Nadelstiche
Die untergehende Sonne schien Roland mitten ins Gesicht. Er schloss die Augen und genoss die wohltuende Wärme. Endlich konnte er ausspannen. Der lange ersehnte Augenblick war mit dem heutigen Projektabschluss gekommen. Christine und Lorenz erging es ähnlich. Das Paar waren seine Geschäftspartner und zählten obendrein zu seinen engsten Freunden. Sie saßen auf ihrer großen Terrasse und genossen die ausnahmsweise einmal stressfreie Zeit. Die Sonne hatte längst ihren Zenit überschritten und ließ den Betrachter einen phänomenalen Sonnenuntergang erwarten. Der fein säuberlich gestutzte Rasen senkte sich vor ihnen ins unmittelbar angrenzende weitläufige Grün und gab den Blick frei auf einen atemberaubenden grünblauen Horizont. Genau das war es – die Verbundenheit mit der Natur, die man hier genießen konnte und ihresgleichen suchte –, was Lorenz und Christine hier festhielt, während ihr Haus – einmal abgesehen von der luxuriösen Inneneinrichtung – eine eher durchschnittliche Doppelhaushälfte war und nicht ihren tatsächlichen Lebensstandard widerspiegelte. Das Haus stammte eben noch aus den Zeiten, in denen sie sich durchkämpfen mussten zu Beginn ihres Abenteuers mit ihrer gemeinsamen Firma.
Lorenz und er kannten sich schon eine halbe Ewigkeit, eine gute Weile bevor Christine auf der Bildfläche auftauchte. Sie hatten zusammen studiert und bereits damals von ihrer eigenen Firma geschwärmt. Finanzielle Unabhängigkeit war damals nicht ihre Hauptmotivation, sondern vielmehr das nachpubertäre Streben, mit Geld und schicken Sportwagen die begehrenswertesten Frauen zu erobern. Während Lorenz in all diesen Aspekten konsequenter war, wartete Roland wohl zu lange auf die perfekte Gelegenheit und erntete daher auch immer den undankbaren zweiten Platz, was ihm ein vergleichsweise ruhiges Leben bescherte. Lorenz war eben der zupackende Realist, während Roland guten Gewissens als Träumer bezeichnet werden konnte. So war es auch Lorenz, der die Initiative zur Firmengründung ergriff und Roland für die ersten Projekte begeisterte. Auf ganz natürliche Weise übernahm der zum Alpha-Tier geborene Lorenz dann auch die Chefrolle in ihrer gemeinsamen Firma. Er war ebenfalls der erste, der an Christine dran war, die zwei Jahrgänge unter ihnen studierte. Von Anfang an hob sie sich erfrischend von den anderen Studentinnen ab. Sie sah nicht nur spitze aus, sondern war obendrein auch intelligent und dabei keineswegs arrogant, wie viele andere ihrer Kommilitoninnen, die weniger Talente mitbrachten. Leider hatten da Lorenz und Roland fast den gleichen Geschmack. Trotzdem kamen sie sich bei Christine nicht ins Gehege, da Roland Lorenz‘ Vorherrschaft wie selbstverständlich anerkannte. Dennoch blieb da immer eine gewisse Spannung, die auch dem eher unsensiblen Lorenz nicht entging.
Christine sah – trotz ihres Alters von knapp vierzig Jahren, wenn man das so sagen durfte – noch immer spitze aus. Ihr schlanker, gut proportionierter Körper hatte Roland schon von Beginn an angemacht. Es gab da die ein oder andere non-verbale und verbale Andeutung von beiden Seiten, die auf ein gegenseitiges Interesse schließen ließ. Und manchmal, wenn sich ihre Blicke trafen, glaubte Roland den inneren Zwiespalt in ihr zu spüren. Doch zum Glück war Christine kein wirklich emotional betonter Mensch, sondern eher jemand, der rationale Erwägungen über Gefühle stellte. Und schließlich war sie mit Lorenz verheiratet. Und schließlich war Lorenz einer der engsten Freunde Rolands. Ausschlaggebend war wohl, dass keiner – weder Christine noch er – ihre Freundschaft und nicht zuletzt ihre berufliche Zusammenarbeit gefährden wollten. Und so blieb alles beim Alten. Zumindest schien das so aus Rolands Sicht. Christine hingegen war stärker belastet von den Gefühlen, die sie sich nicht erklären konnte, als man ihr das anmerkte.
