Tristan Harzen
Guest
Nachts
Nachts.
(Juli 1995)
Eines Nachts wachte Gregor auf.
Weit standen die Fensterläden offen, nachtkühler Wind hauchte in die kleine Kammer. Gregor öffnete die Augen und spürte, wie bleierne Mattigkeit auf seinen Gliedern lag. Der hauchartig dünne Stoff, mit dem er zugedeckt war, wollte ihm wie ein Berg schwerer, feucht-warmer Grabeserde vorkommen, deren Gewicht ihm die Luft aus den Lungen presste und dem Herzen nur ein mühsames Pochen zugestand.
So hauchartig der bedeckende Stoff war, so unmöglich war es den erschlafften Armen zunächst, ihn beiseite zu schaffen; schließlich gelang es doch, und Gregor tat einen tiefen Atemzug. Die Luft, das spürte er jetzt in den sich quälend langsam füllenden Lungen, war von solch zäher Konsistenz, von solch feuchter Dunstigkeit, dass er in warmer Schlacke zu ersticken glaubte. Rasch und in Todesahnung richtete sich der nun ganz und gar wache Körper auf, beschleunigte die Atmung und gab dem zäh fließenden Blut so den benötigten Sauerstoff. Das Sitzen nahm den halb illusionären, halb tatsächlichen Druck von der Brust, der Körper begann stiller und unauffälliger zu arbeiten, so dass Gregors Geist nun Zeit und Muße fand, seine Gedanken ziellos schweifen zu lassen... sie hielten sich an nichts fest und vermochten nichts festzuhalten, sondern waberten dumpf und halb schlafend durch ein dunstiges Bewusstsein. Da glitt Gregors Blick durch das kleine Fenster und sah sich an einem großen, runden Mond fest, der über schwarzen, ganz scharf gezeichneten Waldsilhouetten wie ein ganz Unbeweglich-Ewiges stand; da rührte sich in der unausgeloteten Tiefe von Gregors junger Seele etwas, geschah dort eine Regung, die wir hilflos eine Sehnsucht nennen wollen. Die ließ Gregor aus dem Bett steigen und an das Fenster treten.
Der kühle, frisch duftende Wind, der in sachten Wellen ihm entgegenwogte, ließ Gregors schweißnasse Haut frösteln. Kein Laut war zu hören, so sacht und gleichsam ehrfürchtig strich der Wind über die Wälder und durch die Büsche. Die stille, kühle Welt dort jenseits seiner von schwerer Luft erfüllten Kammer zog Gregor an, dort irgendwo, im Wald, auf dem Feld, auf dem Hügel, ahnte er das Ziel seines unbestimmten Verlangens, dort musste der Magnet verborgen liegen, der an seiner Seele so gewiss zugleich und ungewiss zerrte... schon hatte ihn ein kurzentschlossener Sprung, der die Zerbrechlichkeit des Körpers nicht achtete, ins Freie fallen lassen.
Da stand er nun nackt in nächtlicher Kühle. Wohin sollte er sich wenden? Dies war ihm gleich und würde sich finden. Ich bin wahnsinnig, dachte er in der Kürze eines kaum bewussten Momentes. Und ein solcher Moment nur war es auch, in dem er an die schimpfenden Eltern dachte und sich seiner Nacktheit schämte. Dann ging er mit der marionettenartigen Sicherheit eines Schlafwandlers los; allein er wandelte nicht schlafend, sondern war wach und klar und hell in einer Weise, die er zuvor niemals gekannt hatte. So ging er quer durch das Feld, indem sich die reifen Ähren wellenartig vor ihm teilten und hinter ihm schlossen; so ging er in den Wald, durch den sich ein flüsterndes Bächlein wand. Gregor schlürfte eine Handvoll des klaren Wassers, wusch sich am ganzen Leibe und liess sich vom Nachtwind trocknen; es war kalt, es war köstlich. Dann ging er weiter, nackt und frierend, hell und klar, ein erleuchteter Geist, der alles, alles – nicht zwar formelhaft begriffen hat, es aber ahnt, es spürt, es atmet... ein Kind noch, ein vierzehnjähriger Knabe, der da nackt und ahnend durch die Welt streift! Wohin? Wohin nur? Ein Hügel ist es, seht!, dessen unsichtbare Stufen die bloßen Füße jetzt emporsteigen.
Da steht er nun, der Knabe, und weiß nicht wie ihm geschieht. Wir aber wollen es zu bezeichnen suchen: Absonderung geschieht, erschlagende Vereinzelung, tödliche Vereinsamung findet statt, Wissensartiges, Erkenntisartiges fließt weitend in die Seele, wie scharfer Menthol, der die verstopfte Nase prickelnd und beißend eröffnet – und doch ist es nicht nüchternes Wissen, ist es nicht nüchterne Erkenntnis, die da kühl hineinströmt, sondern ist – ist eine Empfindung, ein Gefühl, ein Leibliches... Der Schwindel, der ihn begreiflicherweise erfasst, lässt ihn am Stamme eines festen, alten Baumes auf der Hügelkuppe niedersinken. Ruh dich aus, Knabe! Halte dich fest und erwärme dich an dem Wissen, dass du ja nicht alleine, sondern einer von Millionen und Millionen anderen Menschen bist! Dass morgen und am Tage alles wieder in der Ordnung sein wird, du in die Schule gehen wirst, und links und rechts Menschen wie du sitzen und zu dir sprechen werden; dass hinter dir die Eltern und Großeltern stehen, dass vor dir die Kinder und Enkelkinder stehen und du wohlgeborgenes Glied einer langen, langen Kette bist! An all dem halte dich fest, spüre den Rahmen, der dich umgibt und aus dem niemand heraus fällt...
Gregor beruhigt sich in der Tat und blickt über das weite, dunkle Land zu Fuße des Hügels; das Bächlein, das ihn eben erfrischte, gleicht einer feinen Silberkette, die ein Gott nachlässig von seinem Halse fallen ließ. Einige Meilen hinter dem Dorfe liegt der See, in dessen kühler Tiefe die Jugend des Dorfes die meisten Stunden dieser heißen Tage verbringt. Da blickt Gregor in den Himmel. O hättest du es nicht getan, du Erwählter und Verdammter zugleich! Denn die tausend Sterne erschlagen ihn, lassen ihn in einer seltsam-seltsamen Mischung von wetterleuchtendem Entzücken und Entsetzen aufspringen, lassen ihn sinnlos taumeln und sich, den Kopf in den Nacken geworfen, im Kreise drehen, lassen ihn tanzen wie den Verrücktesten, den die Welt je sah... Dann bricht er zusammen, presst sich an den Stamm des alten Baumes und wird unmenschlich gepeinigt von - einer Angst...? Fehl geht da jeder Begriff!
In einem Rahmen bin ich? spottet der Zitternde. Umgeben von Menschen, hinter mir Vorgänger, vor mir Nachfolger? Ein schwarzes, sternenloses All, das nicht oben noch unten, nicht links noch rechts kennt, darin bin ich, darin schwebe ich! Es ist so kalt! - -
Dann nahm ihn der Wahnsinn ganz zu sich, verdunkelte ihm das Bewusstsein und löschte das Licht.