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Nachtschnellzug

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20.12.2001
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Nachtschnellzug

Über dem staubigen Antlitz der verfallenen Häuser erheben sich düstere Wolken spätabendlicher Stunde. Die einstige Industriestadt - ein gestürzte Königin der Arbeit im Bettlergewand. Am Bahnhof der faulige Gestank ausbleichender Schnapsleichen hoffnungsloser Gestalt, als ich den gepflasterten Boden erschöpft unter mir forttreiben sehe. Eine anmutige junge Frau zeigt Empörung, in der sicheren Arroganz der Unwissenheit, daß sie nur einen Steinwurf entfernt von jenem Dasein der Ärmlichkeit lebt, nachdem eine kleine armselige Figur um eine Münze bat. Im Innern ist sie häßlich gleich der flehenden Gestalt. Ich warte auf den Zug und werfe mit einer schwergläsernen Flasche nach ihr.
Auf uns alle wartet der Nachtschnellzug.
Ganz allein setze ich einen Fuß vor den anderen. Einsam war ich lang nicht mehr, auch wenn ich lange danach sehnte. Heute Nacht schlich ich mich aus dem Haus und ließ Frau und Kind zurück. Bin ein von Geheimniswitterei erfülltes Menschlein – benebelt von der großen Fremde der wirklichen Welt. Was war ich für ein Träumer.
Ein „Ich liebe Dich!“ ein wundervoller Traum, den es ewig noch zu halten gilt.
Ich liebe Dich.
Koffer gepackt und ausgerissen – doch am Fahrscheinautomaten gescheitert.
Kann nicht fliehen und warte auf den Zug.
Das Pflaster unter meinen Füßen will mich nicht mehr tragen, sondern nieder ziehen und beginnt zu klammern, daß mir jeder weitere Schritt eine Qual ist, der mich fordert, die hakenden Tentakeln der Steine aus den Muskelfetzen meiner Ferse zu ziehen. Es tobt im lauen Blut die Stille, pulsierend vor Erschöpfung bis ich endlich halte, zieht brechend seine Bahnen und schwankt vor Bitterkeit.
Einzig Melancholie sucht sich eine Furt durch den nebellosen klaren Strom unter meiner Haut, den man so leicht zu durchschauen vermag und dringt mir in das leere Herz. Einsamkeit suchend habe ich dennoch Angst zu sterben in gefühlsloser Ödnis. Daß mich schließlich bedeckt ein graues Tuch des Schweigens, bleich liegend als der Mann, der sovieles wollte und nur so wenig konnte.
Mehr als eine Vision.
Eine Erschütterung!
Der Mond zeigt zynisch mit dem Finger auf mich herab und stellt mich als verfluchten Idioten dar, als eins der Gleise neben mir entschwand.
In meinen Augen erbricht die Nacht als Schnellzug ohne Halt, der mich fiebertoll auf kaltem Stein zerwirft. Meinen Koffer habe ich vergessen - von meiner losen Zunge in voller Absicht aus dem Gedächtnis davon gejagt, wie blechernes Geröll hinab in die Abgründe meiner Erinnerung.
Eigentlich müßte ich zurück.
Die Liebe wartet nicht. Ich wünschte, ich wäre ein kleines Kind ohne Zeitempfinden.
Geh ich jetzt, so bleib ich weg, wart ich hier, bin ich zu spät – weiter weg, je länger desto besser.
Zurück führt auch kein Weg nach vorn.
Ich bin verwirrt, voll Zweifel noch dazu.
Manche Details sind von entsetzlich geringer Bedeutung.
Die schmutzbraune Hose, die ich sonst nicht mehr zu tragen wußte, scheint mir grade recht, meine Hoffnung in beißender Flüssigkeit zu welken, daß ihre hellgebräunten Blütenblätter, neben ihrem stützenden Stengel zu Boden schweben. Der Alkohol brennt unter dem Fleische meiner Zähne, will ihnen den Halt in meinen Kiefern rauben und die Zunge herauslösen - Furcht...
In der Ferne ein Blitz, so daß mich nur noch zerrendes Rauschen einer starr kreischenden Bremse von folgender Geräuschlosigkeit berführt. Eine große Uhr zeigt den Lauf der Wochen des Wartens auf den richtigen Zug, den ich zu verpassen drohe, da mich das Blut auf gleisigem Eisen lockt. Die Knöpfe meines Hemdes sprangen beim vollstreckenden Zuge meiner Hände von ihren Fesseln, daß mich zerschlissener Stoff zu umhüllen versucht, den ich im rauhen Nachtwind nicht zu halten wage. Er flieht und flieht der Finsternis geneigt.
Mir ist entsetzlich schlecht.
Ein kleiner brauner Pelz huscht mir über die Schuh.
Die Nacht ist viel zu kurz.
Die meisten vergessen wohl ihre Koffer. Vielleicht auch besser so. Was wünsch ich das Vergessen, alles wäre ungeschehen. Kein ewig lüsternd Schatten, der mich zwingt zu flehen. Mein Gedächtnis nicht mehr als ein flüchtiger Schnupfen in lauer Sommerwelt voll Blumen.
Manch einer verkraftet das entsetzlich schlecht – so ganz und gar nicht schelmisch narrenfrei.
Sie alle liegen auf den Schienen.
Enttäuschend flüstern mir flüchtige Stimmen, künden von falscher Torheit, die uns alle zu umschleichen sucht. Ich nahm Träume für bahre Münze, wollte ewig sie berühren.
Eine alternde Ratte nagt an den Gleisen – bald ist das Fell ihr grau und lichte; knochig mager die Gestalt von Hungersnot verzehrt. Kiefer zersetzen meine Schienen – Zähne mager, Zunge toll.
Mein Zug fährt ab und ohne mich davon.
Zurück bleibt der rostende Schrott zweier sinnender Leben.
Hab den Koffer vergessen
Frau und Kind verlassen.
Wer will schon wissen wer ich bin. Nur der Nachtschnellzug.
Nur der Nachtschnellzug...
Er flieht und flieht der Finsternis geneigt.

