du mir einmal erzählen, was das für Bilder sind?", fragt Hanna.
Karl ist froh, einmal darüber sprechen zu können.
"Es ist immer das Gleiche. Ich fahre im Lieferwagen der Gärtnerei Luginbühl. Das Handy klingelt. Es ist mein Chef. Dadurch bin ich abgelenkt. Dann höre ich den Aufprall eines Körpers und sehe den kleinen Buben auf der Strasse liegen. Wie in Zeitlupe laufe ich zu ihm hin und streiche ihm übers Haar. Er öffnet kurz die Augen, schaut mich gross an und flüstert: Papa, sonst nichts. Auf dem Weg ins Krankenhaus ist er gestorben.
Hanna, ich halte diese Bilder nicht mehr aus!"
Plötzlich bricht alles aus seinem Innern heraus. Karl heult. Es schüttelt ihn, als wäre ein Erdbeben über seinen Körper gekommen.
Hanna setzt sich zu ihm auf die Kirchentreppe, legt den Arm um ihn und wie zu einem Kind sagt sie immer wieder: "Alles wird gut, alles wird gut."

Karl wurde damals zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt. Nach der Urteilsverkündigung kam sein Chef auf ihn zu und meinte:
"Es wird schon wieder; aber die Stelle kann ich für dich nicht freihalten."
Und die Eltern des getöteten Kindes schleuderten ihm das Wort "Mörder" ins Gesicht.
Seine Schuldgefühle und seinen Schmerz versucht Karl mit Alkohol zu verdrängen. Dadurch fand er nach Verbüssen der Gefängnisstrafe keine Stelle mehr und ist schliesslich auf der Strasse und auf der Kirchentreppe von St. Jakob gelandet.
Für die Leute gehört Karl zur Kirchentreppe wie eine Statue. Und so behandeln sie ihn auch. Die meisten beachten ihn kaum und jene, die ihn wahrnehmen, fragen sich, wie lange er wohl noch durchhält.

Bevor sich Karl abends zu seinem Nachtquartier aufmacht, schleicht er in die leere Kirche, um sich aufzuwärmen. Mit der Zeit hat er dort einen Platz gefunden, wo er für einige Augenblicke so etwas wie Frieden empfindet. Es ist die Bank in der ersten Reihe, direkt vor dem Kreuz an dem Jesus hängt. Dort sitzt er schweigend und bewegungslos, bevor er wieder aufsteht und zum Hauptportal schlurft und im Dunkel der Nacht verschwindet. Wohin, weiss keiner.
Hanna hat ihn einmal gefragt:
"Karl, ich sehe, dass du jeden Abend in die Kirche gehst. Was machst du dort? Betest du?"
"Ich bete nicht", antwortet Karl. "Ich gehe zum Kreuz, dort, wo Jesus ist und sage ihm: Jesus, ich bin's, Karl. Ich komme dich besuchen. Und dann schaue ich ihn einfach an und habe das Gefühl, dass ich dabei ruhiger werde."

An einem Morgen bleibt der Platz auf der Kirchentreppe leer; auch am nächsten und übernächsten Tag. Hanna klappert alle Plätze ab, wo sich Karl ab und zu aufhält.
"Habt ihr den Mann auf dem Foto gesehen?", fragt sie die Leute. Sie schütteln den Kopf. Erst in der Marktgasse trifft sie endlich jemand, der ihn gesehen hat.
"Er lag dort am Boden und ein Krankenwagen hat ihn abgeholt."
Hanna erschrickt.
"War er verletzt?"
"Das kann ich nicht sagen. Ich stand auf der anderen Strassenseite."

Hanna hastet ins Krankenhaus. Karl liegt in einem Einzelzimmer und ist an viele Schläuche angeschlossen.
"Karl, was machst du nur für Sachen!"
Sie bekommt keine Antwort. Karl ist bewusstlos.

"Sind Sie eine Angehörige?"
Die Stimme des Arztes schreckt Hanna aus ihren Gedanken auf.
"Nein, aber ich werde mich um ihn kümmern."
"Da gibt es nicht mehr viel zu tun. Er liegt im Sterben."
Hanna setzt sich neben Karl, nimmt seine Hand und betet Verse aus einem Psalm:
"Der Herr ist mein Hirte. Nichts wird mir fehlen. Er gibt mir neue Kraft. Er leitet mich auf sicheren Wegen. Und geht es auch durch dunkle Täler, fürchte ich mich nicht, denn du, Herr, bist bei mir. Du beschützt mich mit deinem Hirtenstab. Deine Güte und Liebe werden mich begleiten mein Leben lang: in deinem Haus darf ich für immer bleiben."
Dann geht sie traurig zurück ins Pfarrhaus.

