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- 04.07.2001
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Nachts schlafen die Menschen doch
Als der dickliche Mann mit dem Birnengesicht den Brief (der es auf abenteuerlichen Wegen bis zu ihm geschafft hatte, die zu berichten eine Geschichte für sich wäre) in seine wurstigen Finger nahm und öffnete, stand ihm noch der Schweiß der Arbeit auf der Stirn. Er brach den Brief mit seinem vornehmen Brieföffner, überflog den Kopf und die Anrede noch im Stehen, wobei er einem merkwürdigen Rechtschreibefehler in seinem Namen gewahr wurde, bis er sich dann schwungvoll in seinen Ledersessel fallen ließ und begann das erste der mehreren unnummerierten Blätter zu lesen.
Ich hätte wohl keinen Grund Ihnen die Geschichte zu erzählen, und hätte es wohl auch nie getan, wenn ich mich nun nicht in diesen misslichen Umständen befinden würde, in denen es vielleicht ihrer Hilfe bedarf. Mir wurde ausreichend Papier zugesprochen und stets, wenn sich mein stumpfer Kohlenstift zu Ende neigt, wird mir auch ein neuer gebracht. Wahrlich nicht von selbst, doch wenn ich den freundlichen Wärter darum bitte, dann dauert es spätestens bis zur nächsten Mahlzeit, dass ich mit ihr dann den Griffel geliefert bekomme. Meine unsichere Handschrift sei mit zweierlei Gründen zu entschuldigen; zum einen bin ich es nicht gewohnt viel zu schreiben und zum anderen steht mir kein Schreibtisch oder ähnliches zur Verfügung, so dass ich entweder auf meinen Knien schreibe oder auf denselben sitze und das Papier auf die harte Schlafpritsche lege. Sie können sich wohl unschwer vorstellen, dass beides nicht allzu bequem ist und somit kaum zu einem günstigen Schriftbild beiträgt. Ohne mich über weitere Missstände in meiner neuen Unterkunft zu beschweren, womit ich ihre kostbare Zeit, verehrter Herr, nur unnötig beanspruchen würde, möchte ich Ihnen gerne davon berichten, was mir vor nun mehr als einer Wochen widerfahren ist.
Es ging bereits etliche Tage so, dass ich jede Nacht, kaum war ich zu Bett gegangen und in den ersten leichten Schlaf verfallen, von den immer gleichen Geräuschen wieder geweckt wurde. Zu Anfang konnte ich sie noch nicht genau lokalisieren und ging oft nachschauen, ob es etwa ein Rollladen im Haus sei, der durch den Wind stetig gegen eine Scheibe klopfte. So schloss ich denn einen Abend keinen Rollladen, denn wie man wohl leicht verstehen mag kann ein Rollladen nicht klopfen der nicht da ist. Doch das einzige was diese List still legte war mein Verdacht, nicht aber die Geräusche selbst. Am nächsten Abend, die Quelle des stetigen Klopfgeräusches war immer noch nicht gefunden, kam mir der Gedanke an Lausbubenstreiche. Schon seit längerem hatte ich beobachtet, dass dieses Klopfen fast pünktlich um zwei Uhr Nachts begann, und nach etwa vier Stunden aufhörte. Zwar wunderte mich die Ausdauer dieses Streiches, doch konnte ich keine andere Erklärung finden. So stellte ich mir denn also in der darauffolgenden Nacht meinen Wecker auf halb zwei und zog mich warm an, um der Sache auf den Grund zu gehen. Mit etwas Mühe öffnete ich die Luke zum Dachboden und drückte mich dort durch ein spinnennetzverhangenes Fenster hinaus auf das Dach meines Hauses. Zwar hatte ich anfangs etwas Mühe mich auf der schiefen Ziegelfläche zu bewegen, doch schon nach wenigen Minuten hatte ich die beste Möglichkeit dazu gefunden, was mir zugleich auch die Angst vor der Höhe und einem möglichen Absturz verminderte. Von dem Dach meines einstöckigen Hauses aus hatte ich einen Ausblick über die nächtliche Stadt, wie zuletzt vor Jahrzehnten auf meinem Baumhaus. Der klare Nachthimmel erhellte die Strasse, so dass ich mit zuversichtlichem Gemüt auf das Gelingen meines Plans blicken konnte. Ehe ich mich flach auf den Bauch legte und so bis nach vorne zur Regenrinne kroch, um so die Strasse und die Front meines Hauses beobachten zu können, schaute ich mich noch einmal nach allen Richtungen um. Mein großer Garten hinter dem Haus lag wie ein Schwimmbecken in der Nacht und zog sich bis zu der hohen Mauer hin, über die ich nicht einmal von hier aus, von der obersten Spitze meines Daches, hinweg schauen konnte. Jedoch bereitete mir das wenige Sorgen, denn all die Jahre hatte es mich nicht interessiert, was hinter dieser Mauer lag, die meinen Garten begrenzte - warum sollte es das nun tun. Die kalte und luftruhige Nacht milderte den unangenehmen Geruch in dieser Wohngegend, den sonst der Wind vor allem in der Sommerhitze, von irgendwo her hier herübertrug.
