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Nachtspaziergang
Die Straßen sind leer, aber keine Sorge, dies ist eine gute Gegend. Sie scheinen zu zweifeln, doch Sie können mir vertrauen. Ich mag zwar ein einfacher Mann sein, mit diesen Dingen jedoch bin ich vertraut. Das Viertel dort hinten sollten Sie meiden. Keine Nachtspaziergänge dort. Die Straßen dort sind zwar auch leer, aber dort muss man sich Sorgen machen. Es ist besser unter Tags, wenn die Straßen belebt sind. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Sie wissen schon, Diebe und das andere Gesindel. Die sind skrupellos. Sogar mich, obwohl ich nun wirklich nicht viel habe, beklauten sie einmal. Da half auch mein wütendes Geschrei nichts. Ach, wundern Sie sich denn gar nicht, wohin unser Weg führen wird? Vielleicht nicht. Sie haben ja schon so ein naives Gesicht. Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen. Menschen, die ohne Vertrauen durchs Leben gehen, stehen sich oft selbst im Weg. Machen sich das Leben schwer. Das erinnert mich an meinen Bruder. Aber das ist eine andere Geschichte. Nicht für diese klare Nacht. Er war auch nur ein einfacher Mann. Aber Sie scheinen ein solches Problem nicht zu haben. Als ich Sie im Zug gesehen hab, dachte ich gleich, was für ein freundliches, offenes Gesicht Sie nicht haben. Sie haben sich bestimmt auch etwas gedacht, als Sie mich gesehen haben, nicht wahr? Ziemlich sicher habe ich Sie zu strahlend angelächelt, aber so bin ich nun mal. Lachen Sie nicht! Wenn ich an einem dieser grauen Tage durch die Stadt wandere, lächele ich. Alle anderen, die an diesem grauen Tag durch die Stadt hetzten, lächeln nicht. Sie schauen viel mehr grimmig. Oft werfen sie mir auch verwirrte Blicke zu.
Jetzt erinnere ich mich! Sie haben mich auch kurz irritiert angesehen. Leugnen Sie es nicht, ich kann mich genauestens erinnern! Aber Sie haben ja Recht, Sie müssen sich nicht verteidigen. Es ist durchaus nicht alle Tage, dass man einfach so angelächelt wird. Ich war auch verblüfft. Ja vor Schreck hätte ich sogar fast aufgehört zu lächeln. Man kann ja nicht erwarten, dass Sie einfach so zurück lächeln! Aber ist das nicht eine Schande? Sollten wir nicht alle lächeln? Ich meine nennen Sie mir ein Gegenargument! Was? Ihr Goldfisch ist gestorben. Mein herzliches Beileid! Das ist wahrlich ein Grund nicht zu lächeln. Nun, auch wenn man ausgeraubt wird, hat man wohl nicht viel zu lächeln. Wurden Sie schon einmal bestohlen? Sie Glücklicher, kein einziges Mal! Ich kann mich leider nicht so glücklich schätzen, erinnern sie sich nur an das eine Mal, wo ich wütend geschrien habe. Das war nicht das einzige Mal, aber es war das offensichtlichste Mal. Sie wundern sich, was ich meine? Ich spreche davon, dass einem auch Dinge genommen werden können, die nicht so greifbar sind wie eine Geldbörse. Ein Beispiel? Die eigene Meinungsfreiheit. Gefährlich in Familien. Ach, kennen Sie das nicht? Hatten Sie nie eine Familie? Das ist auch schade, aber Sie sind vielen Problemen entkommen. Wissen Sie, wenn man zusammenlebt, muss man Kompromisse eingehen. Es schenkt einem viele Freuden, doch es können auch schwere Missverständnisse entstehen. Aber das ist eine Gemeinsamkeit von uns. Ich habe auch keine Familie. Ich habe Sie verwirrt! Aber ich habe nie gesagt, dass ich keine Familie hatte. Halt, fast wären wir zu weit gegangen. Wir biegen hier ab, in das kleine Gässchen. Ist es ihnen zu düster? Aber keine Angst, ich bin zwar ein einfacher Mann, doch Sie können mir vertrauen. Die Gegend ist gut. Sie wollen schon gehen? In Ihr Hotel? Tun Sie mir doch die Freude und begleiten Sie mich noch ein Stück! Einen Spaziergang macht man nicht alleine. Außerdem, wissen Sie denn überhaupt welchen Weg Sie nehmen müssen? Na sehen Sie, bestimmt werden Sie es nicht bereuen, wir gehen nur noch bis zum Wasser.