Am nächsten Morgen kommt sie schon früh ins Krankenhaus und ist darauf gefasst, die Nachricht von Karls Tod zu bekommen. Aber nein, was ist das denn? Sie traut ihren Augen nicht. Karl sitzt aufrecht und frisch rasiert in seinem Bett. Mit wachem Blick schaut er Hanna an. Sie kann es nicht glauben. Ist das wirklich der Mann, der noch gestern mit dem Tod kämpfte?
"Karl, das ist ja unglaublich. Was ist nur mit dir passiert?"
"Na ja, eigentlich weiss ich es auch nicht so genau. Ich wurde zu einem grossen Licht hingezogen und eine Stimme sagte: Karl, ich bin's, Jesus, ich komme dich besuchen."
Als Karl das sagt, nimmt sein Gesicht einen verträumten, abwesenden Ausdruck an, als ob er gerade eine besonders schöne Erinnerung durchleben würde.
"Und dann hat er noch gesagt, Tim gehe es gut."
Der gequälte Ausdruck auf Karls Gesicht ist verschwunden.

Seit jenem Tag ist Karl trocken und gehört zu den Anonymen Alkoholikern. In einer Wohngemeinschaft hat er ein Zimmer gefunden und Hanna hat ihm eine Stelle als Gärtner besorgt. Er ist innerlich zur Ruhe gekommen.
Aber eines ist geblieben: Wenn es dunkel wird, dann geht er in die Kirche, setzt sich vor das Kreuz und sagt: "Jesus, ich bin's, Karl. Ich komme dich besuchen."

 

Hallo Marai!


Zu Beginn, die Geschichte gefällt mir sehr gut. Leider kommt das Ende sehr schnell und plötzlich. Da hätte ich mir noch etwas mehr gewünscht.
Du musst die Zeichensetzung nochmal überprüfen. Du hast mehrmals die Anführungszeichen vor und/oder nach der wörtlichen Rede.
Du kannst Karl ruhig ein wenig beschreiben, damit man sich ihn besser vorstellen kann. Hauche ihm etwas Leben ein. Das Gleiche gilt auch für Hanna. Gerade Hanna wirkt sehr plastisch und fast schon "leblos". Geb beiden einfach einen "Körper" und bleib nicht nur bei den Gefühlen und Handlungen.

Was mich irgendwie irritiert ist, dass sich jemand um einen Obdachtlosen kümmert und den Notarzt ruft. Zu Beginn der Geschichte heißt es noch, dass ihn kaum jemand beachtet. Das passt nicht so recht zusammen - mMn.


Sonst bin ich sehr zufrieden und glücklich über die Geschichte.


Einen schönen Sonntag noch!


Betze

 
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Hallo Betze,

Es freut mich, dass Dir die Geschichte gefällt.
Ja, die Zeichensetzung! Friedel hat mich diesbezüglich auch schon in die Lehre genommen; aber irgendwie klappt's immer noch nicht ganz. Ich werde es überprüfen. Danke für die Korrektur.

Ich muss darüber nachdenken, wie ich Karl und Hanna besser beschreiben kann. Auch da hast Du recht.

Für Dich ist es irritierend, dass sich jemand um einen Obdachlosen kümmert.
Da gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass es in unserer Gesellschaft, wo wir oft am Hilflosen vorübergehen, doch noch Menschen gibt, denen Nächstenliebe etwas bedeutet.

Lieber Betze, ich wünsche Dir alles Gute.
Marai

 

Hallo Marai

Danke für deine ergreifende KG.

Ich habe sie sehr gerne gelesen. Zum Einen macht sie traurig. Zum Anderen gibt sie Hoffnung. Karl konnte mit dem was geschehen war nicht klarkommen und musste alles im Alkohol ertränken. Das gibt es oft in unserer Gesellschaft.

Auch die Sozialarbeiterin Hanna, versuchte ihm zu helfen. Doch die Schuld lastete zu sehr auf ihm.

