Mitglied
- Beitritt
- 27.05.2018
- Beiträge
- 2
Nachts
Er atmete flach. Das tat er, damit sie ihn nicht hörten. Die Decke hatte er sich bis kurz unter die Nase gezogen. Das tat er, damit sie ihn nicht sahen. Seine Augen hatte er nur ein kleines Stück geöffnet, sodass sie denken würden, er schliefe. Natürlich tat er das nicht. Wie konnte er auch, wo er doch ganz genau wusste, dass er nicht alleine war, hier in seinem Zimmer. So unauffällig wie möglich wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn. Genau so, als wäre es eine Bewegung im Schlaf gewesen, ein harmloser Reflex. Der Schweiß kam nicht nur von seiner Angst, sondern vielmehr von der Hitze unter seiner Bettdecke, die sich immer mehr und mehr darunter staute. Aus Angst, sie könnten seine Füße oder Arme mit ihren langen schwarzen Fingern berühren, lag nur die Hälfte seines Kopfes frei, gerade so, dass er noch atmen konnte. Sein Blick streifte immer und immer wieder alle Ecken und Spalte, die es in seinem Zimmer gab. Dort, wo es so dunkel war, dass sie sich verstecken konnte. Da war zum Beispiel der kleine Spalt zwischen Kleiderschrank und Zimmerdecke. Er war gerade so groß, dass seine Mutter beim Aufräumen noch allerlei Spielzeug finden konnte. Bälle, mit denen er mit Freunden Fußball gespielt hatte, Lego- und Papier- Flugzeuge, die irgendwann nicht mehr zu ihm zurückgefunden hatten, Süßigkeiten vom letzten Halloween, die er vor seiner kleinen Schwester versteckt hatte und natürlich auch eine ganze Menge Staub. Letzteres fiel seltsamerweise nur Mama auf, denn ihn störte die kleinen weichen Flusen nicht. Was ihn aber störte, war der Bewohner, von dem er ganz sicher wusste, dass er dort hauste. Ein Gespenst. Es kam nur in der Nacht, wenn er alleine im Bett lag und es so duster war, dass es schon die Augen einer Eule brauchte um es zu sehen. Manchmal, wenn er auch nur ganz kurz wegschaute, dann bewegte es sich und knisterte leise. Bestimmt, isst es meine ganzen Süßigkeiten, dachte er ängstlich und auch ein bisschen erleichtert. Denn würde es alle klebrigen Halloweenbonbons, Hexenlollis, Gummispinnen und vielleicht noch den ein oder anderen Schokoweihnachtsmann oder Osterhasen gegessen haben, war es sicher satt und hatte bestimmt keinen Hunger mehr auf kleine Jungen. Das sagte zumindest Papa immer wenn er ihm von dem Gespenst erzählte. Aber Papa erzählt viele Dinge und manchmal hatte er sogar das Gefühl, das Gespenst teilte sich mit Papa die Süßigkeiten, denn ab und an, wenn er mal wieder die Waschmaschine einräumen musste und sogfältig alle Hosentaschen leerte, dann kam ihm das ein oder andere Bonbonpapier entgegengeflogen. Wenn er dann von Papa eine Erklärung, für seine Entdeckungen forderte, wurde der immer ganz kreativ. Kreativ, wurde er aber sowieso oft, zumindest sagte das Mama. Was damit genau gemeint war, wusste er nicht sicher, aber er glaubte, dass Mama damit auf den Süßigkeiten Vorrat im Keller anspielte, der immer besonders schnell zu schrumpfen schien. Papas Bauch im Übrigen nicht.
Obwohl ihm unter der Bettdecke so unglaublich heiß war, fröstelte er. Ein Luftzug strich seine linke Wange und ließ die Gardienen lautlos wehen. ,Schon wieder!‘ , dachte er. Das musste es gewesen sein und es war ihm wieder entwischt! Vielleicht, vermutete er, hatte es so eine Art Sensor, der ihm immer sagte, wann jemand nicht guckte und die Luft rein war, um an ihm vorbeizuziehen oder irgendwas anderes Unerwünschtes zu tun. Er war sich sicher, dass es so etwas gab. Seine Oma hatte so einen „Sensor“, sagte Mama gerne. Doch sie tat nichts Unerwünschtes und machte ihm auch keine Angst. Nein! Oma verstand es, den richtigen Moment abzupassen um etwas Hocherfreuliches zu tun, nämlich um ihm und seiner Schwester Geld oder Süßigkeiten zuzustecken. Und das konnte sie wirklich gut! Trotzdem fragte er sich warum, sie es immer so schnell und heimlich, tat. Er hatte gewiss nichts dagegen und ebenso wenig seine Schwester. Bestimmt lag es an Mama. Die hieß nichts dessen gut, was die beiden Kinder nach einem Wochenende bei Oma alles mit sich trugen. Die Hosentaschen, ja, da hatte er was mit Papa gemein, waren immer voll mit Münzen, Scheinen und lauter kleiner Papierchen. ,Sie verwöhnt uns die Kinder zu sehr‘, sagte sie jedes Mal zu seinem Vater. Vorwurfsvoll, weil es seine Mutter war und nicht ihre. Dabei verstand es Oma Magret ebenso gut Dinge heimlich und schnell zu tun, wenn keiner hinsah. Sogar Autos, Computer und Geld konnte sie verschwinden lassen, immer dann, wenn es keiner sah, hatte Papa einmal erzählt, nachdem sich Mama wieder über Oma Ilse aufgeregt und noch hinzugefügt hatte, dass Papa sich über seine Figur nicht wundern bräuchte. Irgendwann hatte anscheinend aber doch jemand gerade zugesehen, als Oma Margret wieder einmal etwas verschwinden lassen hatte, denn das war der Grund warum sie fast nie zu Besuch kam, hatte Mama ihnen mal erklären müssen, als seine kleine Schwester gefragt hatte, warum alle Kinder zwei Großmütter hatten außer sie und ihr Bruder.
Er überlegte, ob jetzt, wo die Gardinen so geweht hatten, das Gespenst vielleicht aus dem Fenster geflogen war, weil es gedacht hatte, er würde so tief schlafen, dass es nie nach seinen Füßen und Armen greifen können würden. Für einen kurzen Moment verspürte er ein Gefühl des Triumphs, bis ihm plötzlich einfiel, dass es ja noch das andere Gespenst unter dem Bett gab, und mit dem war auf jeden Fall auch nicht zu spaßen.