Ich kroch also bäuchlings dem Ende des Daches entgegen und streckte meinen Kopf über den Rand hinaus. So blieb ich lautlos liegen und wartete darauf, dass ich dem Streich ein Ende bereiten konnte. Das erste mal schaute ich auf meine Armbanduhr, als ich langsam spürte, wie mir das Blut aus dem ganzen Körper in den Kopf hinunterfloss und mir leichten Schwindel brachte. Es war erst eine halbe Stunde vergangen, die Uhr zeigte halb drei. Ich fragte mich, ob die Lausbuben mich vielleicht entdeckt hatten und deswegen nicht wie sonst üblich um zwei Uhr mit ihren Streichen beginnen wollten, aber andererseits konnte ich mir nicht vorstellen, dass man einen schwarz gekleideten Mann auf einem Dach, der sich zur Tarnung das Gesicht mit Asche aus dem Karmin eingeschwärzt hatte, so leicht ausfindig machen konnte. Vor allem wenn man keinen Grund dazu hatte auf die Dächer besondere Acht zu geben. So blieb ich also weiter liegen und beobachtete jeden Strauch und jedes Geräusch in der Nähe meines Hauses mit Argusaugen. Nach etwa einer weiteren halben Stunde lenkte eine ungewöhnliche Bewegung im Nachbarsgarten meine Sinne auf sich, welche sich jedoch bald als die einer hängebäuchige Katze mit trägem Schritt entpuppte. Nicht einmal die Katze bemerkte meine Anwesenheit ( was mich zusätzlich in meiner Position bestätigte ) sondern begann sich sogar bald sorgfältig zu säubern, wobei sie im Straßenlampenlicht einen großen und grotesken Schatten auf die Wand des Nachbarhauses warf.
Das Blut in meinem Kopf drückte langsam schon von innen gegen meine Schläfen, als ich zum dritten Mal auf meine Uhr schaute. Zwanzig nach drei. Jetzt lag ich beinahe ein und eine halbe Stunde auf der Lauer, und nichts tat sich. Ich zwang mich selbst noch zu einer weiteren viertel Stunde, doch als nach Ablauf derselben immer noch nichts geschehen war, kroch ich enttäuscht wieder durch das kleine Fenster ins Haus zurück.
Ich war kaum vom Dachboden herunter, da konnte ich schon wieder das Geräusch hören, dem ich auf den Fersen war. Ich überlegte nicht lange und lief sofort zur Haustür hinaus, um die Lausbuben zu stellen, die sich wohl die ganze Zeit in einem Versteck gehalten hatten – doch die Straße ruhte still und schweigend in der Nacht. Der Verdacht lag nicht fern, dass ich mich mit meiner Idee eines Streiches wohl einem Irrtum aufgesetzt war. So schloss ich also wieder die Tür und ging in mein Schlafzimmer zurück. Auf der Schwelle harrte ich noch kurz inne und lauschte meinem nächtlichen Begleiter, von dem ich nun meinte ihn im Schlafzimmer deutlicher zu hören als anderswo im Haus, ehe ich mich zur Ruhe legte.
Es war zwei Tage danach, oder es mögen auch drei gewesen sein, als ich mitten in der Nacht aufschreckte. Das Klopfgeräusch hatte aufgehört. Ich hatte mich in den letzten Tagen dermaßen an seine Regelmäßigkeit gewöhnt, dass ich nun wie aus einem Fieberschlaf hochfuhr und senkrecht im Bett stand. Ich schaute auf meinen Wecker und sah, dass es tatsächlich erst kurz nach drei war. Das Klopfen hätte mindestens noch müssen drei Stunden andauern. Mittlerweile hatte ich es mir nämlich zur Angewohnheit gemacht etwa um Mitternacht ins Bett zu gehen, und mit dem Ende des Klopfens wieder aufzustehen. Tatsächlich war der Schlaf ab Mitternacht jedoch kaum mehr als ein Schlummern, und ich konnte, meistens erst richtig und beruhigt einschlafen, wenn um zwei Uhr das Klopfen einsetzte. Es war, wie wenn man auf seinen Partner wartete und erst tief einschlafen konnte wenn er zu einem ins Bett geschlüpft war. Nun war es urplötzlich still, und sie können sich wohl meinen Herzschlag vorstellen, der in der Kehle hämmerte und wohl erfolglos versuchte das fehlende Klopfen zu ersetzen.