Das Ende der Geschichte fand ich sehr ergreifend. Auch ich glaube daran, dass es in der heutigen kalten Gesellschaft, Menschen mit viel Herz gibt. Die das Elend sehen und nicht wegschauen, sondern Hilfe leisten. Und zuletzt sein starker Glaube, der ihm die Stärke gab, neu anzufangen.

Ich wünsche dir einen schönen Sonntag.

Liebe Grüsse

rote Rose

 

Liebe rote Rose,

Als ich Deinen Namen las, musste ich an unser Rosenbeet im Garten denken. Unter den verschiedenen Sorten gibt es eine Duftrose. Deine warmen Worte gleichen ihr. Herzlichen Dank.

Du schreibst: " Und zuletzt sein starker Glaube, der ihm die Stärke gab, neu anzufangen."

Dass Karl jeden Abend vor dem Kreuz sass an dem Jesus hing, lässt erahnen, dass in ihm eine grosse Sehnsucht nach Frieden und Vergebung da war. Als ihm Jesus dann in seiner Nahtoderfahrung als der auferstandene Christus begegnete, wurde diese Sehnsucht gestillt. Er kam innerlich zur Ruhe und konnte neu anfangen.

Liebe rote Rose, nochmals vielen Dank.
Alles Gute wünscht Dir
Marai

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo flammbert,

Besten Dank für Deinen Kommentar.
Du schreibst: "huiuiui, das geht aber schnell, der hat ja scheinbar nur darauf gewartet, jemandem davon erzählen zu können."

Findest Du tatsächlich, dass man dem "schnell" sagen kann, wenn einer seit Monaten und noch länger täglich auf der Kirchentreppe sitzt?
Das Erlebnis mit dem Kind am Fussgängerstreifen und dem Auto, das gerade noch stoppen konnte, weckt mit Macht die Erinnerung.
Als Hanna ihn nach seinem Ergehen fragt, spürt Karl, dass es kein oberflächliches Fragen ist. Und das hilft ihm, dass er seine Not mitteilen kann.
Vermutlich muss ich das noch deutlicher ausdrücken.

Die Gerichtssache hingegen möchte ich nicht ausbauen, da sie nur eine kleine Rückblende sein sollte.
Was den Schluss der Geschichte betrifft, da hast du recht. Das geht zu schnell.

Eine gute Woche wünscht Dir
Marai

 

Hallo Marai

Die Geschichte eröffnet mit einer Szene, in der ich den armen Mann mir bildlich abrufen kann, wie er da vegetiert. Es erweckt mir Mitgefühl, da ich meist ein mehr oder weniger tragisches Schicksal hinter einem solchen Dasein vermute. Von daher ist es Dir gelungen, bei mir gleich zu Beginn verschärft Empfindungen zu wecken, ein Vorgang, welchen ich nicht bei jeder Geschichte erlebte.

Schon oft hat er sich vorgenommen, mit dem Trinken aufzuhören.

Ich habe keine Erfahrung mit Alkoholikern, doch wirkt es mir bei seiner desolaten Lebenssituation höchst unwahrscheinlich, dass ihm solche Gedanken aufkommen. Er zeigt sonst keinerlei Anzeichen, dass er Widerstand aufbringt, eine Wendung herbeiführen will. Da erlaubt ihm Alkohol zumindest ein wenig Betäubung, ein Schnaps bei der Kälte gar inneres Aufwärmen vortäuschend. Vielleicht reift ihm zuweilen die Erkenntnis, dass er sich mehr schadet als nutzt?


Hanna, ich halte diese Bilder nicht mehr aus!"

Sehr schön, wie dieses Moment sich spürbar auf mich als Leser überträgt, ein emotionaler Ausbruch, ein Aufschrei, der in seiner schlichten Formulierung genau die richtig dosierte Intensität entwickelt.


"Alles wird gut, alles wird gut."

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Hanna diese Worte wählte. Menschen versagen manchmal in Situationen, die sie überfordern, und greifen zu Floskeln. Doch von einer Sozialarbeiterin erwarte ich Professionalität, die sich sprachlich reflexiv dem Geschehen angepasst einstellt. Hier ärgert es mich, da sie Karl zwar trösten will, zugleich aber den Eindruck erweckt, dass sie ihn gar nicht ernst nimmt. Ein paar Worte des Verständnisses, die nicht mit Worthülsen von unerfüllbaren Versprechungen besetzt sind, würden mir das Bild, welches ich mir von ihr machte, ansprechend runden.


