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Nackte Panik
Nackte Panik
Sievard blinzelte im grellen Sonnenlicht und ließ die Jalousien ein wenig herunter. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft an diesem Morgen. Er legte seine Uhr ab und stieg unter die Dusche. Heute war Samstag und er würde die Zeit für eine ausgiebige, angenehme Dusche nutzen. Die Temperatur stellte er etwas niedriger ein als sonst, denn ihm war nicht nach Sauna zumute an diesem Tag, der gewiss heiß werden würde. Nachdem er sich die Haare eingeseift hatte, stand er eine Weile unter dem Strahl und schloss die Augen. Angenehm prasselte ihm das Wasser auf den Kopf und um ihn herum plätscherte es. Der leichte Duft von Seife und der typische erfrischende Geruch von Leitungswasser umgaben ihn. Er öffnete leicht den Mund und kostete davon. Es schmeckte ein wenig nach seinen eigenen Haaren und Shampoo. Schließlich hatte er genug und öffnete langsam die Augen, wobei es ihm nichts ausmachte, dass ihm das Wasser in selbige lief. Nur ein leichtes Brennen war zu verspüren. Zuerst sah er nur funkelndes Wasser, das wie ein Kristallregen niederging, dann, als er den Kopf unter dem Strahl hervorbewegte, ein verschwommenes Abbild seiner Umgebung. Er fand den Wasserhahn und drehte ihn zu. Nur noch vereinzelt platschten Tropfen von seinem Körper auf den Boden der Dusche, während er sich das Wasser aus den Augen rieb.
Das erste was ihm auffiel, als er die Augen öffnete, war, dass sein Wasserhahn von einer Gravur geziert wurde. Früher war er völlig glatt gewesen. Ungläubig neigte er seinen Kopf, um die Gravur genauer zu betrachten. Es war ein Delphin. Niemals hätte er sich einen Wasserhahn mit einem Delphin darauf gekauft.
Auf der Ablage neben dem Wasserhahn stand Shampoo. Aber es war nicht seines. Der Name auf der Flasche war ihm unbekannt, so wie der Rest, der auf der Flasche stand, in einer ihm fremden Sprache verfasst war. Seine Augen weiteten sich. Das konnte nicht sein! Er fuhr so heftig herum, dass er beinahe gestürzt wäre, doch ebenso heftig bremste er wieder ab, als er einen Duschvorhang berührte. Eigentlich hatte er feste Glastüren.
Dies war nicht seine Dusche.
Vorsichtig zog er den Vorhang, der mit Seepferdchen bedruckt war, zur Seite und sah hinaus. Wie kaum anders zu erwarten, sah auch das Badezimmer nicht aus wie seines. Es war wesentlich aufgeräumter, kleiner und hatte keine Jalousien vor den Fenstern. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sah er hinaus. Hatte nicht die Sonne geschienen, als er in die Dusche gestiegen war? Nun war der Himmel von grauen Wolken verhangen und kein Vogel zwitscherte mehr. Sein Atem ging schneller. War er verrückt geworden? Hatte sein Leben vor der Dusche vielleicht so gar nicht existiert? Wenn gleich ein kleines Mädchen hineinkam und "Papa!" rief, würde er schreien. Er hatte nämlich gar keine Kinder. Ärgerlich verwarf er den Gedanken und sah an sich hinab. Er schätzte den Körper, den er sah, auf 25 Jahre. Das kam hin. Also war er kein alter Mann, den die Demenz gepackt hatte und der alle paar Tage vergaß, wer er war. Vielleicht war er auch ein junger geisteskranker Mann, der jeden Tag dieses Szenario durchmachte und es nur nicht wusste. Auch diesen Gedanken verwarf er. Wenn er nicht einmal mehr seinen eigenen Erinnerungen trauen konnte, konnte er auch gleich aufhören zu denken. Für den Moment musste er also annehmen, dass er geistig gesund war und in einer anderen Dusche die Augen aufgeschlagen hatte als in seiner. Angestrengt rief er sich alle Zahnarztbesuche in sein Gedächtnis zurück. Vier Plomben hatte er bekommen... unten eine, oben drei. Er trat vor den Spiegel und überprüfte seine Erinnerung. Es stimmte, stellte er erleichtert fest. Die Frage war, was er nun machen sollte. Er war völlig nackt an einem Ort, den er nicht kannte. So etwas hätte vielleicht einen guten Alptraum abgegeben, aber dies war Realität.
Also gut. Ganz ruhig. Sievard sah ein, dass es ihm nichts nützen würde, in diesem Badezimmer zu bleiben. Irgendwo musste er einen Anhaltspunkt finden, wo er war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war zumindest einer der Bewohner dieses Hauses anwesend. So schlich Sievard zur Badezimmertür und öffnete sie leise. Sofort konnte er Geräusche wahrnehmen, die von einem laufenden Fernseher stammen mussten. Vorsichtig schob er seinen Kopf aus dem Türspalt. Vor ihm lag ein kleiner Flur mit Blümchentapete, der links an einer Tür endete, hinter der die Geräusche hervorkamen. In der Wand ihm gegenüber befand sich noch eine Tür. Es war klar, welche er wählen würde. Ein Beobachter hätte es bestimmt lustig gefunden, mit anzusehen, wie Sievard in einer grotesken Art blitzschnellen Schleichens nackt zu der Tür hinüberhuschte und sogleich sein Ohr daran presste. Er kam sich vor wie ein Dieb in einem Zeichentrickfilm. Er hörte nichts. Doch sah er aus dieser Perspektive, dass links von der Badezimmertür die Haustür lag - massiv und mit eingearbeiteten mattweißen Fenstern. Für seine Entscheidung benötigte er nur Bruchteile einer Sekunde. Mit einem Satz war er bei der Haustür und zog am Griff.