Ich schlug die Decke zur Seite und schlüpfte in meine Pantoffeln. Dann ging ich vorsichtig in die Ecke des Schlafzimmers hin, wo sich das Klopfen in den letzten Nächten am deutlichsten gezeigt hatte. Dort lauschte ich noch einmal, wie als könnte ich das Klopfen vielleicht nur überhört haben, aber es war tatsächlich verstummt. Ratlos blickte ich um mich, dann griff ich nach dem schweren Kerzenleuchter, der direkt neben mir auf der Kommode stand und klopfte mit seinem Sockel kräftig gegen die Wand. Als sich nichts tat kniete ich mich nieder und klopfte mehrmals mit großer Kraft den Kerzenleuchter auf den Boden. Ich wusste wohl selbst nicht, was ich damit bezwecken wollte, aber es war wohl der Gedanke daran, dass jeder Frage auch eine Reaktion folgte, gleich wie sie geartet war. Doch was nun passierte, damit hätte ich nicht einmal in meinen jungen Abenteurerjahren gerechnet. Ich hatte kaum dreimal kräftig auf den Boden geklopft, als mir ein Klopfen antwortete. Ich klopfte einmal, und einmal klopfte es zurück. Klopfte ich zweimal, so antworteten mir auch zwei Klopfzeichnen und selbst als ich zweimal leicht und zweimal stark klopfte bekam ich eine ebensolche Antwort. Im ersten Moment war ich mehr als überrascht und versäumte es wohl Minuten ein weiteres Zeichen von mir zu geben, doch dann presste ich mein Ohr auf den Boden und klopfte erneut. Die Antwort kam sofort und ich meinte nun den genauen Ursprung zu kennen. Noch auf den Knien zog ich also die kleine Kommode zur Seite. Auf das klirrende Herunterfallen einer alten Vase, die ich in meinem Eifer vergessen hatte von der Kommode herunterzunehmen, antwortete mir ein weiteres Klopfzeichen, und dann sah ich zum ersten Mal das, was mich eigentlich erst hierher gebracht hat.
Im Boden war ein etwa faustgroßes Loch aufgebrochen, dass sich irgendwo in der Dunkelheit verlor. Ich traute mich zu Beginn nicht allzu nahe an das Loch heran und begnügte mich damit es auf allen Vieren aus sicherer Distanz und, wie eine Katze ständig absprungbereit, zu betrachten. Mit verstreichender Zeit, in der nichts weiter geschah, traute ich mich immer näher an das Loch heran, bis ich direkt davor kniete.
In meiner Überraschtheit rief ich wohl ein unsicheres Hallo dem Loch entgegen, worauf mir tatsächlich eine Stimme antwortete. Ich meine mich zu erinnern ein hohles „Wer da?“ gehört zu haben, was mich dazu ermutigte meinen Mund nun ganz nahe zu dem Loch hinzubewegen und ihm mit trichterförmiger Hand meinen Namen einzuflüstern. Darauf hörte ich ein herzhaftes Lachen aus dem Bauch der Erde und wurde aufgefordert zu meiner eigenen Sicherheit etwas von dem Loch hinwegzutreten. Ich tat wie mir geheißen und setzte mich auf die Kante meines Bettes, um zuzusehen was da nun wohl geschehen möge.
Das vertraute Klopfen setzte wieder ein und ich merkte fast wie mir bei diesen vertrauten Klängen die Lider schwerer wurden, doch zwang ich mich zur Aufmerksamkeit. Minutenlang geschah nichts sichtbares und meine Augen schmerzten schon von der Fixierung der immer selben Stelle, als ich aufstand und eine kurze Pause zwischen zwei Klopfzeichen abzuwarten, um aus gebotener Distanz mit lauter Stimme dem Loch anzukündigen, dass ich mich kurz in die Küche entfernen würde, um Kaffee aufzubrühen. Es solle doch in dieser Zeit bitte versuchen ohne mich auszukommen. Wieder meinte ich ein Lachen zu hören, und ging dann aus der Schlafzimmertür hinaus in die Küche.
Als ich zurückkam, die Kaffeekanne in der einen Hand und zwei Tassen in der anderen, meinte ich das Loch etwas vergrößert zu sehen. Ich ging in respektvollem Bogen zu der Kommode hin, stellte darauf die Tassen ab und füllte meine auf.
»Mögen sie auch Kaffee ?«
»Gerne !«
Ich füllte die zweite Tasse und trat zu dem Loch hin, vor dem ich mich wieder niederkniete.
»Alles auf einmal, oder in kleinen Schlücken ?«
»Wie meinen sie das ? Ach so- Oh Gott nein, reichen sie mir bitte die Tasse hindurch.«
Ich staunte im ersten Moment ein wenig, fasste dann aber dennoch Mut, steckte also meinen Arm in das Loch hinein und wartete, bis die Tasse mir aus der Hand genommen wurde.
