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Nahtoderfahrung
Nahtoderfahrung
Karl sitzt auf der Kirchentreppe von St. Jakob und hofft, dass ihm Vorübergehende einige Münzen in seinen Hut werfen. Der Fünfzigjährige gehört zur Schar der Obdachlosen, die ums tägliche Überleben kämpfen. Sein Körper ist ausgemergelt, nicht nur von Kälte und Hunger, sondern auch durch den Alkohol. Er sieht viel älter aus, als er ist. Schon oft hat er sich vorgenommen, mit dem Trinken aufzuhören. Aber wenn ihn die Erinnerungen an die Vergangenheit überfallen, dann greift er zur Flasche.
Die Kirchturmuhr schlägt elf. Und wie fast jeden Tag kommt Hanna, die Sozialarbeiterin der Kirche, vorbei und bringt ihm etwas zu essen. Bis jetzt hat sich Karl immer geweigert, zum Essen ins Pfarrhaus zu kommen.
"Karl, wie geht es Dir?"
"Nicht gut. So schlimm wie heute war es noch nie. Am Morgen sah ich beim Hotel zum Rebstock ein Kind über den Fussgängerstreifen laufen. Ein Auto konnte gerade noch stoppen. Da hat es mich gepackt. Wie in einem Film sind die Bilder abgelaufen. Ich konnte nichts dagegen tun."
"Möchtest Du mir einmal erzählen, was das für Bilder sind?", fragt Hanna.
Karl ist froh, einmal darüber sprechen zu können.
"Es ist immer das Gleiche. Ich fahre im Lieferwagen der Gärtnerei Luginbühl. Das Handy klingelt. Es ist mein Chef. Dadurch bin ich abgelenkt. Dann höre ich den Aufprall eines Körpers und sehe den kleinen Buben auf der Strasse liegen. Wie in Zeitlupe laufe ich zu ihm hin und streiche ihm übers Haar. Er öffnet kurz die Augen, schaut mich gross an und flüstert: Papa, sonst nichts. Auf dem Weg ins Krankenhaus ist er gestorben.
Hanna, ich halte diese Bilder nicht mehr aus!"
Plötzlich bricht alles aus seinem Innern heraus. Karl heult. Es schüttelt ihn, als wäre ein Erdbeben über seinen Körper gekommen.
Hanna setzt sich zu ihm auf die Kirchentreppe, legt den Arm um ihn und wie zu einem Kind sagt sie immer wieder: "Alles wird gut, alles wird gut."
Karl wurde damals zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten verurteilt. Nach der Urteilsverkündigung kam sein Chef auf ihn zu und meinte:
"Es wird schon wieder; aber die Stelle kann ich für dich nicht freihalten."
Und die Eltern des getöteten Kindes schleuderten ihm das Wort "Mörder" ins Gesicht.
Seine Schuldgefühle und seinen Schmerz versucht Karl mit Alkohol zu verdrängen. Dadurch fand er nach Verbüssen der Gefängnisstrafe keine Stelle mehr und ist schliesslich auf der Strasse und auf der Kirchentreppe von St. Jakob gelandet.
Für die Leute gehört Karl zur Kirchentreppe wie eine Statue. Und so behandeln sie ihn auch. Die meisten beachten ihn kaum und jene, die ihn wahrnehmen, fragen sich, wie lange er wohl noch durchhält.
Bevor sich Karl abends zu seinem Nachtquartier aufmacht, schleicht er in die leere Kirche, um sich aufzuwärmen. Mit der Zeit hat er dort einen Platz gefunden, wo er für einige Augenblicke so etwas wie Frieden empfindet. Es ist die Bank in der ersten Reihe, direkt vor dem Kreuz an dem Jesus hängt. Dort sitzt er schweigend und bewegungslos, bevor er wieder aufsteht und zum Hauptportal schlurft und im Dunkel der Nacht verschwindet. Wohin, weiss keiner.
Hanna hat ihn einmal gefragt:
"Karl, ich sehe, dass du jeden Abend in die Kirche gehst. Was machst du dort? Betest du?"
"Ich bete nicht", antwortet Karl. "Ich gehe zum Kreuz, dort, wo Jesus ist und sage ihm: Jesus, ich bin's, Karl. Ich komme dich besuchen. Und dann schaue ich ihn einfach an und habe das Gefühl, dass ich dabei ruhiger werde."
An einem Morgen bleibt der Platz auf der Kirchentreppe leer; auch am nächsten und übernächsten Tag. Hanna klappert alle Plätze ab, wo sich Karl ab und zu aufhält.
"Habt ihr den Mann auf dem Foto gesehen?", fragt sie die Leute. Sie schütteln den Kopf. Erst in der Marktgasse trifft sie endlich jemand, der ihn gesehen hat.
"Er lag dort am Boden und ein Krankenwagen hat ihn abgeholt."
Hanna erschrickt.
"War er verletzt?"
"Das kann ich nicht sagen. Ich stand auf der anderen Strassenseite."
Hanna hastet ins Krankenhaus. Karl liegt in einem Einzelzimmer und ist an viele Schläuche angeschlossen.
"Karl, was machst du nur für Sachen!"
Sie bekommt keine Antwort. Karl ist bewusstlos.
"Sind Sie eine Angehörige?"
Die Stimme des Arztes schreckt Hanna aus ihren Gedanken auf.
"Nein, aber ich werde mich um ihn kümmern."
"Da gibt es nicht mehr viel zu tun. Er liegt im Sterben."
Hanna setzt sich neben Karl, nimmt seine Hand und betet Verse aus einem Psalm:
"Der Herr ist mein Hirte. Nichts wird mir fehlen. Er gibt mir neue Kraft. Er leitet mich auf sicheren Wegen. Und geht es auch durch dunkle Täler, fürchte ich mich nicht, denn du, Herr, bist bei mir. Du beschützt mich mit deinem Hirtenstab. Deine Güte und Liebe werden mich begleiten mein Leben lang: in deinem Haus darf ich für immer bleiben."
Dann geht sie traurig zurück ins Pfarrhaus.
Am nächsten Morgen kommt sie schon früh ins Krankenhaus und ist darauf gefasst, die Nachricht von Karls Tod zu bekommen. Aber nein, was ist das denn? Sie traut ihren Augen nicht. Karl sitzt aufrecht und frisch rasiert in seinem Bett. Mit wachem Blick schaut er Hanna an. Sie kann es nicht glauben. Ist das wirklich der Mann, der noch gestern mit dem Tod kämpfte?
"Karl, das ist ja unglaublich. Was ist nur mit dir passiert?"
"Na ja, eigentlich weiss ich es auch nicht so genau. Ich wurde zu einem grossen Licht hingezogen und eine Stimme sagte: Karl, ich bin's, Jesus, ich komme dich besuchen."
Als Karl das sagt, nimmt sein Gesicht einen verträumten, abwesenden Ausdruck an, als ob er gerade eine besonders schöne Erinnerung durchleben würde.
"Und dann hat er noch gesagt, Tim gehe es gut."
Der gequälte Ausdruck auf Karls Gesicht ist verschwunden.
Seit jenem Tag ist Karl trocken und gehört zu den Anonymen Alkoholikern. In einer Wohngemeinschaft hat er ein Zimmer gefunden und Hanna hat ihm eine Stelle als Gärtner besorgt. Er ist innerlich zur Ruhe gekommen.
Aber eines ist geblieben: Wenn es dunkel wird, dann geht er in die Kirche, setzt sich vor das Kreuz und sagt: "Jesus, ich bin's, Karl. Ich komme dich besuchen."