Diesen Teil der Stadt hat meine Schwester besonders geliebt. Sie müssen wissen, dass tagsüber hier in allen Gässchen Marktstände aufgebaut sind. Es ist ein buntes Treiben und hektisch. Ganz ähnlich ihrer Persönlichkeit. Sie war auch bunt. Wie ich das meine? Nun Sie hatte viele verschiedene Interessen und hat viel gelacht. Wenn man Sie angesehen hat, dann war die Welt bunt. Es tut mir wirklich leid, eine bessere Erklärung kann ich nicht finden. Sie müssen es sich einfach selbst ausmalen. Vielleicht kennen Sie ja auch so jemanden. Tun Sie? Bestimmt eine wundervolle Frau. Der Markt ist auch hektisch wie sie. Nie konnte sie stillsitzen, nie war sie zufrieden mit dem, was sie hatte. Auch nicht mit uns, ihrer eigenen Familie! Aber lassen Sie uns über etwas anderes reden, sonst werde ich noch ganz aufgeregt.
Sehen Sie nur diese klare Nacht. Wären wir am Land, wäre es möglich den Sternenhimmel zu bewundern. Hier jedoch kann man nichts erkennen, die Nacht ist dunkel. Trotzdem habe ich die Angewohnheit immer in den Himmel zu schauen. Ich biege mich zurück, um die große schwarze Weite zu sehen und hoffe den Schimmer eines Sternes zu erhaschen. Aber ich war noch nie wirklich erfolgreich. Das sollte ich mir abgewöhnen. Am Ende verletzte ich mich noch, weil ich zu beschäftigt war in den schwarzen Himmel zu sehen, anstatt auf die helle Straße vor mir. Ich habe oft die Angewohnheit, aus dem was vor mir liegt, entkommen zu wollen und mich mit etwas anderem abzulenken. Wie mit der Straße. Ich will nicht, dass der Weg zu Ende ist, deswegen schaue ich in den Himmel. Da kann man kein Ende finden. Ich mache das durchaus nicht nur während meiner Arbeitszeit oder bei Dingen, die ich ungern mache. Nein, sogar im Urlaub. In meiner Freizeit. Das erinnert mich nun wieder an meine Schwester. Sie müssen wissen, sie hat immer gemeint, ich sei zu verträumt. Lebe nicht genügend in dieser Welt, sondern viel zu sehr in der, wie sie meinte, die ich in meinem Kopf erschaffe. Wie lächerlich! Als könnte sie in meinem Kopf hineinsehen. Als wüsste sie überhaupt nur ein bisschen wie ich denke. Aber nie hat sie aufgehört mit ihrer Kritik. – egal, was ich gesagt habe. Es regt mich noch heute auf. Es ist mir, als würde ich sie noch immer mit mir sprechen hören. Das hatte ich auch damals, als sie für ein Jahr weg war. Ja, für ein Jahr! Irgendwo im Ausland um Erfahrungen zu sammeln oder so. Es war ein sehr entspannendes Jahr für mich. Aber sie hätte am besten meine ganze Familie mitnehmen sollen. Dann hätte ich meine Ruhe gehabt. Aber nein, mein Bruder, meine Mutter und mein Vater waren da, um mich nervlich zum Ende zu bringen. Sie hatten auch immer vieles an mir auszusetzen. Das tut mir jetzt aber leid. Sie müssen sich hier mein Gejammer anhören. Wie unhöflich von mir – ich hoffe Sie werden mich von nun an nicht meiden. Wie? Es stört Sie nicht? Na das ist aber beruhigend. Wollen Sie mir denn nicht ein bisschen was über sich erzählen? Haben sie auch jemanden verloren, den sie liebten? Eine Frau also – tragisch.