»Danke Ihnen !«
Ich nickte dem Loch nur freundlich entgegen und nahm mir dann meine Tasse, mit der ich mich zurück auf die Bettkante begab.
Nach etwa fünf Minuten setzte das Klopfen wieder ein und ich wartete geduldig, was sich noch tun würde.
Mein Erstaunen konnte nicht größer sein, als sich nach etwa einer weiteren knappen Stunde (das Loch hatte sich schon durch beständiges Abbröckeln seiner Ränder deutlich vergrößert) ein heller Lichtstrahl aus dem Loch heraus gegen meine Zimmerdecke warf. Dem Lichtstrahl folgte ein gelber Helm und schließlich ein Kopf, der mich freundlich und nahezu erwartungsfroh angrinste. Ich erschrak dermaßen, dass mir beinahe die Tasse aus der Hand gefallen wäre. Ich saß noch immer auf meiner Bettkante, als dem Kopf auch bald ein Hals, zwei Arme und hiernach ein ganzer Körper in tiefblauer Arbeitskleidung folgte; bis schlussendlich ein kompletter Mensch in meinem Schlafzimmer stand. Ich erhob mich und ging zu dem Mann hinüber, um ihm meine Hand zu reichen.
»Herzlich Willkommen, verzeihen sie mir bitte meinen Aufzug.«, sagte ich und deutete verlegen auf meinen Pyjama und die Pantoffeln in denen ich steckte. Der Mann reagierte unerwartet ungestört daran und lächelte mich noch immer aus vollem Herzen an. Seine weißen Zähne stachen aus dem rußschwarzen Gesicht hervor und seine schwieligen Hände umklammerten fest eine Schaufel, die er nicht loszulassen gedachte.
»Darf ich, ich meine, würden sie mich in die Küche begleiten ? Mein Schlafzimmer pflege ich selten aufzuräumen, wie sie sehen.« Der Mann antwortete nicht, sondern nickte nur stumm lächelnd und schien mit den Gedanken bei etwas anderem zu sein.
In der Küche bot ich dem fremden Besucher einen Stuhl an und stellte ihm eine frische Tasse Kaffe vor. Während er Schluck um Schluck trank schienen seine Blicke die ganze Umgebung abzutasten, wie als suchten sie nach einer Sehenswürdigkeit in einer fremden Stadt. Oft lächelte er und nickte mir freudig entgegen. Dann durchbrachen sechs Worte die kaffeeschlürfende, kühlschranksummende und uhrzeigertickende Stille.
»Also hab ich es tatsächlich geschafft !?«
Ich nickte zur Antwort nur etwas verlegen und füllte meine Tasse wieder auf.
»Darf ich ihnen vielleicht etwas zu essen anbieten ?« Der Mann stellte seine Tasse ab und schaute mir entgegen, als habe er auf diese Frage nur gewartet.
»Sehr gerne sogar ! Darf ich ?« und dabei deutete er auf die Obstschüssel, die zwischen uns auf dem Tisch stand.
»Aber natürlich.« Ich schob sie ihm einige Zentimeter entgegen und er griff sich sofort eine Banane heraus, die er nahezu begierig öffnete und in großen, lauthaften Bissen verspeiste. Dabei nickte er mir beständig zu und lächelte. Ich lächeltet stets freundlich zurück und trank meinen Kaffee. Als er die dritte Banane von der Staude gebrochen und aufgegessen hatte, deutete er mit einer hochgezogenen Augenbraue und seiner linken Hand, in der er noch eine Bananenschale hielt, aus dem Küchenfenster hinaus auf meinen Garten, dessen Ende an der großen Mauer sich beinahe in der Dunkelheit verlor. Dabei lächelte er erneut, nur diesmal so wissentlich, als würde eine dritte Person mit im Raum sitzen, die von etwas Unausgesprochenen zwischen uns beiden nichts wissen sollte. Ich versuchte ihn ebenso anzulächeln und deutete gleichfalls zu dem Fenster hinaus in den Garten.
Es verging eine Weile, in der wir beide nichts taten als der Ruhe um uns herum zu lauschen, bis der Fremde mit einem Mal aufstand und mir die Hand reichte.
»Ich Danke ihnen.«, sagte er mit lauter Stimme, griff dann wieder zu seiner Schaufel und schaltete das Licht auf seinem Helm an, den er die ganze Zeit nicht vom Kopf genommen hatte. »Keine Ursache.«
Ich folgte ihm zurück in mein Schlafzimmer, wo er ohne großes Zögern zurück in das Loch stieg aus dem er gekommen war. Ehe er sich verabschiedete verschwand er kurz unter der Erde und kam mit meiner Kaffeetasse wieder hinauf, die er mir in die Hand drückte.