Für die Leute gehört Karl zur Kirchentreppe wie eine Statue.

Für mich ein wunderbarer Satz! Auf den ersten Blick zeigt es mir etwas Künstlerisches, bei genauem Hinsehen wandelt es sich ins Künstliche, ein Fremdkörper, der da eigentlich nicht hingehört. Er belegt sowohl die Tragik des gestrandeten Menschen, als auch wirkt er wie ein Lichtblick, eine Statue, die symbolisch zeigen will, hier darf der Mensch sich sein, ohne verjagt zu werden.

"Ich bete nicht", antwortet Karl. "Ich gehe zum Kreuz, dort wo Jesus ist und sage ihm: Jesus, ich bin's, Karl. Ich komme dich besuchen. Und dann schaue ich ihn einfach an und habe das Gefühl, dass ich dabei ruhiger werde."

Obwohl das Religiöse durch und durch wirkt, lässt es dem Protagonisten seine sich schützende Distanz zum Kultischen, gibt ihm den Freiraum eigener meditativer Betrachtung und gewährt ihm so autosuggestive Ruhefindung. Eine wirklich gelungene Szene.
Ich erinnere mich, bei einem Deiner ersten Stücke assoziierte ich den damals vorgelegten Text mit einem Traktätchen. Dies hier ist nun ein Quantensprung, da sich das religiöse Momentum literarisch entfaltet und nicht mit dem unterschwelligen Anspruch einhergeht, Andersdenkende umzustimmen. Vielmehr erlaubt es diesen an dieser literarischen Handlung teilzuhaben, Standpunkte herauszuhören, ohne ein unbehagliches Gefühl von ideologischer Beeinflussung.


Auch der Schlussakt setzt sich mir stimmig fort, die Wandlung vollzieht sich.
Eigentlich hatte der Titel mich skeptisch gestimmt, da der Begriff Nahtoderfahrung oft der Wirklichkeit entfremdet für Überzeichnungen sorgte.


"Na ja, eigentlich weiss ich es auch nicht so genau. Ich wurde zu einem grossen Licht hingezogen und eine Stimme sagte: Karl, ich bin's, Jesus, ich komme dich besuchen."

An den hier vorliegenden Ausführungen dazu, eine sinnbesetzte Reflexion, wirkt es glaubwürdig.


Ich gratuliere Dir, es war mir die ansprechendste Geschichte, welche ich von Dir gelesen habe. Hier hat sich das Feingefühl für den Menschen mit dem Suchen nach literarischer Einbindung sehr schön verschmolzen, es zu einem Erlebnis geführt.


Soweit aus meiner Perspektive.


Schöne Grüsse


Anakreon

 
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Hallo Anakreon,

02:47, das ist spät in der Nacht. Ich hoffe nur, dass die Schmerzen erträglich waren.

Dass Du Dir trotzdem die Mühe gemacht hast, die Geschichte von Karl zu lesen und zu kommentieren, freut mich ganz besonders. Auch dass sie sogar Empfindungen zu wecken vermochte.

Dass man von einer Sozialarbeiterin Professionalität erwarten kann, stimmt. Die Frage ist nur, was versteht man unter professionell in einer solchen Situation? Karl ist zutiefst verzweifelt. Es schüttelt ihn vor Weinen. Welche Worte könnten ihn da trösten?
Ich kann mir vorstellen, dass sich bei Hanna mütterliche Gefühle regten und sie wie zu einem Kind, das sich weh getan hat, sagt: "Alles wird gut, alles wird gut."
Und es wurde ja dann später alles gut.

Du schreibst unter anderem: "Dies hier ist nun ein Quantensprung, da sich das religiöse Momentum literarisch entfaltet und nicht mit dem unterschwelligen Anspruch einhergeht, Andersdenkende umzustimmen."
Wenn Du das so empfindest und mir das so gelungen ist, freut es mich.