In ihrem kleinen Dreier-Team gab es eine beinahe perfekte Arbeitsteilung. Während Lorenz für die stringente Umsetzung zuständig war, kam Christine und ihm die kreative Rolle zu. Wenn es gut lief, katapultierten sie sich gegenseitig in erhitzten Diskussionen bis zum Olymp des Marketings – solange bis Lorenz sie stoppte und auf den Boden des finanziell Machbaren zurückholte. Es hatte aber auch zahlreiche Momente gegeben, in denen ihre Ansätze so weit auseinander lagen, dass ein Kompromiss nicht denkbar war, und letztendlich Lorenz entscheiden musste. In der überwiegenden Zahl der Fälle bekam dann sein Vorschlag den Zuschlag und Christine machte ein gekränktes Gesicht. Bei diesen Gelegenheiten fragte er sich, wozu beide ich ihn überhaupt brauchten, da sie im Grunde selber schon alles mitbrachten, was für eine erfolgreiche Marketing-Firma notwendig war. Aber dann besann er sich doch auf seine Tugenden und erinnerte sich nur allzu gerne an seine zahlreichen Beiträge, ohne die ihre Projekte nicht so erfolgreich gewesen wären.
Das erste Mal seit Wochen konnten sie wirklich relaxen. Es tat gut, einfach dazusitzen und nichts zu tun. So als wäre eine große Last von ihnen allen abgefallen, plauderten sie über dies und das – und natürlich über das Projekt, das nahezu ihr gesamtes Tun und Sein in den letzten sechs Monaten bestimmt hatte. Die spätnachmittägliche Sonne wärmte noch sehr wohltuend und machte den langen, arbeitsamen, kalten Winter endgültig vergessen. Es war Frühling, bereits Ende März, und für die Jahreszeit einen Tick zu warm, was sie jedoch kaum störte. Im Gegenteil: „Es gibt keinen perfekteren Augenblick“, schwärmte Roland im Hochgefühl des Erfolgs. „Ja, aber letztendlich haben wir Schwein gehabt“, entgegnete Lorenz auf ihr Projekt zurückkommend, und versuchte auf die ihm eigene Art seine Zuhörer zu erden. „Ihr erinnert Euch hoffentlich noch. Es hätte auch anders ausgehen können.“ „Ja, ja, sicher“, entgegnete Christine etwas gelangweilt. Dabei wussten alle, dass Lorenz Recht hatte. Noch vor ein paar Wochen hatte es noch ganz anders ausgesehen. Wegen diverser Schwierigkeiten und Verzögerungen wäre ihnen ihr Klient beinahe abgesprungen. Und dann wäre alles umsonst gewesen. Aber das mochten Roland und Christine nun am liebsten vergessen. Letztendlich war es ja gut ausgegangen. Das alleine war entscheidend und zählte jetzt. Das Projekt war ein voller Erfolg – für sie und ihren Klienten – und hatte am Ende sogar die ohnehin ambitionierten Erwartungen übertroffen.
Jedenfalls würde sie der heutige Abschluss (und das damit verbundene Honorar) durch die nächsten Monate tragen und ihnen die Zeit geben, die sie benötigen würden, ihren nächsten Coup in Ruhe vorzubereiten. Im Marketing-Geschäft kam viel auf Kreativität an, und Kreativität entwickelte sich eben am besten in ohne Druck. Sie ließen also die vergangenen Wochen noch einmal Revue passieren, bis es nichts mehr darüber zu sagen gab. Das Gespräch plätscherte noch eine Weile dahin. Christine kam mit frisch aufgebrühtem Kaffee zurück. Roland nippte an seiner Tasse, aber etwas fehlte noch, um aus diesem Moment einen wirklich perfekten zu machen. „Ooh, jetzt habe ich unsere Lieblingskekse vergessen“, bemerkte Christine. Ja, das war es! Zum Kaffee gehörten einfach feine Kekse. Das bedurfte keiner weiteren Diskussion.
„Ich mach‘ schon“, sagte Roland einem spontanen Impuls folgend. Wie von einer Feder getrieben schnellte er hoch, um sich in der Speisekammer eines Pakets dieses besonderen Direktimports aus Italien zu bemächtigen. Die Wohnung von Christine und Lorenz war ihm fast so vertraut wie seine eigene. Lange Tage und Nächte hatten sie hier bereits zu dritt und manchmal auch mit dem ein oder anderen weiteren Kollegen in der Vorbereitung eines ihrer Projekte verbracht.