»Also dann, morgen Nacht etwa zur gleichen Zeit ?« fragte er. Ich nickte nur und stellte die Kaffeetasse neben mich auf die Kommode.
»Dann bringe ich meine Familie mit. Sie müssen auch nicht unbedingt aufstehen. Also nochmals herzlichen Dank für alles.« Und mit diesen Worten ließ er mich alleine.
Ich legte mich zu Bett und schlief bis spät in den Mittag hinein, alleine das vertraute Hämmern fehlte mir ein wenig.
Als ich aufwachte war mir die letzte Nacht so fern, wie ein alter Traum. Alleine das Loch in meinem Schlafzimmerboden und der kleine braune Haufen Bananenschalen auf meinem Küchentisch zerlöcherte den Schleier der Unwirklichkeit. Ich räumte ein wenig auf und verbrachte den restlichen Tag mit Gartenarbeit, die mir leicht von der Hand ging. Erst als es bereits dunkel wurde ging ich ins Haus zurück und goss mir eine Limonade ein. Ich setzte mich auf meinen Stuhl in der Küche und kam mir beinahe alleine vor. Meine Gedanken gingen zu dem nächtlichen Besucher und ich freute mich gar auf die Nacht, da er versprochen hatte wiederzukommen.
Er kam wieder und war nicht alleine. Ich hatte mir meinen Wecker natürlich rechtzeitig gestellt und saß somit gegen vier Uhr bereits frisch geduscht und diesmal dem Anlass angemessen gekleidet auf meiner Bettkante, als sich meine nächtlichen Besucher durch leises Getuschel ankündigten. Ich ging zu dem Loch hinüber und reichte dem ersten die Hand zur Hilfe. Es war mein vertrauter Besucher von letzter Nacht, der wieder in der selben Arbeitskleidung aus der Erde stieg. Er begrüßte mich mit einem festen Händedruck und half dann seinen Gefährten nach oben. Nacheinander erschienen zwei junge Buben, ein Mädchen und zuletzt eine erwachsene Frau. Seine Familie. Sie alle trugen normale, wenn auch sehr schmutzige, Kleidung, keine Sicherheitsschuhe oder einen Helm, wie es ihr Vater tat, und allesamt waren im Gesicht und unter den Fingernägeln schwarz und unwirtlich. Jeder schulterte einen prall gefüllten Rucksack, an denen sogar zusätzlich noch Pfannen, Töpfe und Decken hingen. Ich reichte jedem meiner Besucher einzelnen die Hand und wir wurden einander vorgestellt. Sogar die Kinder hatten sehr gut geartete Umgangsformen, was mir eine Freude war, und erst als ich die Familie in meine Küche geführt und ihnen Platz angeboten hatte bemerkte ich beim Anblick der Obstschüssel auf dem Tisch in ihren Augen ein unausgesprochenes Verlangen aufsteigen. Mit einem freundlichen Lächeln bot ich jedem an sich zu bedienen, was man mir herzlich dankte.
So saßen wir etliche Minuten in vereinzelten, aber angenehmen Gesprächen über Belangloses, ehe ich mich anbot Kaffee aufzukochen und den Kindern Limonade einzuschenken. Die Kinder hatten die kühle Limonade schneller geleert, als wir unseren Kaffee und so fragten sie mich höflich, ob sie etwas in den Garten spielen gehen durften. Ich wunderte mich ein wenig über den Wunsch inmitten der dunklen Nacht draußen spielen zu wollen, hatte aber natürlich nichts dagegen einzuwenden. Ihr Vater nickte ihnen ebenso zu, als erfülle er ihnen damit einen sehnlichen Wunsch, und so liefen sie aus der Tür hinaus. Wir Erwachsenen blieben am Tisch zurück und schauten durch das Küchenfenster den Kindern bei ihrem Spiel zu, während wir wortlos unseren Kaffee schlürften. Sie spielten Wettrennen, wobei sie von der Hauswand losliefen, bis hin zur großen Mauer sprinteten und dort kraftvoll abschlugen, um dann wieder am Haus angekommen das Ziel zu erreichen. Der ältere der beiden Jungen, welcher bereits auf der Hälfte der Strecke einen beachtlichen Vorsprung vor seinen beiden Geschwistern herausgearbeitet hatte, stieß sich bei der Mauerwende gar mit einem kraftvollen Sprungtritt ab, der ihn beinahe ins Stolpern brachte. Danach wurde noch Verstecken gespielt und ich hatte ein wenig Sorge um meine Blumenbeete, lächelte jedoch weiterhin wohlwollend meinen Besuchern zu.