Lieber Anakreon, ganz herzlichen Dank für Deine Worte.
Marai

 
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Der „gute Glaube“ dient als eine Schutzfunktion für den „Gutgläubigen“ im Erwerb oder im Bestand eines Rechts (wobei Nichtwissen keineswegs vor Strafe schützt) und im philosophischen Sinne ist „glauben/Glaube“ ein Nichtwissen und doch Fürwahrhalten unbewiesener Sachverhalte (selbst die Naturwissenschaften leben unter dem Fallbeil der Falsifikation, obwohl ihre Gläubigen selten etwas von diesem Beil ahnen) – die engl. Sprache, aber, trennt da zwischen „belief“ und „faith“, wobei die Bedeutung dieses faith nicht nur der westgermanistischen Zunge (ahd. gilouben/mhd. gelouben), sondern auch der ostgermanistischen Zunge „galaubjan“ = glauben, (an)vertrauen entspricht, wie das Kleinkind sich seiner Mutter oder Amme anvertraut (man beachte den natürlichen, zwoschneidigen Zwang zur Mutterliebe), wie Freunde sich einander anvertrauen (und in der Folge auf den andern verlassen können – wobei das Verb „verlassen“ schon ein gewisses Risiko birgt, wenn man von aller Welt verlassen auf einmal dasteht, wie sich Karl [= Kerl, der hier freilich zunächst ein "gebrochener" Kerl ist] wohl zunächst vorkommen muss, bis er zwo andere Erfahrungen erlebt in der Fürsorge [Hanna = er ist gnädig]) und im Glauben. Aber all Deine Geschichten,

liebe Marai,

handeln von diesem Urvertrauen, wenn man sich auf etwas verlässt, über das man nicht verfügen kann (selbst wenn man durch Opfer versucht, Gott zu bestechen und ihn somit in allzu irdisches Denken in Hierarchien mit rechter und linker Hand zu zwingen). Und horchen wir auf die alten Formen gi-/gelouben so hören wir gleich ein anderes Partizip mitschwingen! „Geloben“, das überall mitschwingt, wo und unter welchen Bedingungen auch immer wir uns einem andern anvertrauen. So sind Deine Geschichten – wie diese hier auch – ein Loblied auf jenes höhere Wesen, über das wir nicht verfügen, an das selbst jene glauben, die es nie zugeben werden bis zu dem Augenblick, da ihr Muffensausen sie dazu bringt.

Trivialeres (darf man so was überhaupt nach solch einer Einleitung? Man muss es sogar ansprechen, wenn es sonst keiner tut.)

Er sieht viel älter aus[,] als er ist.
(die vergl. Konjunktion „als“ leitet einen vollständigen Satz ein)

Bevor sich Karl abends zu seinem Nachtquartier aufmacht, schleicht er in die leere
Kirche[,]um sich aufzuwärmen.
(Eine der Fußfallen, die vor der Infinitivgruppe ein Komma erzwingt, ist das unscheinbare „um“)

"Ich gehe zum Kreuz, dort wo Jesus ist und sage ihm: …
(die Bekräftigung „dort, wo ...“ sollte durch Kommasetzung hervorgehoben werden)

"Karl, was machst du nur für Sachen."
(klingt das nicht nach einer Frage? Oder gar nach einem verwunderten Ausruf!)

Karl liegt in einem Einerzimmer
Unterm Vorbehalt, dass es ein landschaftlich (alemannischer?) Ausdruck sei, "Einzelzimmer"
Und letztlich, sind wir erfahreneren Leutchen nicht diejenigen, welche die Höflichkeitsform bewahren

"Sind ie eine Angehörige?"

Gern gelesen vom

Friedel

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Friedel,

Dass fast all meine Geschichten von diesem Urvertrauen handeln, stimmt. Aber Friedel, Du kennst mich. Immer war es nicht so in meinem Leben.
Ob hingegen meine Geschichten ein Loblied auf Gott sind, über den wir nicht verfügen können, weiss ich nicht. Schön wär's.

Dass der Name Hanna "Er ist gnädig" bedeutet, wusste ich nicht. Ich finde, er passt gut in diese Geschichte.

"Trivialeres, darf man so was überhaupt nach solch einer Einleitung?"
Unbedingt. Alles gehört zusammen!

Lieber Friedel, ich danke Dir für die Korrektur. Ob es mir noch einmal gelingt, einen Text ohne Kommafehler zu schreiben?

