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Nahtod-Erfahrungen

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14.10.2001
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Nahtod-Erfahrungen

Nahtod-Erfahrungen

„Waren Sie schon einmal tot?“
Klaus stockte. Er hatte bei seiner Tätigkeit als Telefonseelsorger schon viel gehört, aber eine so merkwürdige Frage war ihm bisher noch nie gestellt worden.
„Nein“, antwortete er und wartete.
„Kennen Sie jemanden, der schon einmal tot war?“
„Sie meinen, der klinisch tot war und wiederbelebt wurde?“
„Ja. Kennen Sie so jemanden?“
„Nein. Ich habe aber davon gehört.“
„Was haben Sie gehört?“
„Genauer gesagt, ich habe darüber gelesen.“
„Was haben Sie denn gelesen?“ Die Stimme der Anruferin klang leicht gereizt. In Klaus stieg Beklommenheit auf. Er würde sich in diesem Gespräch wieder einmal in gefährliche Randzonen vorwagen müssen.
„Ich habe in einem Buch gelesen, dass viele Nahtoderfahrungen Gemeinsamkeiten aufweisen“, sagte er vorsichtig, „zum Beispiel, dass Sterbende ein lautes Tönen hören, ein helles Licht sehen, ein überwältigendes Glücksgefühl empfinden...“
„Und dass sie verstorbenen Angehörigen begegnen?“, warf die Stimme ein.
Jetzt hatte Klaus zumindest einen Anhaltspunkt, worum es der Anruferin ging.
„Auch darüber gibt es Berichte“, sagte er.
Die Stimme schwieg.
„Sie möchten wissen, ob Sie im Jenseits Ihre Angehörigen wiedersehen werden?“
Klaus hörte ein Geräusch, das wie unterdrücktes Schluchzen klang. Hoffentlich legte die Frau nicht gleich auf!
„Haben Sie einen nahen Angehörigen verloren?“, fragte er.
„Ja!“
Wie viel Verzweiflung in einem einzigen Wort liegen konnte!
„Einen sehr nahen Angehörigen?“
„Meine Tochter.“ Jetzt weinte die Frau heftig, so dass sie zunächst nicht weitersprechen konnte. Hoffentlich legte sie nicht auf!
„Ich weiß, ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann“, sagte Klaus.
„Meine Tochter war erst vierzehn.“
„War sie krank?“
„Sie hat sich das Leben genommen. Von einer Brücke ist sie ins Wasser gesprungen. Ihre Schuhe standen nebeneinander auf dem Brückengeländer. Warum hat sie das bloß getan? Ihre Schuhe vorher ausgezogen, meine ich, und so ordentlich hingestellt?“
„Ihre Tochter muss außer sich gewesen sein.“
„Sie war so verzweifelt! Dabei war sie vorher ein ganz normales Mädchen.“
„Ist ihr etwas Schlimmes zugestoßen?“
„In der Schule. Alle haben sie meine Tochter fertig gemacht. Sie wurde verhöhnt und beschimpft, und einmal sogar so verprügelt, dass sie überall blaue Flecken hatte. Sie hat sich zum Schluss kaum noch aus dem Haus getraut.“
„Hat ihr denn niemand geholfen?“
„Niemand. Das müssen Sie sich mal vorstellen: sogar ihre beste Freundin hat mitgemacht! Auch der Direktor hat nicht eingegriffen. Der hatte sogar den Verdacht, meine Tochter würde die anderen Kinder provozieren. Aber ich glaube, er wollte nur mit der ganzen Sache nichts zu tun haben. Und der Klassenlehrer hat einfach behauptet, sie wäre zu empfindlich, würde immer alles auf sich beziehen und dann überreagieren.“
„Sicher hat Ihre Tochter gedacht, sie hätte selbst Schuld an ihrem Unglück.“
„Sie war ein ganz liebes, nettes Mädchen, glauben Sie mir! Ich kann das alles immer noch nicht begreifen.“
„Das ist wirklich schlimm. Mobbing ist heutzutage leider ein weit verbreitetes Phänomen. Ich habe schon viele solcher schrecklichen Leidensgeschichten gehört.“
„Aber meine Tochter hat sich umgebracht! Sie ist tot! Verstehen Sie das?“ In den Schmerz, der in der Stimme der Mutter lag, mischten sich ohnmächtiger Zorn und Verbitterung.
„Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie beide war“, sagte Klaus.
„Ich wollte ihr so gern helfen!“ Jetzt weinte die Mutter wieder. „Alles habe ich versucht, mit allen gesprochen, sie sogar an einer anderen Schule angemeldet, aber es hat nichts genützt. Sie wurde einfach nicht fertig mit dem, was sie erlebt hatte.“
„Und jetzt fühlen Sie sich schuldig an ihrem Tod.“
„Ich konnte ihr nicht helfen“, wiederholte die Mutter. „Vielleicht, wenn sie einen Vater hätte... Aber den habe ich vor einigen Jahren verlassen.“
„Hatte ihre Tochter keinen Kontakt mehr zu ihm?“
„Nein. Ich wollte das nicht. Wir haben uns im Streit getrennt. Abgesehen davon hatte mein Mann auch kein Interesse an ihr. Er ist fortgezogen und hat nie wieder etwas von sich hören lassen.