Vor sich hin tirilierend in der Speisekammer angekommen und in Gedanken noch immer bei diesem erfolgreichen Tag, wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich und unerwartet auf ein merkwürdiges Geräusch gelenkt, das offenbar aus der benachbarten Wohnung drang und beinahe wie unterdrückte Schreie klang. Abrupt verstummte er, hielt in seiner Bewegung inne und lauschte angestrengt. Nichts. Doch dann, ja, da war es wieder. Diesmal ganz leise, kaum hörbar. Er erstarrte. Um besser lauschen zu können, legte er ein Ohr an die Wand, von wo er das merkwürdige Geräusch vermutete. Da war es wieder! Diesmal deutlicher. Schauderhaft hörte sich das an. Es klang fast wie das Quieken eines Schweines, das abgestochen wird. Ähnliche Geräusche hatte er schon einmal bei der Besichtigung eines Schlachthofs gehört. Er presste das Ohr fest an die Zwischenwand. Eine ganze Weile verstrich, bis das Geräusch wieder zu hören war. Jetzt glaubte er für einen kurzen Augenblick ganz deutlich den unterdrückten Schrei eines Kindes zu hören. Dann wieder Stille, bis schließlich – nach einer weiteren längeren Pause – ein schabendes Geräusch, wie wenn Möbel verrückt würden, zu vernehmen war. „Roland, wo bleiben die Kekse“, wollte Christine wissen. „Komme gleich“, gab er halblaut und sichtlich verstört zurück
Als er sich wieder auf die Wand neben ihm konzentrierte, war mit einem Mal ein gurgelndes Geräusch ganz dicht neben ihm zu hören. Ja, natürlich, jetzt begriff er. Der Abfluss! Das musste es gewesen sein. Jemand über ihnen hatte die Toilettenspülung betätigt. Offenbar gab es hier ein Problem mit der Schallisolierung. Ja, das musste es gewesen sein. Das musste die merkwürdigen Geräusche erklären. Und sie kamen nicht aus der angrenzenden Wohnung, sondern aus den Abflussrohren in der Wand zwischen beiden Wohnungen. „Ja, das war wesentlich logischer und einleuchtender als quiekende Schweine in der Nachbarwohnung“, belächelte er sich und seine Hysterie. Sicherheitshalber horchte er noch einmal für einige Sekunden hin. Aber da war nichts weiter. „Alles klar“, dachte Roland bei sich, war froh, in nichts Abstrusen hineingeschlittert zu sein und das Thema abhaken zu können. Er schnappte sich die heiß ersehnten Kekse und kehrte zurück auf die Terrasse. Er beschloss, den Rest des Abends in diesem so wohltuenden Hochgefühl zu schwelgen und sich einen ganzen Abend lang keine Gedanken über unangenehme Dinge zu machen.
Mit einem „na endlich“ wurde seine Rückkehr etwas spöttisch lächelnd von Lorenz quittiert. „Wir dachten schon, wir müssten ein Suchkommando hinterherschicken.“ „Witzig“, entgegnete Roland ein wenig gereizt und trotz der guten Vorsätze noch immer etwas verstört. Irgendwie gingen ihm die merkwürdigen Geräusche doch nicht so schnell aus dem Kopf. Was, wenn da doch etwas passiert war und die Klospülung nur ein dummer Zufall war? Was wenn die Geräusche tatsächlich einen bedrohlicheren Hintergrund hätten? Wäre er dann nicht verpflichtet gewesen, nachzusehen? Er schielte in Richtung des angrenzenden Reihenhauses. Dort war aber scheinbar alles still und außerdem konnte man die Wohnung von der Terrasse nicht einzusehen. Lorenz und Christine schienen nichts bemerkt zu haben, und so obsiegte nun doch seine Verdrängungsfähigkeit. Noch einmal zurückzugehen in die Speisekammer wäre auch zu albern gewesen. „Und wenn nebenan etwas im Gange gewesen wäre, hätte man es doch auch hier draußen hören müssen?“, versuchte er sich selber in Gedanken zu beruhigen. Seine Unsicherheit vermieste ihm zunächst die Laune. Nach und nach verblasste jedoch die Wahrnehmung der potentiell bedrohlichen Geräusche und machte wieder der anfänglichen guten Laune Platz. Der Alkohol, den Lorenz schon bald aus seiner „Schatztruhe“ im Wohnzimmer hervorholte, tat das Übrige, so dass der Rest des Abends fast schon ausgelassen verlief, und Roland das merkwürdige Ereignis bereits wieder komplett vergessen hatte, als er sich gegen Mitternacht von seinen Gastgebern verabschiedete.
