Nachts schlafen Schäfer nicht
Nachts schlafen Schäfer nicht
Der dunkle Schleier der Nacht lag über dem trüben Feld. Dicke Nebelschwaden zogen über die weiten Landstriche von Niedersachsen. Horst Meier war seit fast 30 Jahren Schäfer. Eine solch kalte Winternacht hatte er selten erlebt. Es mussten bestimmt 20 Grad unter Null sein. Dies war sehr ungewöhnlich für den ersten Oktobertag des Jahres. Er schaute gen Himmel. Dieser war wolkenfrei und sternenklar. „Wenn ich doch dort oben sein könnte, dann wäre alles leichter“, sagte er zu seinem Schäferhund. Dieser leistete seit nunmehr 15 Jahren treue Dienste. Er war mit seinem Herrchen alt geworden. Horst packte sich mit seiner kräftigen Hand in den langen, grauen Bart. Eine Rasur wäre längst fällig gewesen. Doch er hatte keine Zeit gefunden. In zwei Wochen wird Wollmarkt in Vechta sein, da mussten erst einmal die Schafe geschoren werden. Doch bei dieser Kälte, die seit einigen Tagen Einzug hielt, war es schwer möglich, den Schafen ihre Haarpracht zu entfernen. Sie würden wohlmöglich auf der Wiese erfrieren. Um in die großen Ställe einzukehren, war es zu früh. Erst Anfang November waren diese für den Winterbetrieb gerüstet.
Ein kalter Wind umwehte das Gesicht von Horst. Er zog seine rote Pudelmütze tiefer ins Gesicht. Von mehreren Felldecken umhüllt, lehnte er unter einer alten Eiche. Er wollte einschlafen, doch es funktionierte nicht. Wirre Gedanken spukten in seinem Kopf herum. Irgendetwas bedrückte ihn, doch er wusste nicht, was es war.
Plötzlich schlug Hasso an. Er hatte etwas gewittert. Dies kam äußerst selten vor und war aus diesem Grund umso bedrückender. Horst packte seinen Hund fest am Halsband an. „Sei ruhig, du weckst nur die Herde auf“, sagte er mit sanfter Stimme zu seinem treuen Begleiter. Doch dieser ließ sich nicht besänftigen.
Als Herr Meier das Halsband losließ, stürmte der Hund in die dunkle Nacht hinein, die Weide hinunter an der Herde vorbei. Nach einigen Augenblicken hatte Horst den Sichtkontakt zu seinem Hund verloren. Was war nur geschehen?
Er suchte seine Taschenlampe. Als er sie nicht finden konnte, nahm er eine alte, tragbare Petroleumlampe, die er einst auf einem Antikmarkt erstanden hatte. Er zog sein Sturmfeuerzeug aus der Tasche und zündete die Lampe an. Trotz des sternenklaren Himmels war es rings um ihn herum stockfinster, da der Mond nicht zu sehen war. Plötzlich hörte er ein Heulen am Rande einer Böschung. Er rannte. Als er am Ende der Weide angekommen war, hielt er kurz inne und horchte. Plötzlich erkannte er im flackernden Licht der Lampe einen Schatten, der sich rechts von ihm in Richtung Landstraße bewegte. Diese grenzte an die Weide, auf der sich seine Herde befand. Er schaute dem Schatten lange entgeistert nach, ehe er in der Dunkelheit verschwunden war. Plötzlich stürmte sein Hund auf ihn zu. Er war ängstlich. Hasso war sonst nie ängstlich, in all den Jahren war er stets ein tapferer Begleiter, der es mit Füchsen, Wildschweinen und betrunkenen Teenagern aufgenommen hatte, die in warmen Sommernächten auf der Weide ihr Unwesen getrieben hatten.
Herr Meier wurde von einem unguten Gefühl befangen, was sich als Stechen in der Magengrube äußerte. Er hatte nicht den Mut, geschweige denn die Courage, um nachzuschauen, was Hasso gesehen hatte. Er ging mit dem Hund zurück zur großen Eiche und legte sich hin. Eine halbe Stunde später war er eingeschlafen.
