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Nachts an der Brücke
Das Hauptsignal sprang auf grün um. Ich hatte den Kopf in die Hände gestützt und blickte überascht und erleichtert auf. Endlich. Zehn Minuten hatte ich hier herumstehen müssen.
Und ich Esel hatte mir nichts zum Lesen eingepackt. Ich hätte es mir doch denken können, das ich heute öfters mal rot kriege. Schneetreiben, vereiste Fahrdrähte, das totale Chaos. Jetzt gegen Mitternacht lösten sich die Staus langsam auf. Ich hatte es noch in den Nachrichten gesehen, das das Rote Kreuz die Passagiere eines stecken gebliebenen Regionalexpresses mit heißen Getränken versorgte. Das totale Chaos, ich war froh das ich Nachtschicht hatte.
Ich griff mir den Hebel des Führerbremsventils, legte ihn nach vorn um, hörte wie hinter mir im Maschinenraum der Kompressor zu heulen und zu klopfen begann. Ich beobachtete die Nadel des Manometers für den Luftdruck in der Hauptbremsleitung, wie sie langsam nach oben stieg. Ich sprach beschwörend auf sie ein sich zu beeilen. Ich wollte endlich weiter kommen, meinen pünktlichen Feierabend konnte ich mir sowieso abschminken.
Zehn Minuten hatte ich hier fest gesessen. Ich wusste nicht, wie ich das je wieder aufholen sollte.
Ich drehte den Fahrschalter langsam zu mir heran, die Lok kam ins Rollen, wurde langsam schneller. Bei jeder Stufe, die ich den Fahrmotoren mehr Strom gab hörte ich das Krachen und Knallen des Schaltwerks, wenn die Schütze anzogen.
Das anschwellende Singen der Fahrmotoren beruhigte meine angespannten Nerven, jetzt ging es wieder vorwärts. Der Wind pfiff zusehends stärker durch den schmalen Fensterspalt.
Draussen stand die bleiche runde Scheibe des Vollmodes dicht über dem Horizont, ihr bleiches Licht schien auf die glitzernde Schneedecke herab, aus der nur hier und dort mal ein Baum heraus ragte. Weit hinten konnte ich ein Dorf mit seinen hell erleuchteten Fenstern erkennen, das rote Warnlicht an der Spitze eines Sendemastens und natürlich auch in einigen der Fenster die übliche kitschige bunt blinkende Weihnachtsbeleuchtung.
Alle 50 Meter rauschte das schmale stählerne Gerippe eines Fahrdrahtmastens an mir vorbei, alle 200 Meter eine im Scheinwerferlicht reflektierende Hektometertafel, die mir den Kilometerstand für den Buchfahrplan anzeigten, in dem alle Haltepunkte, Signale und Tempolimits eingezeichnet sind.
Sonst war die Landschaft kahl. Im Sommer grasten hier Kühe auf dem weitläufigen Weideland, wuchs Weizen und Zuckerrüben.
Ich kam über eine kurze Brücke mit einem zugefrorenen Wassergraben darunter.
Hier durfte ich 100 KmH schnell fahren. Ich drehte den Fahrtregler weiter auf, das Schaltwerk Krachte und Knallte, ab und an sah ich im Augenwinkel wie das bläuliche Funkenschlagen des Stromabnehmers am Fahrdraht der Oberleitung sich im Schnee reflektierte.
Ich näherte mich einem Bahnübergang, schon von weitem sah ich das einsame Auto, das dort hinter der geschlossenen Schranke wartete. In dem Moment war ich froh nicht der einizige zu sein, der hier zu nächtlicher Stunde in dieser gottverlassenen Einsamkeit herumkurvte. Neidisch dachte ich daran, das er wohl Radio hören würde, oder ein Tape abspielte, sich fetzige Musik reinzog, während es mir verboten war.
Wenn man stundenlang fährt, mal kein abgelöster Kollege vorn mitfährt, mit dem man ein kleines Schwätzchen halten kann, ist es sehr einsam. Einsamkeit ist ein ständiger Begleiter eines Lokführers. Und die wechselnden Schichten sind eine harte Probe für jede Beziehung.
Im Näherkommen erkannte ich das Auto als einen alten Renault Clio. Da fiel mir schmerzlich ein, das meine Ex - Freundin genaus so einen gehabt hatte, und als ich fast auf selber Höhe mit dem Renault war sah ich auch das er die selben Radkappen hatte.
Das wird doch nicht sein, schoss es mir durch den Kopf. Aber was hätte sie auch in dieser Gegend schon verloren? Oder ein neuer Freund? Ich war zu schnell, und der Mond reflektierte sich in der dunklen Windschutzscheibe. Ich konnte nichts sehen, obwohl ich versuchte etwas zu erkennen. War das Melli? Fuhr sie zu ihrem neuen Freund?
Ich ballte unbewusst die Fäuste am Fahrtregler enger zusammen. Dann griff ich nach rechts unten in meinen Lokführerrucksack und zog mir meine Thermoskanne hervor.
Heißer Kaffe. Ich hoffte, das es meine Stimmung etwas heben würde.