Siegestrunken und beschwipst von Lorenz‘ „Schätzchen“ trat er aus der Haustüre hinaus in die frische Frühlingsnacht. Doch dann geschah das Unfassbare. Plötzlich stand er wie elektrisiert da. Er hatte die wenigen Stufen hinunter zum kleinen Vorgarten bereits zurückgelegt und sich in Richtung seines Wagens orientiert, als sein Blick wie beiläufig auf das Nachbarhaus gefallen war. Doch dort, wo man die Haustür vermutete, gähnte lediglich ein großes schwarzes Loch. In diesem Loch glaubte er für einen Augenblick die schemenhafte Gestalt eines Kindes erkannt zu haben, die aber sofort wieder verschwunden war, nachdem er sich nur kurz die Augen gerieben hatte, da er glaubte, ihnen nicht trauen zu können. Mit einem Mal war die wohlige Benommenheit wie weggeblasen, die zuvor Besitz von ihm ergriffen hatte und das Ergebnis einer Kombination von Erfolgserlebnis und Alkohol gewesen war. Ein gewaltiger Adrenalinschock durchfuhr seinen Körper. Was war das gewesen? War das wirklich ein Kind? Und wieso stand es da alleine im dunklen Hauseingang? Was zum Teufel war da im Gange? Sofort bereute er es, nicht doch bereits am späten Nachmittag bei Tageslicht nachgesehen zu haben. Nun war es ziemlich dunkel und er konnte von weitem nichts erkennen. Durch keines der Fenster des Hauses drang Licht nach draußen, und das fahle Licht der zwei Hauslängen entfernt stehenden Straßenlaterne reichte noch nicht einmal aus, so etwas wie einen Halbschatten im Eingang des Nachbarhauses zu erzeugen. Er musste näher herantreten, um sich zu vergewissern beziehungsweise nach dem Rechten zu sehen. Auf die Idee, noch einmal zurück zu Christine und Lorenz zu gehen, um die Polizei zu rufen, kam er erst gar nicht.
Der Weg durch das niedrige Gartentor hinaus auf den Zufahrtsweg bis zum angrenzenden Grundstück war nur eine Sache von einer Sekunde. Und als er wieder aufsah in Richtung des Nachbarhauses, sah er es wieder. Das Kind hatte sich einen Schritt ins Haus zurückgezogen und blickte ihn verängstigt an. Ein leises, kaum hörbares Flüstern drang an seine Ohren, das er allerdings nicht verstehen konnte. Er wusste nicht, ob ihm seine Sinne einen Streich spielten oder ob es auf die Wirkung des Alkohols zurückzuführen war, aber von weit her glaubte er wieder dieses absonderliche Quieken zu hören. Das gab ihm jedenfalls den Rest. Er eilte auf das Kind im dunklen Eingang zu, denn offenkundig brauchte hier jemand ganz dringend Hilfe. Als er näher kam, konnte er das verängstigte Gesicht eines Mädchens von ungefähr sieben Jahren erkennen. Doch anstatt auf ihn zuzukommen und sich möglicherweise in seine Arme zu flüchten, zog es sich ins Innere des Hauses zurück. Was sollte das denn nun wieder? Wieder war er irritiert. Reflexartig stockte er in seiner Bewegung. Ganz offensichtlich war hier etwas faul, er konnte sich aber keinen Reim darauf machen – noch nicht. Das Mädchen hatte doch hoffentlich keine Angst vor ihm, der er ihm doch nur zu Hilfe eilen wollte? Während er noch einen Schritt hinter ihm her tat, vernahm er ein leises, gehauchtes „Bitte helfen Sie uns!“ Von neuem breitete sich der Beschützerinstinkt in ihm aus, der die ihm angeborene Scheu vor Menschen überdeckte, und jegliche Vernunft oder sagen wir logisches Denkvermögen kurzzeitig ausschaltete. Aber schließlich ging es hier ja um Kinder, die Hilfe brauchten! Was hätte es da zu überlegen gegeben?