Die Verantwortung lastete schwer auf Klaus. „Waren Sie schon einmal tot?“ Diese Frage hatte er nicht vergessen. Sie überschattete das ganze Gespräch.
„Und nun haben Sie das Gefühl, Ihr Leben wäre sinnlos“, fuhr er fort.
„Mein Leben ist sinnlos. Ich bin allein.“
„Und Sie hoffen, Ihre Tochter im Jenseits wiederzusehen.“
Die Mutter antwortete nicht sofort. „Ich weiß, dass ich sie nicht wiedersehen werde“, flüsterte sie schließlich.
„Sie können nicht an Gott und an ein Leben nach dem Tod glauben?“
„Doch! Ich glaube an Gott, und ich glaube auch an ein Leben nach dem Tod.“
Klaus wartete, dass sie weitersprach.
„Sie müssen nämlich wissen“, sagte sie leise, „dass ich vor einiger Zeit Schlaftabletten genommen habe. Aber eine Nachbarin hat mich zufällig gefunden und den Rettungswagen gerufen. Sie haben mich im letzten Augenblick zurückgeholt.“
„Sie waren also schon einmal tot.“ Langsam fing Klaus an zu begreifen.
„Ja. Aber da war nichts. Ich habe nichts gehört, nichts gesehen. Da war einfach nur Dunkelheit.“
„Und nun fragen Sie sich, wie das mit Ihrem Glauben zu vereinbaren ist?“
„Ich glaube, das habe ich schon verstanden“, antwortete sie. Hoffnungslosigkeit machte ihre Stimme schwer und ihre Worte zäh.
„Es gibt sicher ein Leben nach dem Tod. Aber nicht für mich. Ich habe versagt. Meine Ehe, meine Tochter, mein Leben – alles zerbrach unter meinen Händen. Ich verdiene die ewige Seligkeit nicht. Gott will mich nicht.“
Klaus dachte kurz nach. „Aber warum sind Sie dann gerettet worden?“, fragte er.
„Weil die Nachbarin abends kam.“
„Wieso kam sie vorbei?“
„Sie wollte mir ein Paket bringen, das für mich abgegeben wurde, als ich nicht zu Hause war.
„Was befand sich in dem Paket?“
„Nichts Besonderes. Eine Kaffeemaschine, die ich gewonnen hatte. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich an einer Verlosung teilgenommen hatte. Warum fragen Sie?“
„Sie gewinnen eine Kaffeemaschine, eine Nachbarin bringt Ihnen das Paket, und Sie werden im letzten Augenblick gerettet. Glauben Sie, dass dies alles nur Zufälle sind?“
Sie antwortete nicht sofort. Hatten seine Worte sie erreicht? Oder würde sie gleich doch den Hörer auflegen?
„Dann“, begann sie zögernd, „ – dann denken Sie also, dass Gott mich nicht verstoßen hat?“
„Er hat Sie ganz bestimmt nicht verstoßen.“
„Aber warum hat er mich gerettet, und meine Tochter nicht?“
„Ich verstehe es auch nicht. Doch ich bin sicher, dass es einen Sinn hat.“
„Welchen Sinn könnte das haben?“
„Das weiß ich nicht. Vielleicht werden Sie es eines Tages herausfinden. Vielleicht aber auch nicht.“
„Möglicherweise“, sagte sie zögernd, „habe ich nur Dunkelheit erlebt, weil ich noch nicht weit genug vorgedrungen war. Oder vielleicht sollte ich vorher noch mit Ihnen sprechen.“
„Das wäre möglich.“
„Sie denken also, ich kann noch hoffen? Dass auch ich ein Leben nach dem Tod haben werde?“
„Davon bin ich überzeugt! Aber erst müssen Sie noch leben. Und wer weiß: eines Tages werden Sie vielleicht sogar wieder sagen: ‚Ich darf leben.’“
„Ich habe Angst, dass ich es nicht kann. Es ist so schwer!“
„Versuchen Sie es! Und Sie wissen ja: Sie können jederzeit wieder hier anrufen.“
„Ich danke Ihnen!“, sagte die Frau und legte auf.
Klaus erhielt keinen weiteren Anruf von ihr.
Als er ein paar Tage später die Lokalzeitung aufschlug, fiel sein Blick auf eine kurze Meldung. Die Überschrift lautete: „Frau sprang von Brücke“. Mit einem unguten Gefühl las er den kleinen Abschnitt. Passanten hatten zufällig beobachtet, wie sich eine Frau nachts von einer Brücke stürzte. Vermutlich war sie ertrunken, denn obwohl Rettungskräfte sehr schnell vor Ort waren, wurde sie immer noch vermisst.

 

Liebe Red Right Hand,
ich habe versucht, die Verzweiflung der Mutter darzustellen. Vielleicht wirkt alles auf dich ein bisschen spröde, weil es sich um ein Telefongespräch handelt? Ich wollte auch nicht zu sehr in die Vollen gehen, damit das Ganze nicht zu sehr von Gefühlen trieft und dadurch kitschig wird.
Mein Telefon-Seelsorger sollte ruhig, besonnen und zurückhaltend erscheinen - so wie meiner Meinung nach Helfer bei der Telefonseelsorge sein sollten.
Aber natürlich haben alle unterschiedliche Erwartungen, und es ist für mich immer wieder interessant zu erfahren, wie verschieden die Menschen ein und dieselbe Sache beurteilen.
Vielen Dank für deinen Kommentar!
Viele Grüße,
Eva

 

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