Am nächsten Morgen wurde er von lautem Gemecker aus dem Schlaf gerissen. Es war bereits 7 Uhr. Er erschrak. Wie konnte er nach diesen unheimlichen Ereignissen der letzten Nacht nur so gut geschlafen haben?
Gleich wollte er nachsehen, was gestern Nacht geschehen war. Doch zuerst trieb er die Schafe zusammen, damit er am Nachmittag weiter in Richtung Vechta ziehen konnte. 50 Kilometer waren noch zurückzulegen. Der Wollmarkt rückte näher.
Als er seine Arbeit verrichtet und sein Gepäck verstaut hatte, ging er mit Hasso zu der Stelle, an der er letzte Nacht den unheimlichen Schatten wahrgenommen hatte.
Nichts war zu sehen. Obwohl man an diesem klaren Herbstmorgen einige Kilometer weit in die flache Ebene schauen konnte, sah er nichts Auffallendes. Er ließ seinen Blick schweifen und drehte sich dabei um die eigene Achse. An einer kleinen Birke, die allein auf einer benachbarten Weide stand, blieb sein Blick stehen. Er erstarrte vor Schreck. Die morgendliche Kälte konnte ihm nicht in die Glieder gefahren sein.
Nachdem er einige Zeit wie versteinert dagestanden hatte und in die weite Ferne schaute, raffte er sich auf und bewegte sich langsam auf den Baum zu. Bei jedem Schritt horchte er in die weite Landschaft. Nichts war zu hören. Obwohl es hell war, war er von einer ungekannten Angst befangen. Hatte er sich getäuscht? Sah er wirklich etwas so abscheuliches?
Langsam und bedächtig näherte er sich. Kein Schritt schien ungeplant. Er setzte Fuß vor Fuß in einem festen Rhythmus. Nur nichts überstürzen.
Nach einiger Zeit stand er etwa fünf Meter von dem Baum entfernt.
Er griff in seine Tasche und suchte nach seinem Mobiltelefon. Er wählte.
Eine halbe Stunde später war die Weide wild bevölkert. Die Einsamkeit war verflogen. Überall Absperrgitter, Blaulicht und hysterisch winkende Menschen. Herr Meier saß zusammengekauert in einem Krankenwagen. Er hatte eine Tasse Tee in der Hand. Hasso saß vor ihm. „Ist er ansprechbar?“ fragte der leitende Ermittler den Notarzt. „Ich denke schon, er hat das verdammt gut verkraftet. Andere wären in Ohnmacht gefallen, oder in Panik ausgebrochen.“
„Sie haben also die Leiche gefunden?“
„Es ist alles so schrecklich“, sagte Horst Meier mit leiser und unsicherer Stimme. Er war mitgenommen, sein Gesicht in Falten der Angst gelegt.
„Ist ihnen gestern Nacht oder in den letzten Tagen etwas Verdächtiges aufgefallen?“
Horst traute sich kaum zu sprechen. Hätte er etwas verhindern können?
„Gestern, ja. Es war so gegen Mitternacht. Oh mein Gott, ist das alles schrecklich.“
Horst schien die Fassung zu verlieren. Er senkte sein Haupt auf die Knie.
Der Kommissar legte eine Hand auf seine Schulter und sprach beschwichtigend zu ihm nieder. „Herr Meier, bitte versuchen sie sich zu konzentrieren. Was haben sie gehört oder gesehen?“
Horst holte tief Luft und versuchte erneut, das Gesehene zu schildern. Er konzentrierte sich stark und versuchte, alle Gefühle zu unterdrücken, was ihm nicht wirklich gelang.
„Der Hund schlug an, das tut er sonst nie. Da hab ich ihn losgemacht und er ist auf die Lichtung gerannt, da hinten, sehen sie.“ Horst hielt inne und schluckte kräftig. Er trank etwas von seinem Tee und fuhr fort.