Er nahm die drei Stufen hinauf zum Eingang mit einem Satz und sprang förmlich in den dunklen kurzen Hausflur. Der erste verhängnisvolle Fehler. Im Hausflur war es stockduster, doch einige Meter vor ihm konnte er wieder die scheinbar leicht wankende Gestalt des Mädchens erkennen, das nun schnurstracks in den gegenüberliegenden Raum eilte. Instinktiv suchten seine Augen nach weiteren Bewohnern des Hauses, doch die Treppe zu seiner Linken, die sowohl nach oben als auch in den Keller führte, lag komplett im Dunkeln, so dass er nichts weiter erkennen konnte. Als er – noch immer hastig – aus dem kurzen, dunklen Flur durch den schmalen Durchgang ohne Tür in den nächste Raum trat, fiel ihm auf, dass er sich über die Leere des Raumes wunderte, der groß, aber komplett unmöbliert war. Auffallend war lediglich das schöne, mittelbraun gemaserte Holzparkett, das auf den zweiten Blick seltsam glitzerte. Trotz oder wegen des Stakkatos überaus ungewohnter Sinneseindrücke, sah er sich in diesen seinen Aktionen dissoziiert, von außen. Wie aus der Vogelperspektive sah er sich blindlinks in den Raum stürmen. In dem Raum wäre es stockfinster gewesen, da alle Fenster mit schweren Gardinen verhangen waren, wäre da nicht die kleine Kerze am anderen Ende des Raumes gewesen, von der ein fahler Lichtschein ausging. Wenn der Grundriss der Wohnung mit dem der Nachbarwohnung übereinstimmte, musste das einmal das Wohnzimmer gewesen sein – damals, als es möglicherweise noch möbliert war. Doch nun, so vollkommen leer und dunkel, erweckte es eher den Eindruck einer Grabkammer, kam es ihm spontan in den Sinn. Hätte er gewusst, welche perfide Vorahnung ihn da beschlichen hatte, hätte er gewusst, was zu tun war.
Er kam erst zum Stehen, als er bereits zwei Meter in diesem merkwürdigen Raum stand. Nachdem sich seine Augen nun ein wenig an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, erkannte er in einer der gegenüberliegenden Ecken eine kleinere, komplett in Weiß gekleidete Kindergestalt, deren Kopf jedoch komplett mit Mullbinden umwickelt war. Konnte das womöglich der Junge gewesen sein, dessen Schreie er so verzerrt im Nachbarhaus gehört hatte? Noch immer völlig befangen von der bizarren, irreal wirkenden Szenerie, nahm er in der Hintergrundverarbeitung einen leichten Luftstoß von hinten wahr, unmittelbar gefolgt von einem dumpfen Knall. Erst ein wenig später sollte ihm klar werden, dass jemand hinter ihm die Haustür zugeknallt hatte.
Noch bevor er jedoch Anstalten machen konnte, auf den Jungen zuzugehen und ihn zu befragen, hatte sich sein linker Fuß in etwas verfangen, so dass er beinahe der Länge nach hingestürzt wäre. Nur mit Mühe fand er sein Gleichgewicht wieder. Als er hinunterblickte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass es kleine Kinderhände waren, die ihn zurückgehalten hatten. „Piiiieks“, ließ ein kaum dreijähriges, blond-gelocktes Mädchen verlauten, das sich an sein Hosenbein geklammert hatte. Er bemerkte, dass es etwas Kleines, Blitzendes mit der kleinen rechten Faust umklammerte. Dieses kleine Etwas stieß sie beinahe bis zum Anschlag in seine untere Wade. Ungläubig starrte er auf das kleine Mädchen, bis ihn ein jäher Schmerz durchfuhr. Es fühlte sich an, als hätte er sein Bein bis zum Knie kochendes Wasser getaucht, nur dass der Schmerz von innen zu kommen schien. Nur knapp widerstand er der Versuchung, den kleinen Teufel mit einem kräftigen Ruck gegen den Türrahmen oder die Wand zu schleudern. Mit Mühe besann er sich und presste die Zähne zusammen. Schließlich war es ja ein Kind. Hätte er es nur getan. Noch war die Haustüre in Reichweite. Stattdessen versuchte er sich lauthals Luft zu machen: „Was zum Henker …“ Weiter kam er nicht in seinem Satz, denn plötzlich waren da noch mehr Kinder, die aus dem Schatten auf dem Boden auf ihn zu robbten. Die Szenerie hatte etwas wahrhaft Abstruses und hätte einer Theater-Inszenierung entsprungen sein können. Doch vermisste er die Zuschauer.
In einem Reflex humpelte er weiter in der Richtung, die er zuvor eingeschlagen hatte, und schleifte dabei das Mädchen an seinem linken Hosenbein hinter sich her. Er befand sich nun beinahe in der Mitte des kahlen großen Wohnzimmers. Da begann sich der vermeintliche Junge plötzlich vor seinen Augen und ohne jegliche Veranlassung, die Binde vom Kopf zu wickeln. Mit einem Mal fielen lange, blonde Locken auf die Schultern des Kindes. Also auch ein Mädchen. Nicht dass das irgendeine Rolle gespielt hätte. Aber dennoch verblüffte ihn das abermals. Irgendwie war hier nichts so wie es auf den ersten Blick schien.