Ich passierte das kleine sechseckige Betonhäuschen, in dem die Elektrik des Bahnübergangs untergebracht war. Jetzt würde meine Ex die lange Schlange von Schüttwagen zu sehen bekommen, die ich hinter mir her zog. Wenn sie es denn war.
Vielleicht würde sie sich jetzt daran erinnern, das ihr Ex bei der DB Cargo ist und vielleicht daran denken das ich in der Lok sitzen könnte, die sie eben gesehen hatte.
Aus, vorbei. Ich mochte nicht weiter daran denken, sondern schraubte den Alubecher von der Kanne, plazierte ihn vor mir auf dem Schaltpult und goss den dampfenden Kaffee ein. Schwarz wie die Nacht, so trank ich ihn am liebsten.
Ich schraubte die Kanne wieder fest zu und stellte sie in den Rucksack zurück, angelte mit den Fingern dann nach der Brotbüchse, in die ich mir ein paar Bananen eingepackt hatte. Um mir Brote zu schmieren, dazu hatte die Zeit nicht mehr gereicht.
Der Kaffee tat gut, ich trank den Becher schluckweise leer und nahm mir anschließend eine Banane, zog ihr die Schale aus und aß sie langsam.
Die Schale warf ich aus dem Fenster.
Ich näherte ich mich der Autobahnbrücke. Ich sah die Kolonnen von Scheinwerfern schon von weitem darauf, erkannte das es überwiegend Lastwagen waren.
Die Brücke selbst war älterer Bauweise, die Pfeiler und die gemauerten Rundbögen bestanden aus grob gehauenem Sandstein. Im Näherkommen türmte sie sich immer höher vor mir auf, ich schätzte sie auf gute 40 meter, sie überspannte das Tal auf ganzer Breite.
Mein Finger blätterte den Ringbuchblock des Buchfahrplans um, ich spähte kurz auf die nächste Zeile. Dann griff ich in die Brotbox, um mir eine neue Banane zu nehmen.
Und dann kam ich an die Brücke. Hoch oben die Lichter der LKW, unten ich mit meinem Güterzug. Ich biss ein großes Stück der Banane ab und packte den Rest in die Schale ein, legte es vor mich hin.
Ich beugte mich ein wenig nach rechts, steckte meine Hand in den Rucksack und suchte tastend nach der Colaflasche, die ich mir kurz vor Dienstantritt noch schnell an der Tankstelle gekauft hatte. Ich fasste sie an ihrem Verschluss und zog sie nach oben.
Dabei hatte ich ein Auge auf die Strecke vor mir gerichtet, es ging um eine Kurve, und die 300 - Meter Bake deutete auf ein Vorsignal hin, das ich so noch nicht sehen konnte.
Ich wollte mich gerade wieder aufrichten, als ich den Schatten neben einem der Brückenpfeiler sah. Ich erschrak. Wo war der plötzlich her gekommen? Er musste hinter dem Brückenpfeiler gestanden haben, wo ich ihn nicht sehen konnte.
Der Schreck fuhr mir wie ein Eisregen durch den Körper, ich ließ die Flasche fallen, griff mir stattdessen den Pfeiffhebel, zog ein paar mal kräftig daran. Durch das Dröhnen der Lüfter und dem Rumpeln der Räder hörte ich das Pfeiffen kaum, ich weiß aber das es furchtbar laut ist, wie alles an dieser Lok.
Der Schatten stand noch immer dort, und ich vor der Entscheidung ob ich bremsen soll oder nicht. Der Schweiß brach mir aus, es waren vielleicht noch 40 Meter oder weniger. Meine Hand fuhr zum roten Hebel der Notbremse. Mit der anderen riss ich immer wieder am Pfeiffhebel. Verpiss dich da, Mann!
Vielleicht war er einer von diesen "Knipskaspern", ging es mir kurz beruhigend durch den Kopf, die bei Wind und Wetter an Bahnstrecken lauerten, um zu fotografieren.
Der Schatten wurd eim Licht meiner Scheinwerfer immer mehr zum massigen Körper eines recht korpulenten Mannes. Ich sah plötzlich sein gerötetes Gesicht, die Pudelmütze, die er auf dem Kopf trug, und dann wie er einen großen Schritt nach vorn machte.
Auf das Gleis.
Mein Magen zog sich zu einem Eisklumpen zusammen, meine Hand schlug krachend auf den Sandschalter, die andere riss den Hebel der Notbremse herum.
Ich hörte das Ohrenbetäubende Fauchen der Pressluft, sah wie die Manometeranzeigen nach unten schossen, Ich wurde mit einem Mal nach vorn gepresst, meine Magengrube drückte sich schmerzhaft gegen den Fahrtregler, mit beiden Händen suchte ich nach Halt, doch sie fuhren nur ziellos in der Luft herum. Ich hörte wie mir der Hauptschalter rausflog, das Singen der Fahrmotoren abschwoll, wie noch immer die Pressluft zischte und fauchte.
Und im selben Moment hörte ich auch schon den lauten, dumpfen, klatschenden Schlag, der irgendwie alles übertönte.