Der Abschied kam mit Sonnenaufgang. An der Haustür gab man mir sich für alle Mühe bedankend die Hand. Ich nickte wieder nur und grinste wohlwollend. Die Frau und die Kinder hatten bereits meinen Vorgarten verlassen, als der Mann immer noch bei mir stand und meine Hand schüttelte. Der blickte mich aus seinem russschwarzen Gesicht heraus fest an und brummte: »Noch einmal Danke für ihre ganze Mühe. Und, nun, wenn es ihnen nichts ausmacht – sie werden verstehen....«, hier machte er eine kurze Sprechpause, ehe er in fast verschwörerischem Ton fortfuhr: »es werden in den nächsten Tagen noch ein paar Freunde und Verwandte nachkommen. Ich hoffe, dass sie das nicht allzu sehr stört ? « Ich versicherte ihm, dass es das keineswegs tue, ich mich im Gegenteil sogar darauf freue weitere solch nette Leute kennenzulernen wie die, die mich gerade verließ. Wir nickten uns freundschaftlich zu und mit einem kräftigen Schlag auf meine Schulter verschwand der Fremde im gleißenden Licht der aufgehenden Sonne.
Als ich die Tür wieder geschlossen hatte, ging ich zu meinem Kaffee zurück und fühlte erneut dieses Gefühl des Alleinseins, wie ich es nicht gekannt hatte, bis diese Menschen in meinem Haus aufgetaucht waren. Ich ging in den Garten hinaus und betrachtete im Morgenlicht meinen niedergetrampelten Rasen und einige abgeknickte Blumen, und das einzige was mich daran störte war, dass das Lachen der Kinder nun nicht mehr da war. Ich ging gar eine ganze Runde durch meinen Garten und schaute ab und an hinter Bäumen und Sträuchern nach, ob nicht doch eines der Kinder sich noch in seinem Versteck hielt, dass es beim spielen aufgesucht hatte. Dann, nachdem ich mich kurz umgeschaut hatte und mich natürlich unbeobachtet fand, schlug ich an der großen Mauer an und sprintete quer durch den Garten zurück zu meinem Haus.
Ich weiß nicht genau, ob sie – hochverehrter Herr – sich jemals in einer derartigen Situation befunden haben, dass eines Nachts eine solch herzliche Familie durch den Boden ihres Schlafzimmers in ihr Leben getreten ist. Nun, wenn sie etwas ähnliches bereits erlebt haben, dann können sie sich ja mit Sicherheit in meine Lage versetzten.
Ich verbrachte den restlichen Tag damit im Haus umherzulaufen und immer wieder an dem Loch im Schlafzimmer anzuhalten, um nachzusehen, ob sich nicht vielleicht etwas tat. Es war bereits später Nachmittag, als mir ein unangenehmer Gedanke kam. Was, wenn die Besucher zu einem Zeitpunkt in der Nacht kämen, an dem ich zufällig am Schlafen war. Ich konnte ja nicht die ganze Nacht über wachen, schließlich brauch selbst ein älterer Herr wie ich es bin einige Stunden Nachtruhe. Also setzte ich mich mit einer frischen Tasse Kaffee hin und überlegte mir, wie dieses Problem anzugehen war. Noch vor Sonnenuntergang hatte ich die Lösung. Ich ging hinaus in den Garten zu meinem Gartenhäuschen und zimmerte ein kopfkissengroßes Holzschild zusammen, dass ich mit roter Farbe, die noch von meiner letzten Gartenzaunstreichung übrig geblieben war, beschriftete.
Herzlich Willkommen! Bitte greifen sie zu und wecken sie mich doch!
Es sah wirklich gut aus. Dementsprechend freudig ging ich zu meinem Loch zurück und baute es daneben auf. Nun fehlte nur noch die Obstschüssel, die ich aus der Küche nahm und neben das Schild stellte. Ich lag schon im Bett als ich mich fragte, woher meine Besucher denn eigentlich kämen. Schließlich schienen sie zu arbeiten, während wir hier schliefen und sicherlich auch umgekehrt. All diese Fragen ließen mich zu dem Schluss kommen, dass sie wohl von einer anderen Seite der Erde kommen müssten, oder etwa inmitten derselben lebten, wo es keine sichtbaren Tageszeiten gab. Über all diese Gedanken schlief ich ein.
Die Tatsache, dass ich durch den Einwurf der Tageszeitung erwachte und nicht durch meinen erhofften Besuch geweckt wurde machte mir das Aufstehen schwer. Ich drehte mich in meinem Bett noch mehrmals hin und her und stellte erst nach etlichen Minuten meinen ersten Fuß auf den Boden.