Es dauerte nicht lange, bis sich zwei andere Kinder mit lockigem, blondem Haar an sein anderes Hosenbein geklammert hatten. Das kleine Licht ließ die Schatten der kleinen Kindergestalten wie Gespenster über die Wände gleiten. An ein Fortkommen war nun nicht mehr zu denken. Er versuchte es trotzdem – und stürzte der Länge nach hin. Er konnte sich gerade noch auf die Seite drehen, sonst wäre er mit voller Wucht bäuchlings aufgeschlagen. Sein rechter Arm schmerzte nach dem Aufprall, weshalb er sich auf den Rücken drehte. Ein weiterer Fehler, wie sich schnell herausstellen sollte. Erlebte er doch prompt eine weitere üble Überraschung. Er fühlte mehrere Stiche in seinem Rücken und seinem Gesäß. Den Kopf zur Seite drehend sah er im fahlen Kerzenschein im ganzen Raum ein schwaches Blitzen, las ob das Licht von kleinen Metallspähnen reflektiert würde. Da schoss es ihm durch den Kopf: Stecknadeln? Überall auf dem Boden waren Stecknadeln verstreut! Warum hatte er die Nadeln vorher nicht realisiert beim Anblick des glitzernden Parkettbodens? Und warum machten die Nadeln den Kindern nichts aus? Wie Fakire tanzten sie auf den Nadeln um ihn herum. Aber was sollte das alles bloß? Erlaubte sich da jemand einen üblen Scherz mit ihm? Aber das ging nun eindeutig zu weit!
Er wollte sich wieder aufrappeln, doch war es dafür bedauerlicherweise eine Sekunde zu spät. Blitzschnell hatten sich die Kinder auf ihn geschmissen und drückten ihn mit ihrem Gewicht zu Boden. Sie waren plötzlich überall, zehn oder mehr, und soweit er sehen konnte, ausschließlich Mädchen im Alter zwischen drei und acht Jahren und von so atemberaubend ähnlicher Gestalt, dass es ihm schwerfiel, sie auseinander zu halten. Hatte er eines abgeschüttelt, klebten zwei andere an und auf seinem Körper. Dabei stachen ihn die auf dem Boden verstreuten Nadeln überall in Rücken und Beine. Und je mehr er sich bewegte, desto schlimmer wurde es. Das Ganze spielte sich beinahe lautlos ab, so als hätten die Kinder keine Sprache oder verständigten sich auf eine übernatürliche, telepathische Weise. Denn irgendwie mussten sie sich doch verständigen, da sie – so grausam es auch klang – so perfekt wie ein Ameisenhaufen zusammen arbeiteten. Oder aber als wenn dies – und dieser Gedanke bestürzte ihn - für sie ein routiniertes Schauspiel? Das Groteske war jedoch, dass sie allesamt bei ihrem gesamten Tun permanent auf eine so absonderlich entrückte Weise lächelten, dass es ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dabei kontrastierte ihr Tun ihr freundliches Aussehen, das unter anderen Umständen jedem Erwachsenen die Tränen der Rührung in die Augen getrieben hätte, auf extremste Weise.
Nachdem er sich zwecklos gegen die Übermacht zu wehren versucht hatte, änderte er nun seine Strategie und ergab sich scheinbar ihrem Willen, freilich in der Hoffnung, dass sie ihn nun loslassen würden und sich alles aufklären würde, wenngleich es ihm schwerfiel sich vorzustellen, dass es eine vernünftige Erklärung für solch einen üblen Scherz geben sollte. Er ahnte nicht, dass es nun noch schlimmer kommen sollte! Die kurze Pause nutzend, begannen die kleinen Teufel fast simultan nach einigen der verstreuten Stecknadeln zu angeln und – sobald sie einer habhaft wurden – sie ihm so fest sie eben konnten in seine Extremitäten zu rammen. Er schrie auf vor Schmerzen und glaubte, wahnsinnig zu werden. Wie besessen bäumte er sich auf, erreichte aber nichts, da die tollwütige Meute sich sofort wieder auf ihn stürzte und ihn zu Boden zwang. Um ihn am Schreien zu hindern, stießen sie ihm einen Knebel aus Mullbinden so tief in den Rachen, dass er zu würgen begann und beinahe auf der Stelle erstickt wäre.