„Da bin ich mit der Lampe hinterher. Plötzlich knackte ein Ast rechts neben mir und ich sah, einen Schatten, ja er lief an mir vorbei. Aber ich hatte nicht den Mut, ihm zu folgen.“
„Machen sie sich keine Vorwürfe. Sie hätten ebenfalls in Gefahr sein können.“
Der Kommissar behielt den beschwichtigenden Ton bei. Er wusste, dass Herr Meier ein wichtiger Zeuge war.
„Hat ihr Hund vielleicht noch etwas bemerkt, was sie vergessen haben, als sie heute Morgen die Leiche gefunden haben?“
Der Kommissar deutete auf den Baum, an dem die Leiche hing. Es war ein Bild des Grauens. Eine junge Frau hing an einem Seil gefesselt an der Birke. Auf dem Stamm stand mit Blut geschrieben: „Asche zu Asche, Staub zu Staub. Jemand hat mein Mädchen geraubt. Ich werde euch alle kriegen, in eurem Blut werdet ihr liegen. An der blutverschmierten Harfe, bekommt jeder die gerechte Strafe.“
Der Schäfer richtete sich auf. Plötzlich zeigte er mit einem Finger hysterisch in die entgegengesetzte Richtung.
“Das ist es, natürlich. Habe ich in meiner Aufruhr ganz vergessen. Ich bin doch erst losgerannt, als ich den Hund habe wimmern hören, dahinten, an dem Feldweg muss es gewesen sein.“
Der Kommissar ließ sich von Herrn Meier zur besagten Stelle führen.
Er nahm einen Spürhund der Hundestaffel mit. Sie erreichten eine Bank, die für Spaziergänger aufgestellt worden war. Neben dieser alten Holzkonstruktion war ein Papierkorb angebracht. Als der Spürhund diesen beschnüffelte, schlug er an. Der Kommissar zog sich Handschuhe an, um keine Spuren zu verwischen. Aus dem Mülleimer holte er eine Handtasche und ein blutverschmiertes Taschentuch.
Das Vechtarer Morgenblatt druckte 4 Tage später in der Abendausgabe folgenden Artikel:
Nachts schlafen Schäfer nicht, Herr M. hilft bei Ermittlungen in Mordfall
Erste Festnahme erfolgt
Der aufmerksame Schäfer M. aus dem Landkreis Vechta konnte bei der Aufklärung eines spektakulären Mordfalls erhebliche Hilfe leisten. Wie ein Polizeisprechergestern mitteilte, bemerkte Herr M. in der Tatnacht einen Schatten am Rand seiner Weide. Sein Hund schlug aus und verschwand in der Dunkelheit. Am nächsten Morgen entdeckte der Schäfer die Leiche von Juliane D., die seit 3 Wochen als vermisst gemeldet war. Man hatte ihr die Kehle aufgeschnitten und sie mit einem Strick an einen Baum gebunden.
Hund fand Beweismaterial
Hasso, der Hund des Schäfers, hatte in der Tatnacht mehrfach angeschlagen. Untersuchungen am Tatort ergaben, dass in einem Mülleimer einer Parkbank die Handtasche des Opfers, sowie ein blutverschmiertes Taschentuch sichergestellt werden konnten.
Exfreund festgenommen
Heute Morgen verkündete der leitende Kommissar der Soko „Weidensang“, dass mit dem Exfreund von Juliane ein erster Verdächtiger festgenommen worden sein soll. Seine Fingerabdrücke sind eindeutig auf der Handtasche zu finden gewesen, hieß es in dem Bericht weiter.
Schäfer ausgezeichnet.
Herr M. bekam heute Morgen von der örtlichen Polizeibehörde den Titel „Ehrenermittler auf Lebzeiten.“
Seine Zivilcourage wurde vom leitenden Beamten lobend erwähnt.