Die halbleere Obstschüssel und die lehmigen Fußspuren von meinem Loch aus, quer über den Teppichboden bis zur Haustür hin, wo ich die Zeitung aufhob, hatte ich schon gesehen, als ich noch im Bett gelegen hatte. Es war kalt im Haus und das Feuer im Ofen flackerte nur noch sanft, bis ich die Zeitung hineinwarf und Holz nachlegte.
Auch dieser Tag hatte keine Besonderheiten zu bieten, so dass ich ihn damit verbrachte, etwas enttäuscht den Boden zu reinigen, Obst nachzufüllen und das Schild noch näher ans Loch heranzurücken. Die übrigen Stunden saß ich auf meiner Bettkante und schaute zu dem Loch hinüber um nachzudenken, warum die nächtlichen Besucher – denn den Fußspuren nach zu urteilen mussten es etwa drei gewesen sein – mich nicht wie erboten geweckt hatten. Die Lösung kam mir erst, als es draußen bereits wieder dunkel wurde und die Nacht alles Licht in meinem Schlafzimmer verschlang. Natürlich. Ehe ich mich zufrieden zu Bett legte stellte ich also einige lange Kerzen neben meinem Schild auf und vergaß auch nicht den Fußabtreter vor der Haustüre wegzunehmen, wo er ohnehin keine Verwendung fand, und neben das Loch zu legen.
Sie können sich wohl unschwer meine Enttäuschung vorstellen, als ich auch diese Nacht nicht geweckt wurde und am nächsten Morgen dennoch aufs Neue feststellen musste, dass ich wieder nächtlichen Besuch gehabt hatte. Wenigstens fand ich diesmal in der nahezu leeren Obstschüssel einen kleinen Zettel mit weiblicher Handschrift liegen, der mir mit einfachen Worten den ergebensten Dank seines Ausstellers und dessen Familie versicherte. Ich legte das Papier auf die Kommode, klopfte den schmutzigen Fußabtreter im Garten aus und –
Sie mögen mir verzeihen, wenn ich mich ab und an in vermeintlichen Nebensächlichkeiten verliere, doch bin ich noch heute von den Ereignissen jener Tage beziehungsweise Nächte so gefangen, wie ich es durch deren Folge wortwörtlich wurde. Gerade habe ich mein Abendbrot zu mir genommen und bald wird das Licht gelöscht werden, so dass ich mich nun etwas kürzer zu fassen versuche, vor allem da ich diesen Brief noch morgen mit der Frühpost abzuschicken gedenke.
An diesem Tag regnete es. Tropfen um Tropfen lief die Scheiben hinunter, Stunde um Stunde entrann, da trieb mich dieses Gefühl, da fasste ich mir Mut und so kleidete ich mich fürs Ungewisse. Gleich als ich dies tun wollte stand ich vor dem ersten Problem. Die Kleidung. Bald zog ich also kurze Sachen an, und nahm in einem Rucksack dicke Winterkleidung mit, weil ich zwar wusste, dass es zum Mittelpunkt der Erde hin immer heißer wird, nicht aber wissen konnte, ob es mich nicht doch zu einem kalten Erdteil verschlagen würde. Den restlichen Platz in meinem Rucksack nutze ich für ausreichend Nahrung. Wasser und vor allen Dingen Bananen, da diese offensichtlich die nötige Energie lieferten und wahrscheinlich gar dort wo ich hingehen würde beim Tauschen um einiges mehr wert sein könnten, als mein Geld. Eine alte Öllampe zur Hand stieg ich hinab in die Erde.
Der unterirdische Weg war gerade so hoch, dass man stark gebückt darin gehen konnte. Er verlief stetig geradeaus und verlor sich in der Dunkelheit außerhalb meines Lichtkreises. So ging ich immerfort und mein Rücken begann langsam zu schmerzen, so dass ich mir eine kurze Rast im Sitzen gönnen wollte, als mich Tageslicht überraschte. Erstaunt blieb ich stehen, ging auf die Knie und schaute angestrengt nach vorne um zu sehen, ob ich mich nicht vielleicht doch getäuscht hatte. Doch tatsächlich schien dort vorne bereits das Ende des Tunnels erreicht. Ich losch noch meine Lampe um sicher zu gehen und ward es. So beschleunigte ich meine Schritte und atmete rascher die feuchte Erdluft. Im ganzen war ich wohl kaum länger als zehn Minuten und zweihundert Meter gegangen, als ich aus der Erde wieder herauskroch. Wo ? Nun. Ich stieg aus dem Loch heraus und fand mich umgeben von Müllbergen.