Die Tür war verschlossen.
Noch bevor Sievard sich Gedanken dazu machen konnte, warum sich die Bewohner einsperrten, hörte er Schritte. Mit fast übernatürlicher Geschwindigkeit stellte er die Richtung fest und verschwand hockend im Schattenbereich neben einer alten Kommode, die an der Wand gegenüber des Bads stand. Kaum eine Sekunde später ging eine etwa 60-jährige Frau in einem altmodischen Rock an ihm vorbei.
"Hallo?", fragte sie leise mit brüchiger Stimme.
"Ist da jemand?"
Und ob. Aber du errätst nicht, wer, dachte Sievard. Ein nackter Mann, der keine Ahnung hat, wo er ist. Er stammt aus deiner Dusche.
Sievard befand sich zwischen der Kommode und der Tür, zu der er zuerst gegangen war. Er hatte kaum einen halben Quadratmeter Platz in seinem Versteck. Wenn die alte Dame das Licht anmachen würde, dann würde sie ihn ganz sicher-
Klick!
Es wurde hell.
Ein Eisklotz entstand urplötzlich in seinem Bauch. Panik drohte von ihm Besitz zu ergreifen. Er war nicht mehr im geringsten geschützt, sondern hockte hell erleuchtet neben der Kommode.
Wenigstens bin ich frisch geduscht. Der erste Eindruck ist der wichtigste.
Im nächsten Moment sahen er und die Frau sich mit schreckgeweiteten Augen an.
Er wusste, dass er nun schnell handeln musste, sprang auf und hielt ihr den Mund zu, damit sie nicht schreien konnte. So schnell und leise er konnte zog er sie ins Badezimmer, wo er ihr eine große Parfümflasche mit aller Kraft auf den Schädel schlug. Kraftlos sackte sie ihn seinen Armen zusammen. Nachdem er sie vorsichtig auf den Boden niedergelassen hatte, überlegte er, ob er ihre Kleider anziehen sollte. Nein, er wollte sein Opfer nicht entwürdigen, indem er es auszog. Außerdem hatte er keine große Lust, in Frauenkleidern herumzulaufen, da trug er lieber seine Männlichkeit zur Schau. Hastig dürchwühlte er die Taschen ihrer Kleider. Ihm fiel ein Stein vom Herzen als er einen Haustürschlüssel fand.
Sievard wurde von einer Männerstimme jäh aus seinem Glücksgefühl gerissen.
"Hedwig, wo bleibst du? Der Film fängt an!"
Nichts wie weg.
"Hedwig?"
Sievard flitzte zur Haustür und schloss sie mit fliegenden Fingern auf. Gehetzt sah er sich dabei um. Der Mann konnte jeden Moment aus der Tür hinter ihm kommen! Endlich konnte er die Haustür öffnen. In Sekundenbruchteilen war er hindurch und schloss sie so schnell und leise wie möglich hinter sich.
Ein Kälteschock. Es mussten Minusgrade hier draußen herrschen. Aber jetzt musste er nur so schnell wie möglich von der Haustür wegkommen. Der Schnee biss ihn mit eisigen Zähnen in die Füße, als er um die Ecke des Hauses rannte.
"O mein Gott! Hedwig!", erschallte es gedämpft aus dem Haus.
Der Mann musste sie gefunden haben. Sievard fiel auf, dass man seine Fußspuren im Schnee würde verfolgen können. Er sah sich um und entdeckte in der Nähe hinter dem Haus einen Wald, dessen Boden kaum von Schnee bedeckt war. Völlig außer Atem kam er eine Minute später am Waldrand an, doch er konnte sich keine Pause gönnen. Seine Seiten stachen, glühende Messer drehten sich in seinen Nieren, während er tiefer und tiefer in das Unterholz jagte. Doch schon bald zwang ihn die eisige Kälte zum Aufgeben. Er wurde langsamer. Die Welt verschwamm vor seinen Augen. Ein Schuss traf seine Brust und ließ das Blut an die umliegenden Baumstämme spritzen. Dann ein zweiter. Er fiel.
"Getroffen!"
"Lass uns das Wild genauer betrachten!"
Die beiden Jäger marschierten zwischen den Bäumen hindurch auf das erlegte Tier zu. Plötzlich blieb der vordere wie angewurzelt stehen.
"Hans..."
"Was-"
Er stockte. Im Unterholz lag ein nackter, blutbesudelter Mann.
"Gib mir mal den Flachmann rüber...", sagte der zweite Jäger mit hohler Stimme.
Und so fand Sievard, der am Morgen noch unter der Dusche gestanden hatte, im Waldboden hinter einem norwegischen Ferienhaus verscharrt sein vorzeitiges Ende. Die Jäger jedoch bewahrten ihr Leben lang Stillschweigen über den Vorfall.