Nachtschicht
Die Nacht kam ihm unglaublich lang vor. Leon hatte gerade eine neue Stelle in einem spanischen Restaurant begonnen, um sich neben seinem Jura-Studium ein wenig Geld dazuzuverdienen. Dass das Restaurant zum Abend hin mehr und mehr einem Barbetrieb gleich kam, hatte ihm sein Chef verschwiegen. Und ebenso die Tatsache, dass Überstunden bei ihm anscheinend zum guten Ton dazugehörten.
So kam es, dass Leon die letzte Bahn gerade so mit Ach und Krach und einer stattlichen Sprinteinlage auf den letzten Metern erwischte. Immerhin wollte er sein frisch verdientes Geld nicht gleich für ein Taxi auf den Kopf hauen.
Der Wagon war leer. Es war mitten in der Nacht von Mittwoch zu Donnerstag und wenn man nicht gerade um die Häuser zog oder eine Nachtschicht erwischt hatte, gab es wenige Gründe, jetzt noch auf den Beinen zu sein.
Leons Augenlider waren schwer und er kämpfte damit, sich wachzuhalten. Er hatte sein ganzes Leben in Berlin verbracht und wenn er eins wusste war es die eiserne Regel, nachts nicht in Zügen einzuschlafen. Zum einen sollte man in der letzten Bahn vor Schichtende um Gottes Willen bloß nicht seine Station verpassen, zum anderen trieben sich immer mal wieder dunkle Gestalten herum, die den Schlaf von Zuggästen ausnutzten, um sie unauffällig auszurauben. Diesmal wollte er allerdings das Risiko in Kauf nehmen und eine Ausnahme machen. Er hatte 15 Stationen vor sich, da war eine halbe Stunde Schlaf drin. Also stellte er sich den Wecker auf seinem Handy, lehnte den Kopf an die kalte Fensterscheibe und blickte noch ein wenig in die Nacht hinaus. Sein Vater, Streifenpolizist seit mehr als 20 Jahren, musste noch irgendwo dort auf den Straßen unterwegs sein. Nicht einmal nach so vielen Jahren in dem Beruf wurde man von Nachtschichten verschont, dachte sich Leon, bevor seine Augen endgültig zu fielen.
Ein schriller, ungemütlicher Ton riss Leon aus dem Schlaf. Schlaftrunken und ein wenig verwirrt schaute er sich um. Er befand sich im Bahnwagon, allerdings war das Licht aus, und auch draußen war es stockdunkel. Sofort griff er in seine Hosentasche und holte hastig sein Handy hervor. Akku leer, was für ein verdammter Mist. Der Zug war zum Stehen gekommen und er hörte, wie sich irgendwo eine Tür öffnete, vermutlich die der Fahrerkabine, denn jemand stieg aus dem Zug aus, unzählige Deckenlichter wurden eingeschaltet und erleuchteten eine Halle. Ein weiterer Zug und mehrere Gleise kamen zum Vorschein. Leon hatte anscheinend nicht nur seine Station sondern auch die Endstation verpasst, und befand sich nun in der Wendeanlage, wo die Züge bis Schichtbeginn abgestellt wurden. So lange wollte er auf gar keinen Fall warten. Er ging zu einer der Türen um zu schauen, ob sie noch aufgingen oder ob er sich andersweitig bemerkbar machen musste, als er eine Gruppe von Männern entdeckte, die auf die Fahrerkabine zuliefen. Instinktiv ging er in Deckung und versuchte durch eines der Fenster hindurch die Männer zu beobachten, aber sie befanden sich leider nicht mehr in seinem Blickwinkel. Nagut, was sollte das Versteckspiel, vermutlich trafen sich ein paar Mitarbeiter der Bahngesellschaft, um ihren späten Feierabend zu begießen.
Leon wollte gerade sein Vorhaben, die Türen auszuprobieren, wiederholen, als sein Blick auf einen Wagon des gegenüberstehenden Zuges fiel. Irgendetwas darin hatte sich bewegt. Der Zug stand gut 20 Meter entfernt und im Inneren war es ebenso dunkel wie in dem Wagon, in welchem er sich befand. Er konzentrierte seinen Blick auf die Fensterscheibe und meinte, eine schemenhafte Silhouette erkennen zu können. Nun kam ihm die ganze Geschichte doch verdächtig vor. Erst einmal abwarten und in Deckung gehen, dachte Leon sich. Er konnte immer noch so tun, als würde er schlafen, sollte der Zugführer oder einer seiner Kollegen ihn bei der abschließenden Inspektion der Wagons entdecken.