Von dort wo ich ausgestiegen war führte ein fahrbares Beförderungsband schräg hinauf in den Himmel bis hin zu der Spitze des Berges neben mir, der sich von den anderen nur dadurch unterschied, dass er aus deutlich mehr Erde bestand. Ich kletterte also zwischen den Bergen umher, wo noch mehrere solcher Beförderungsbänder standen, bis ich mich schließlich auf einem leeren Platz wiederfand, der von tiefen Räderspuren schwerer Maschinen zerfurcht war. Am Rande dieses Platzes stand eine kleine Bretterbude, deren Tür geöffnet war, und neben der ein kleines, schwarzes Auto parkte. Das Auto war sauber poliert und mochte nicht ganz zu seiner Umgebung passen. Ich ging also vorsichtig zu der Hütte hin und blieb vor der offenen Türe stehen, um hineinzuspähen – da überraschte mich eine männliche Stimme von irgendwo hinter mir.
»He, sie da ! Stehenbleiben !« Ich drehte mich um und sah zwei in Anzüge gekleidete Männer, die gelbe Gummistiefel trugen, hinter einem Müllberg hervorkommen. Mit aufgeregten Gesichtern und großen Schritten, als wateten sie in sumpfigem Moor kamen sie auf mich zu. Ich streckte ihnen meine Hand entgegen, die man jedoch übersah.
»Jö, wer sind denn sie ? Ün wo kömmen sie jetzt her ? «, sagte der ältere der beiden Männer zu mir und blickte grimmig auf meinen Rucksack und die Öllampe in meiner Hand. Ich wollte gerade antworten, als mich der andere daran hinderte:
»Jetzt ham mer also eenen erwischt, Inflagrantie sözusachen ! Ziehns mal flött den Rücksack ös un lechens die Hände üfn Wachen. Beide ! Lös, sofört !« Ich war nur kurz erstaunt über die merkwürdige Sprache die man hier sprach, viel mehr war ich überrascht über die groben Sitten der beiden Männer und noch mehr als ich sah, dass der ältere der beiden unterdessen eine Pistole gezogen hatte und in den Händen hielt.
»Hören sie, ich verstehe nicht ganz was das hier soll. Ich bin eben erst da hinten ...«
»Do hinten ? Aha ! Sind da öch da Müllhaldenwächder ün seene Baggasche durch ? Hä? Wö gehnse durch, ün wie ? Hä ? Rädens, früher ödder später müssens eh gestähn ! «
»Ich bin nur – dort hinten am Fuß dieses Förderbandes aus dem Loch –«
»A Dunnel alsö – naddürlich ! Dobei war da Genosse Haldenwächder zeitlebens e Müsterpersön. Sonst hädde man ihn jo och nie sö nah am Wall obeiden gelassen ! Un nü ! Un nü ! Mit Sack ün Pack rüwwergemacht ! Zeichens uns da Dünnel, lös !« Man stieß mich unsanft über den Platz, dem Eingang des Tunnels entgegen und schnitt mir jeden Erklärungsversuch mit barschen ö-Lauten ab. Nachdem man den Tunnel kurz in Augenschein genommen hatte, stieß man mich wieder zurück zum Auto und drückte mich mit der Hand auf meinem Kopf auf den Rücksitz. Wir fuhren los und kamen, kaum hatten wir die Halde verlassen, auf eine betonierte Straße. Durch einen kahlen, etwa fünfzig Meter breiten Rasenstreifen getrennt, ging sie stetig an einer langen und hohen Mauer entlang, die kein Ende zu finden schien.
Wir fuhren schweigend, ich hatte zwar noch zweimal versucht meinen Standpunkt zu klären und meine Verwunderung auszudrücken, was jedoch beide Male mit: »Des können se bald eenem anderen erzählen.«, vereitelt wurde.
Und nun sitze ich hier in meiner Zelle bereits mehrere Tage, und noch immer hatte ich nicht die Möglichkeit mich zu erklären. Der Wächter, der mir mein Essen bringt hat mir dann gestern den Hinweis gegeben, mich an sie zu wenden.
»Wenn se net warten können bis sich de Sache geklärt hat, dann schreibense doch ön ihren Könzler, wensne denken der kann ihnen `elfen !« Der Wächter lächelte dabei verschmitzt und lachte dann beinahe, als ich mich nach ihrem Namen erkundigte. Doch gab er ihn bereitwillig preis. »Na Helmüt Köhl - ün sie wöllen beaubden von drüwen ze seen ! Se sinn schon e Spassvochel !«
So wende ich mich, werter Herr, nun also an sie. Auch wenn ich sie nicht kenne und ich nichts mehr über sie weiß, als dass sie „für uns alle drüben“ zuständig sein sollen, sind sie dennoch meine einzige Hoffnung. Steht es in ihrer Macht sich mir anzunehmen und haben sie womöglich die Güte dies auch zu tun ? Sie könnten sich meines ewigen Dankes sicher sein ! In Hoffnung auf eine baldige Antwort verbleibe ich,
Ihr ergebener W.D.