Nun waren sie gewarnt und hielten ihn so fest, dass er sich keinen Zentimeter bewegen konnte. Ein Alptraum! Ja, das musste es sein. Und gleich würde er aufwachen. Bitte, bitte!! Aber es geschah nichts dergleichen. Vielmehr steigerte sich der Alptraum noch. Während der überwiegende Teil der Kreaturen ihn am Boden hielten, sammelten einige wenige weitere Stecknadeln ein. Er bemerkte es und schrie vor Angst noch bevor sie sich daran machten, sie ihm eine nach der anderen langsam, aber sehr bestimmt ins Fleisch zu schieben. Es war nicht zu fassen, welch unbeschreibliche Qualen diese nur wenige Zentimeter langen Folterinstrumente zu erzeugen im Stande waren. Jeder der etwa im Minutentakt gesetzten Stiche durchfuhr zunächst seinen ganzen Körper wie einen Stromstoß, was darauf hindeutete, dass sie sehr präzise seine Nerven punktierten. Noch schlimmer war jedoch das nachfolgende Brennen, das sich langsamer, aber so vehement um die Einstichstelle ausbreitete, dass er vor unsäglichen Qualen laut geschrien hätte, wenn da nicht dieser verdammte Knebel gewesen wäre. Stattdessen drohte er nun an seinen Qualen förmlich zu ersticken.
„Pyrrotoxin“, schoss es ihm durch den Kopf. Vor mindestens drei Monaten hatte er mit einem Ohr die Nachrichten gehört, in denen unter anderem von einem neuartigen Nervengift die Rede gewesen war. Der Name ‚Pyrrotoxin‘ war nicht zufällig gewählt worden, weil es – einmal unter die Haut injiziert – im Körper ein teuflisches Brennen verursachte, das auf eine fehlgeleitete Wechselwirkung in den Synapsen zurückzuführen war. Wie zum Teufel hatte er sich das nur merken können? Und warum fiel ihm das gerade jetzt wieder ein? Vielleicht weil es nach jedem Stich so höllisch brannte in seinem Körper? Und was half ihm das jetzt?
Der Schmerz raubte ihm beinahe den Verstand. Dies war der Punkt, an dem er begriff, dass dies weder ein übler Scherz noch ein Alptraum war. Das war bittere, unmissverständliche perverse Realität, der er zum Opfer fallen würde, wenn nicht noch ein Wunder geschehen würde. Das grausame Puzzle fügte sich allmählich Stück für Stück zusammen und ergab immer mehr ein abstruses Bild ab, das so unwirklich gewirkt hätte, wären da nicht diese unsagbaren Schmerzen gewesen, deren er sich nicht erwehren konnte. Sie hatten offenbar nur auf ein Opfer gewartet, auf das sie sich aus allen unsichtbaren Winkeln des Hauses stürzen könnten. Und er fragte sich, wie viele ahnungslose Menschen ihnen bereits ins Netz gegangen waren.
Längst hatten sie ihm Schuhe und Strümpfe ausgezogen und begannen, seine nackten Füße und Hände zu malträtieren. Dabei gingen sie derart perfide vor, dass jeder mittelalterliche Foltermeister vor Hochachtung erblasst wäre. Ein kleines Mädchen ergötzte sich daran, ihm möglichst viele Stecknadeln unmittelbar unter den Zehennägeln möglichst tief ins Fleisch zu schieben. Zehennagelziehen musste ein Dreck dagegen sein, was die Schmerzen anbelangte. Seine Beine zuckten jetzt unter den andauernden Stromstößen, und seine Zehen und Finger fühlten sich nach weiteren fünf quälenden Minuten taub an. Diese Bastarde schienen irgendwie ein feines Gefühl dafür zu haben, wie man anderen den größtmöglichen Schmerz zufügen konnte. Jedenfalls traf jede Stecknadel ins Schwarze und brannte wie Feuer. Doch woher hatten sie bloß diese Präzision oder verließen sie sich einfach auf ihr Gefühl?
In einem hellen Moment registrierte er noch mit allergrößtem Unbehagen, dass er noch niemals von solch schrecklichen Quälereien gehört oder gelesen hatte. Einem einzelnen logischen Gedanken folgend, konnte das nur bedeuten, dass nie etwas an die Öffentlichkeit gedrungen war. Im Umkehrschluss musste das bedeuten, dass noch keines ihrer Opfer entkommen war!