Nach einigen Minuten machte sich einer der Männer auf in Richtung des verdächtigen Zuges. Leon hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sah dann, dass das Licht im Wagon an ging. In Leons Bruste wurd es schlagartig eng und sein Atem stockte. Die Silhouette war die eines Jungen. Vermutlich gerade einmal so alt wie seine 12-Jährige Schwester Miri. Er hatte einen weißen Knebel um den Kopf gewickelt und seine Augen wirkten verheult. Leons Blick wanderte über die anderen Wagons und nach und nach entdeckte er immer mehr Umrisse von Personen. 8 oder 9 waren das. In was für eine perverse Geschichte war er da reingeraten? Okay, jetzt bloß nicht den Helden spielen, dachte sich Leon. Wenn er sich recht erinnerte, waren die Männer zu viert und der Zugführer war auch noch da. Er hatte keine Chance. Wenn er versuchte wegzurennen, würden sie ihn sicher erwischen, er kannte sich in so einer Wendeanlage doch gar nicht aus. Und der verdammte Akku seines Handys machte ihm den nächsten Strich durch die Rechnung. So leid es ihm tat, er musste bis zum frühen Morgen abwarten, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Er konnte dem Jungen und den anderen Personen, im schlimmsten Fall weitere Kinder, im Moment einfach nicht helfen. Zitternd kauerte sich Leon auf seinem Sitz zusammen, den Kopf tief eingezogen, dass er ja nicht entdeckt wurde.
Minuten vergingen und er hörte nichts außer dem Gemurmel der Männer, dass ab und zu von Gelächter durchdrungen wurde. Dann stockte Leon der Atem erneut. Ziemlich weit vorne musste eine Wagontür im Zug, in dem er sich befand, aufgemacht worden sein. Was tun, wenn der Zug jetzt inspiziert werden würde? Seine Nervosität wuchs rasch an, er musste sich irgendwo verstecken. Leon schaute sich um, aber diese einzigen Nischen, die einem Versteck gleich kamen, waren die unter den Sitzreihen. Dort würde er leicht zu entdecken sein. Er hörte, wie die Durchgangstür zum übernächsten Wagon geöffnet wurde. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Vielleicht konnte er den Blick der Person auf etwas anderes aufmerksam machen und sie somit ablenken, sich zu gründlich umzuschauen. Leon kramte in seiner Jackentasche und holte sein Portemonnaie hervor. Er legte es auf eine der vorderen Sitze, schlich zum Ende des Wagons und kauerte sicher unter der letzten Sitzreihe zusammen. Als die Tür, welche einen der Männer und Leon noch trennte, geöffnet wurde, hielt er den Atem an. Ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen lag er da, lauschend und in der Hoffnung, sein Plan würde aufgehen. Die Person ging ein paar Schritte, und Leon konnte erkennen, wie der Lichtkegel einer Taschenlampe suchend durch den Zug wanderte. Der Mann blieb stehen. Ein fast schon erleichterndes Jauchzen strömte durch Leons Körper, es schien zu funktionieren. Er hörte, wie das Portemonnaie aufgehoben und ein Reißverschluss auf- und wieder zugezogen wurde. Vermutlich hatte der Mann es in einer Tasche verstaut. Die Schritte entfernten sich wieder und die Tür ging mit einem Pfeifen zu. Leon atmete auf, aber er wollte sich die Nacht nicht auch nur einmal wieder aus seinem Versteck herauswagen.
Plötzlich fiel ihm auf, wie müde er immer noch war, aber das Adrenalin, was durch seinen Körper pumpte wie Benzin durch einen 12-Zylinder Motor, hielt ihn wach. Er musste sich beruhigen, allein schon deswgen, um klare Gedanken fassen zu können. So lag er unter der Sitzreihe, die sein Nachtquartier werden sollte und versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
20 oder 30 Minuten lag er so da, bis sich draußen wieder etwas regte. Er hörte ein Wimmern. Erst leise, dann wurde es nach und nach zu einem dumpfen Schrei. Ein Schrei wie der einer Person, die geknebelt ist. Eine helle Stimme, wie die eines Kindes. Hinzu kamen die Geräusche eines Mannes, die einem Raubtier gleich kamen, dass sich zügellos auf seine Beute stürzte. Leons schlimmste Befürchtung schien sich zu bewahrheiten, er befand sich inmitten einer Gruppe pädophiler Perverslinge. Er zog sich seine Kapuze über den Kopf und presste die Hände so doll es ging auf seine Ohren, er wollte das nicht hören. Am liebsten wäre er rausgerannt und hätte sich die Männer nach und nach mit einer Eisenstange oder sonst was vorgeknöpft. Aber er war hilflos, er musste abwarten. Am nächsten Morgen konnte er dann so schnell es geht nach Hause rennen und alles seinem Vater berichten, der die Rettung der Kinder dann in Gang leiten könne. Leon harrte aus. Er weinte leise in sich hinein, schluchzte stumm, bis die Müdigkeit irgendwann siegte und er still einschlief.