Nun ja, wenn Sie nicht über ihre Vergangenheit reden wollen, dann ist das in Ordnung für mich. Ich kenne einige solche Leute und ich verstehe es. Aber ich sage immer: Reden hilft. Und es ist einfach. Man braucht nur einen guten Zuhörer. Tja, da haben Sie wohl recht. Einen guten Zuhörer zu finden ist gar nicht so einfach. Aber ich bin einer, falls Sie jemals jemanden brauchen sollten. Und Sie offensichtlich auch, sonst hätten sie mich schon längst stehen lassen! So nun sind wir beim Wasser angelangt. Die Spiegelungen in der Nacht sind immer fantastisch, nicht wahr? Lassen Sie uns hier umkehren. Sie fragen mich, wieso ich keine Familie mehr habe? Nun, das ist eine sehr persönliche Frage. Aber ich habe Ihnen schon einiges anvertraut. Nun gut. Meine Schwester war gerade aus dem Ausland zurückgekehrt. Die ganze Familie hatte sich in der Wohnung meiner Eltern für ein Wochenende zusammen eingefunden. Ich ging am Abend aus. Als ich zurückkam, waren sie alle tot. Das Fenster war offen. Es war grausig anzusehen. Sie sahen aus, als hätten sie sich gefürchtet. Und Blut überall. Schon getrocknetes Blut. Meiner Schwester war die Kehle durchgeschnitten worden mit einem schönen, klaren Schnitt. Vielleicht war es die Strafe dafür, dass sie mich immer bekrittelt hat. Es war ein Raubüberfall gewesen. Danach kamen die ganzen ermüdenden Untersuchungen. Und raten Sie mal, wen die Beamten unter Verdacht stellten. Mich! Ich bin doch ein einfacher Mann, ich weiß wirklich nicht wie sie auf mich gekommen sind. Nun gut, ich möchte nicht schon wieder zu lange über mich reden.
Lesen Sie Zeitung? Ja? Regelmäßig? Das ist ja wunderbar. Dann wissen Sie ja über das Weltgeschehen Bescheid. Ob ich von den Morden gehört habe? Oh ja, in der Stadt, aus der wir gekommen sind. Die Nachrichten waren immer schrecklich. Ich verstehe nicht, wie ein Mensch so etwas tun kann. Und immer die Schlagzeilen! Serienkiller schlägt wieder zu und so weiter. Ich hatte schon Angst mein Hotel zu verlassen. Sie nicht auch? Wie froh ich war als ich endlich in den Zug steigen konnte. Aber man muss vorsichtig sein. Er war schon in mehreren Städten - mir scheint, als würde er herumreisen. Aber keine Sorge, mit mir sind Sie vor allen anderen sicher. Ich bin ein starker Mann und Sie auch. Schnell rennen können wir wahrscheinlich beide. Eine Herausforderung. Was ich damit meine? Ach nur so. Aber jetzt habe ich nichts mehr gehört. Also vom Serienkiller meine ich. Mir kommt es vor, als wäre er weitergezogen. Meine Schwester hätte sich schon in ihrem Zimmer eingeschlossen und wäre nicht mehr herausgekommen. Sie war schon manchmal ein Angsthase. Aber mit ihrem Aussehen musste sie auch aufpassen. Eine Schönheit! Ihre Lippen und Augen und dann noch ihre Figur. Das freundliche Auftreten. Sie nicken? Sie haben sie doch nicht mal gekannt! Sie hätten sich auch von ihr täuschen lassen. Ihr Äußeres täuschte! In ihrem Inneren war sie ein gemeines Biest. Immer nur Kritik! Sie bleiben stehen? Ach es tut mir leid. Man soll nicht schlecht über die Toten sprechen. Aber was geht Sie das überhaupt an? Sie haben sie doch nicht einmal gekannt! Doch? Im Ausland haben Sie sie also kennengelernt. Aha. Und haben sich bezaubern lassen. Sie brauchen es gar nicht zu sagen. Sie waren eben wie all die anderen. Und hat sie Sie am Ende denn nicht verlassen? Sie einfach stehen lassen, ohne auch nur einen Gedanken an Sie zu verschwenden? Sie müssen wissen, da zu sein, war noch nie ihre Stärke. Sie wollte immer überall gleichzeitig sein. Auch mich - ihren Bruder! – hat sie oft vergessen. Was sagen Sie denn da? Was für ein Unsinn! HA, zurückkehren wollte sie zu Ihnen? Was Sie nicht sagen! Für immer? Tja aber die Realität ist doch eine andere - verlassen hat sie Sie, für immer! Denken Sie wirklich sie wäre zu Ihnen gekommen, wenn sie nicht ermordet worden wäre! Na gut, lassen Sie uns nicht darüber streiten. In dieser verlassenen, stillen Gegend kommt mir unser erhitztes Gespräch gar laut vor. Doch was für ein Zufall, dass wir in einem Zug aufeinandertreffen. An so einem anonymen Ort. Oder doch nicht? Sie schauen so ernst. Was ist denn los? Ach, verdächtigen Sie mich? Für was? Den Mord an meiner Familie? Ich bin doch ein einfacher Mann! Oder den Morden aus der Stadt aus der wir gekommen sind? Wenn Sie das wirklich glauben, ist es dann klug was sie hier tun? In einer leeren, dunklen Straße mitten in der Nacht? Jaja, jetzt grinse ich. Ach, Sie haben ein Messer dabei. Seien Sie beruhigt, hier, sehen Sie. Ich habe auch eines.