Das Schlimmste war, dass er sich schließlich und endlich seine Ohnmacht eingestehen musste. Dabei hatte er es doch nur mit Kindern zu tun. Woher nahmen sie nur all diese Erbarmungslosigkeit? Jeder normale Mensch hätte trotz eines möglicherweise angeborenen Sadismus irgendwann Gnade gezeigt. Nicht aber diese Kinder. Sie schienen für sein Leid unempfindlich. Ganz im Gegenteil schien es sie irgendwie zu bestätigen und zu weiteren Grausamkeiten zu animieren. Ihrer grausamen Phantasie schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Dabei bedienten sie sich doch nur eines einzigen Werkzeugs: harmlosen Stecknadeln. Doch genau das würde ihn wohl umbringen. Die Erkenntnis bohrte sich unweigerlich in sein schwindendes Bewusstsein. Er war bereit, alles zu bereuen. Hätte er nur bloß gewusst, weswegen er hier bestraft wurde.
Seine Extremitäten in alle vier Himmelsrichtungen auseinandergezerrt und aufgespannt wie ein Falter auf dem Reißbrett, hatte sich plötzlich eines der Kinder hinter seinen Kopf gesetzt und umklammerte ihn nun von beiden Seiten mit seinen angewinkelten Knien, so dass er nun auch ihn nicht mehr bewegen konnte und seine vor Angst weit aufgerissenen Augen gezwungen waren, die mit Stuck abgehängte Decke anzustarren. Er schloss die Augen und versuchte sich zu befreien. „Piieeks“, hörte er nur noch, dann ein höllischer Schmerz, wie er ihn noch nie in seinem Leben erfahren hatte. Er konnte ihn im ersten Augenblick noch nicht einmal zuordnen, doch dann durchbohrte ihn die Erkenntnis wie ein Messer. Mit einer schnellen Bewegung hatte diese kleine Ausgeburt der Hölle ihm zwei Nadeln durch die geschlossenen Augenlider gestoßen!
Er glaubte wahnsinnig zu werden, doch zynischerweise gewährte ihm die Natur noch nicht einmal dieses Privileg. Seine Augen brannten wie Feuer und der zusätzliche Schmerz breitete sich schnell in seinen ganzen Körper aus. Er bäumte sich auf. Doch es half nichts. Er konnte noch nicht einmal einen Arm oder ein Bein befreien. An allen Enden zerrten mindestens zwei der kleinen Scheusale. Unglaubliche Wut und unbändiger Zorn stieg in ihm auf. Er hätte nun jeden einzelnen dieser Bastarde mit seinen eigenen Händen erwürgen können. Doch aus das half ihm nicht und entpuppte sich als letzte Phase seiner kurzen Agonie.
Er mobilisierte noch einmal seine letzten Kräfte. Es gelang ihm, den Knebel herauszuwürgen, und er begann zu schreien, so laut er noch konnte. Doch die Schreie schienen irgendwie zu verhallen. Und jetzt musste er wieder an den letzten Nachmittag denken, als er diese beängstigenden Laute in Lorenz‘ und Christines Speisekammer gehört hatte. Wo war ihr letztes Opfer? Was hatten sie mit ihm gemacht? Ihm wurde übel, und er übergab sich neben ihm auf den Parkettboden. Seine Peiniger schien das nicht im Mindesten zu beeindrucken.
Als der Schmerz mit einem Mal langsam nachließ und er schon fast gar nichts mehr spürte, empfand er das als Erlösung. Er dämmerte nun nur noch dahin. Es schien nicht mehr wichtig, was diese Ausgeburten des Teufels mit ihm anstellten. Er war ihnen endlich entrückt. Sie hatten keine Gewalt mehr über ihn. Ein leises Lächeln ließ seine Lippen kräuseln. Er hatte das Gefühl, aus sich heraustreten zu können, und diese absurde Szenerie von oben zu betrachten. Er spürte, wie er langsam die Besinnung verlor – und ahnte, dass er wohl nicht mehr aufwachen würde. Unwillkürlich entspannte er sich – und lachte laut auf ob dieser Ironie des Schicksals, das ihn auf einem Höhepunkt abgefangen hatte. Er lächelte selbst dann noch, als sich seine Augen bereits geschlossen hatten.
Und warum nur hörten ihn seine Freunde nebenan nicht? Diese Frage wurde ihm nur allzu bald beantwortet. Schemenhaft erkannte er zwei größere Gestalten, die ihn anlächelten. Dann versank die Welt um ihn herum im Dunkel.