Seine Augen öffneten sich langsam und er merkte, wie verquollen sie sein mussten. Er blickte sich um und nein, leider war das ganze kein grausamer Alptraum gewesen. Er hörte, dass die Maschinen des Zuges warmliefen, was ihn vermutlich geweckt hatte. Vorsichtig kroch er aus seinem Versteck hervor und noch bevor er sich voll aufgerichtet hatte, setzte sich die Bahn in Bewegung. Jetzt wird alles gut, dachte sich Leon. Er musste nur drei Stationen fahren, von da aus konnte er nach Hause laufen. Er nahm die Beine in die Hand, rannte so schnell er konnte, nahm das Brennen seiner Lungen in Kauf. Er wollte nur noch nach Hause, seine kleine Schwester Miri in den Arm nehmen und seinem Vater alles berichten. Es war halb Sechs in der Früh, hoffentlich war er überhaupt schon zurück von seiner Nachtschicht.
Völlig fertig kam Leon an dem kleinen Haus seines Vaters an. Er riss die Gartentür auf und polterte ins Haus. Es roch nach Kaffee und er hörte, wie in der Pfanne was brutzelte, sein Vater war zuhause. Miris Schuhe standen nicht an der Eingangstür. Leon hastete zur Küche, wo sein Vater am Herd stand und versuchte, Eier in so etwas wie Spiegelei zu verwandeln. „Wo ist Miri?“, rief Leon panisch. Sein Vater schaute ihn mit einem müden Blick an und murmelte: „Ach, die hat doch heute bei den Hoffmans übernachtet. Ich dachte mir schon, dass du die halbe Nacht arbeiten würdest und deinen ersten richtigen Lohn anschließend in eine feuchtfröhliche Bar-Tour investiert.“ Sein Vater zwinkerte Leon zu. „Ich wollte deine Schwester während meiner Nachtschicht nicht allein im Haus lassen, da fühl ich mich unwohl bei.“ Leons anfängliche Panik verflüchtigte sich und er setzte sich erst einmal an den Küchentisch. Er musste sich beruhigen und seinem Vater dann alles ganz sachlich erklären. Dieser kämpfte weiterhin mit seinen Spiegeleiern. „Deine Nacht schien ja gut verlaufen zu sein. Ein bisschen zu viel getrunken? Schau, was ich hier hab.“ Der Vater warf Leon sein Portemonnaie rüber. Er erstarrte. In seinem Ohr machte sich ein Pfeifen breit und seine Brust schien abermals zu explodieren. Er stand langsam auf und ging wie in Trance zum Herd. Er riss die Pfanne vom Herd und schlug ohne Vorwarnung und so fest er konnte auf den Kopf seines Vaters ein. Dieser ging zu Boden und wie im Blutrausch schlug Leon weiter und weiter auf ihn ein. Erst als er keinen Atemzug mehr von sich gab, ließ er von ihm ab. Wie von Sinnen ging Leon zielstrebig in das Schlafzimmer seines Vaters, öffnete die Türen seines Kleiderschrankes und riss alles heraus, bis er die Waffe fand, die sein Vater aus Vorsichtsmaßnahmen, wie er es nannte, dort versteckte. Er verstaute sie unter seiner Jacke, ging zur Haustür und auf die Straße hinaus.
Leon konnte nicht klar denken, er wusste nur, dass er jetzt und sofort diese Kinder dort rausholen würden. Schnellen Schrittes ging er an den Gartenzäunen der Nachbarn vorbei in Richtung Bahnstation. „Hey Leon!“, ertönte es von der Seite, und Herr Hoffmann schloss seinen Briefkasten auf. Entweder musste er gleich zur Arbeit, oder kam auch von einer dieser lästigen Nachtschichten. Leon wusste gar nicht genau, was er arbeitete. Hastig ging er weiter. „Wie geht’s dir, Junge? Meine Frau meinte, deine Schwester hätte heute bei uns übernachtet. Die kleine Miri ist ein gern gesehener Gast bei uns, immer sehr höflich.“, er lachte herzlich. „Hat dein Vater dir das Portemonnaie schon gegeben? Hatte es zufälligerweise gefunden und euch in den Briefkasten geworfen.“ Leon blieb wie angwurzelt stehen. Er starrte gerade aus. Gedanken schossen durch seinen Kopf und Tränen stiegen in seine Augen. Er zog die Waffe unter seiner Jacke hervor, entsicherte sie und drückte ab.