 

Hallo Sebastian,

Ein sehr lyrischer Text, erinnert stellenweise an Paul Celan oder Ingeborg Bachmann. Der Nachtschnellzug und der Koffer als Metapher für... etwas. Freie Assoziation ist vom Leser gefordert, ebenso wie das wahrscheinlich Teil der Entstehung der Geschichte war. Du greifst Dir ein Motiv und variierst es Fugenhaft in gekonnter atmosphärischer Dichte durch. Leider verlor ich nach der hälfte den Handlungsfaden, bzw. hatte ihn immer noch nicht gefunden, und erste Konzentrationsschwächen machten sich bemerkbar.

Gruss,

I3en

 

Tränenlicht,

... also herrjeeeeeee ...

Also am Anfang dachte ich: "Oh jemand der schreiben kann...", aber dann sah ich mich im Dilemma, was eine konstruktive Kritik angeht.

Gute Literatur ist mE frei von vollgestopften Erklärungen und überschäumenden Bildern ... Du gibst dem Leser alles vor, detaillierst teilweise bis ins Unerträgliche und nutzt Vergleiche die sich zwar schön lesen, aber mit dem wohl niemand etwas anfangen kann ...

Es tobt im lauen Blut die Stille, pulsierend vor Erschöpfung bis ich endlich halte, zieht brechend seine Bahnen und schwankt vor Bitterkeit.
Wo bleibt der Raum für das Auge des Lesers, der Platz für seine eigene Phantasie??? Du hast sie ihm genommen und das in einer sehr altmodischen und völlig von Theatralik übersättigten Art und Weise. Den Leser an den Text heranführen, nicht ihn mit den Worten erschlagen ...

Salute Bella

PS.: Es sind aber auch einige wunderschöne Sätze dabei!!! Am schönsten fand ich:

Zurück führt auch kein Weg nach vorn.

[ 14.06.2002, 09:49: Beitrag editiert von: Bella_Xela ]

 

Hallo Tränenlicht,

ein düster melancholisches Bild eines (vermutlich)am Ende seines Lebens stehenden Mannes, der enttäuscht zurückblickt und nach vorne ohne Hoffnung.

Es ist einfacher, einen Text zu schreiben, der mit plastischen Bildern die Stimmung eines Protagonisten beschreibt, als eine Stimmung auszudrücken, die man selber nur schwer fassen kann. Ich finde diesen Text gelungen, da er genau das bei mir erreicht hat. Ich fühl mich ganz schön beschissen.
Und das vor allen Dingen deshalb, weil jedes deiner Worte zum Gesamtbild gepasst und eindringlich den Schmerz und die Verbitterung widergespiegelt hat.

 

Guten Abend Tränenlicht,
Dein Text ist eine Oase in der Wüste der Nüchternheit.
Herzliche Grüße, Hot Soul.

 

Ich bin mir im Klaren, daß diese Erzählung (ich drücke es mal so aus, weil ich nicht glaube, daß sie der klassischen Kurzgeschichte entspricht, doch sehr fordernd ist. Vielleicht ist prosaisches Gedicht oder Stimmungsbild passender. In erster Linie will ich mit dieser literarischen Form Stimmungen auslösen, hervorrufen und Empfindungen erlebbar machen. Es geht mir nicht darum aufzuweisen, wie man sein Leben vergessen, ändern kann. Eben so wenig mag es die reine Unterhaltung sein diesen Text (oder andere von mir zu lesen), weil sie rein vom sprachlichen recht anspruchsvoll sprachlich konstruiert erscheinen mag. Doch die Konstruktion ist weniger bewußt als es einigen nachvollziehbar erscheint.
Ih will die Menschen da berühren wo sie sich einen - in der Empfindung.
Danke für die Auseinandersetzung mit meinem Text

 

Achso...in der Eile vergessen....
es geht mir nicht um Realismus..der erdrückt mich ohnehin schon allzusehr bei den meisten Kurzgeschichten...
Sprache ist für mich mehr als einfacher Kommunikator zur Wiedergabe der Handlung...
tschhöle
(*schon viel zu spät dran is und abzotteln muß*)

 

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