Herzlichen Dank für alles.
Marai

 

Hallo Marai

im Grunde ein guter Text, Hat so was Hoffnungsvolles. Wenn doch die Wirklichkeit so wäre...
Insofern gefiele es mir besser, wenn es ein Märchen wäre und du ein paar mystische Elemente unterbringen würdest. Den Karl kann ich mir gut vorstellen, sind so Figuren, die man mit ihrem Schicksal übersieht und einfach dran vorbeigeht. Du machst ihn sichtbar. Ich glaube, du bist ein Mensch mit einer guten Seele (darf man das sagen oder sollte ich lieber sagen: das poetische Ich?)
Wie gesagt; die Geschichte berührt mich.

Jetzt kommen noch ein paar Abers :)
Ist viel Tell und nur am Ende Show. Würdest du alles auf die Schluss-Szene reduizieren (Krankenhaus und so), dann gefiele es mir weitaus besser.

Ich schau mal in den Text:

Karl sitzt auf der Kirchentreppe von St. Jakob und hofft, dass ihm Vorübergehende einige Münzen in seinen Hut werfen.
show, fängt gut an
Der Fünfzigjährige gehört zur Schar der Obdachlosen, die ums tägliche Überleben kämpfen. Sein Körper ist ausgemergelt, nicht nur von Kälte und Hunger, sondern auch durch den Alkohol. Er sieht viel älter aus, als er ist. Schon oft hat er sich vorgenommen, mit dem Trinken aufzuhören. Aber wenn ihn die Erinnerungen an die Vergangenheit überfallen, dann greift er zur Flasche.
dann folgt ne menge tell, das ließe sich eleganter machen. geh doch in seine erinnerungen, lass ihn denken... so ein wechsel zwischen außensicht und innensicht...

"Karl, wie geht es Dir?"
"Nicht gut. So schlimm wie heute war es noch nie. Am Morgen sah ich beim Hotel zum Rebstock ein Kind über den Fussgängerstreifen laufen. Ein Auto konnte gerade noch stoppen. Da hat es mich gepackt. Wie in einem Film sind die Bilder abgelaufen. Ich konnte nichts dagegen tun."
"Möchtest Du mir einmal erzählen, was das für Bilder sind?", fragt Hanna.
wirkt unnatürlich der Dialog, karl sagt zu viel auf einmal, rede und gegenrede fände ich besser...

Karl wurde damals zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt. Nach der Urteilsverkündigung kam sein Chef auf ihn zu und meinte:
"Es wird schon wieder; aber die Stelle kann ich für dich nicht freihalten."
Und die Eltern des getöteten Kindes schleuderten ihm das Wort "Mörder" ins Gesicht.
Seine Schuldgefühle und seinen Schmerz versucht Karl mit Alkohol zu verdrängen. Dadurch fand er nach Verbüssen der Gefängnisstrafe keine Stelle mehr und ist schliesslich auf der Strasse und auf der Kirchentreppe von St. Jakob gelandet.
hier wieder zu viel tell...

Als Karl das sagt, nimmt sein Gesicht einen verträumten, abwesenden Ausdruck an, als ob er gerade eine besonders schöne Erinnerung durchleben würde.
kürzer wäre wirksamer...

Aber eines ist geblieben: Wenn es dunkel wird, dann geht er in die Kirche, setzt sich vor das Kreuz und sagt: "Jesus, ich bin's, Karl. Ich komme dich besuchen."
etwas pathetisch, aber wirklich rührend ....

und zum Schluss noch was zum Titel. Nahtoderfahrung, da bin ich sofort auf etwas programmiert, klingt so kalt: "Ich bin's, der Karl." würde mir als Titel gefallen

liebe Grüße
Isegrims

 

Hallo Isegrims,

Du schreibst: "Ja, wenn doch die Wirklichkeit so wäre."
Dazu kann ich sagen, es gibt tatsächlich solche Erfahrungen, die das Leben von Menschen derart verändert.

Ich danke Dir fürs Lesen und den Kommentar. Dass Dich die Geschichte berührt, freut mich.
Dein Vorschlag, die Geschichte auf die Krankenhausszene zu beschränken, wäre eine Möglichkeit; aber dann gäbe es eine ganz andere Geschichte. Und was den Titel betrifft, so hiess die Geschichte am Anfang tatsächlich "Ich bin's, Karl", aber dann habe ich mich doch für Nahtoderfahrung entschieden.

Nochmals vielen Dank.
Alles Gute wünscht Dir
Marai

 

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