Ich hatte das Gefühl als würde mir sämtliches Blut aus dem Kopf entweichen, hätte ich nicht gesessen wäre ich umgekippt. Das ist es also. Jetzt ist es dir passiert! Ging es mir durch den Kopf. Der hunderte von Tonnen schwere Zug schob die Lok noch immer von hinten an, obwohl die Luft aus sämtlichen Bremsen entwichen war, die Federspeicher entlüftet, die Bremsklötze funkensprühend gegen die Schleiflager und Radreifen pressten. Mir ging durch den Kopf, das es ewig dauern würde bis der Luftdruck wieder aufgebaut sein würde. Noch immer wurde ich hart gegen die Konsole gequetscht, der leere Kaffeebecher kippte um und rollte herunter, fiel scheppernd auf den Fußboden, rollte irgendwo hin. Der eiskalte Schweiß brach mir aus allen Poren.
Ich weiß nicht wie lang es dauerte, bis die der zug zum Stehen gekommen war, noch wie ich den Notruf über den Zugbahnfunk abgesetzt hab. Ich weiß nur noch wie ich die Tür mit zitternder Hand öffnete, aus dem Wandschrank die Taschenlampe und den Verbandskasten gezogen hab und aus der Lok gestiegen bin. Ich stand zitternd unten auf dem Schotter, hatte keine Jacke an, nur das Hemd, hatte gar nicht dran gedacht sie mir über zu ziehen. Ich wollte nicht nach vorn gehen, wollte nicht die Beule in der Karosse sehen, Blutspritzer und Haare... Man hatte mir erklärt, das es einen unter den Zug saugt. Das man verpflichtet war nach hinten zu gehen und nach zu sehen, ob man noch etwas tun kann. Ich hatte knapp 90 auf dem Tacho, wie ich abschätzte.
Ich hatte Mühe mit meinen zitternden Händen die Taschenlampe anzuknipsen, und meinen Füßen zu befehlen nach hinten zu gehen. Ich wollte das nicht sehen.
Es bricht einem sämtliche Knochen im Leib, es kann einen förmlich zerfetzen.
Der Lichtkegel der der Lampe ging zitternd vor mir her, schwang unter die Lok, dann unter die Wagen. Ich sah nur weißen Schnee, alle halbe Meter einen Buckel, unter dem die Gleisschnwellen liegen. Ich sah wie es den Schnee verweht hatte neben dem Gleis, ich roch den Gestank nach heißem Metall, der von den Bremsen aufstieg.
Weißen Schnee, kein Blut. Der müßte doch geblutet haben, nachdem es ihn herunter gerissen hatte?
Meine Knie waren weich, ich hatte das Gefühl gleich in den Schnee zu sacken.
Das Laufen auf dem Schotterdamm war mühsam, ständig rutschten die Steine unter dem Schnee weg, ich kam immer wieder ins Straucheln.
Der Lichtkegel tanzte zitternd unter jeden Waggon, an dem ich vorbei ging. Ich leuchtete zwischen die Achsen an den Drehgestellen, unter die Wagen, doch noch immer war der Schnee weiß.
Bis ich das Ende meines Zugs erreichte. Im Schein der Schlussleuchten schimmerte der Schnee rosa, ich ließ den Kegel meiner Lampe über das hinter mir liegende Gleis wandern. Nichts. Ganz hinten wurde es dunkel, dort wo das Licht nicht mehr hin langte.
Ich sah die Lichter der LKW auf der Brücke, gute 300 - 400 Meter hinter mir.
Ich stand fassungslos da, während ich plötzlich hinter mir Stimmen hörte.
Ich drehte mich ruckartig um, sah die Lichter von mehereren Taschenlampen suchend durch den Schnee gleiten, bis mich schließlich einer erfasste.
Ich blieb einfach nur stehen, fühlte mich wie versteinert. Zwei Männer in der grünen Uniform des Bundesgrenzschutzes kamen auf mich zu. Ich merkte gar nichts mehr, nicht einmal mehr das ich fror, das mir kalt war, das mir die Zähne aufeinander klapperten. Der eine der mit mir sprach hatte eine sehr tiefe, ruhige Stimme. Ich konnte gar nicht aufnehmen, nicht registrieren, was er sagte. Ich merkte nur wie er mir stützend an den linken Oberarm und unter die Schulter griff, als wir losgingen und ich ins Taumeln geriet.
Der Beamte wußte noch immer nicht, wie er es dem jungen Lokführer erklären sollte.
Er warf einen fragenden Blick auf den Notarzt, der sich seiner angenommen hatte, sah wie sie ihn in den Krankenwagen führten, völlig unter Schock stehend.
Wie sollte er es ihm nur erklären?
Denn an jener Brücke passierte es immer in kalten, klaren Winternächten.
Es war nun beinahe 20 Jahre her, als sich ein junger Mann hier unter dieser
Brücke aus Liebeskummer das Leben genommen hatte.
Und natürlich würden sie auch dieses Mal keine Leiche unter dem Zug finden,
so wie immer seit nun beinahe 20 Jahren...