- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Nachts am Fluss
Nachts am Fluss
Ihre Wohnung. Juli. Weit nach Mitternacht
Die Nacht war drückend heiß und schwül. Obwohl ich nackt auf dem Bett lag, schwitzte ich. Aus der Dunkelheit hörte ich das feine Schwirren von Moskitos.
»Tim, bist du wach?«
»So halb.«
»Ich kann in der Hitze nicht pennen. Möchtest du mit mir schlafen?«
»Gerne.«
Wir liebten uns in dieser Nacht so, als sei es für uns beide die letzte Gelegenheit, bevor wir ertrinken würden. Unsere Körper harmonierten perfekt miteinander. Wir brauchten keine überflüssigen Worte zu verlieren. Sie verschaffte mir totale Befriedigung, forderte aber ihrerseits ihre Orgasmen ein. Die größte Euphorie verspürte ich, wenn wir gemeinsam zum Höhepunkt gelangten. Sie empfand das genauso. In diesem Moment ging ein Zittern von meinem durch ihren Leib. So, als ob wir für den Bruchteil eines Wimpernschlags zu einem einzigen Wesen zusammenschmelzen würden. Dann ließen wir erschöpft voneinander ab.
»Tim, ich muss dir was sagen.«
Ich schwieg.
»Hörst du mir überhaupt zu?«
»Tue ich.«
»Es ist Schluss mit uns beiden.«
»Okay.«
»Wie okay? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Wir haben oft darüber gesprochen. Es gibt nichts Neues mehr zu diskutieren. Ich habe es verstanden.«
»Es ist echt schöner Sex mit dir. Aber das ist auf Dauer zu wenig. Ich habe zwei kleine Kinder. Die benötigen eine verantwortungsbewusste Vaterfigur. Da bist du der Falsche. Verstehst du das?«
»Ist schon in Ordnung.«
»Du bist mir doch nicht böse deswegen? Aber ich muss auch an die Zukunft denken. Lass uns Freunde bleiben. Wir können ja ab und an einen Kaffee zusammen trinken. «
»Von mir aus.«
»Was tust du da? Warum ziehst du dich an?«
»Ich gehe.«
»Jetzt? Es ist mitten in der Nacht. Bleib doch noch zum Frühstück.«
»Ist besser so.«
»Wenn du unbedingt willst. Aber pass auf dich auf. Du hast viel getrunken gestern Abend.«
Was geht dich das noch an, ob ich mir was antue? Du bist weder meine Mutter noch meine Frau. Lass mich zufrieden!
Ich lenkte meine Schritte hinunter zum Fluss. Hin zu meiner Lieblingsbank, von der aus ich zu meiner Rechten die Silhouette der Stadt und links die Wälder des großen Parks am Stadtrand erkennen konnte. Es war ruhig. Nahezu totenstill. Um diese Uhrzeit waren keine Spaziergänger unterwegs. Die Schiffe würden erst in einigen Stunden ihre Fahrt wieder aufnehmen. Ich fasste in die Innenseite meiner Jacke und ertastete zwei kleine Flaschen Wodka. Ich ließ einen Nullzweier meine Kehle hinunterrinnen. Der Alkohol verteilte sich in meiner Blutbahn und verströmte eine angenehme Wärme in meinem Körper.
Das war’s dann also gewesen. Aus und vorbei. Und das kurz nach unserem ersten Jahrestag. Weil sie halt einen Ernährer für sich und ihre Kinder suchte. Und das fiel ihr über zwölf Monate später ein. Weshalb hatte sie sich das nicht überlegt, bevor wir ein Paar geworden waren? Na ja, es war halt nun mal so gelaufen. Das konnte ich jetzt auch nicht mehr ändern. Ich warf die leere Flasche weit in den Fluss hinein. Wie sollte es weitergehen? Ich spürte, dass ein weiterer Abschnitt meines Lebens unweigerlich sein Ende gefunden hatte. Das Kapitel mit den Frauen wurde heute Nacht geschlossen. Mein Maß war voll. Sie war die letzte in einer langen Reihe von Freundinnen gewesen, bei denen ich Gefühle investiert hatte. Es würde nie mehr geschehen. Darüber war ich mir in diesem Moment nahezu sicher. Es war bereits ihr nur noch mit großer Überredungskunst gelungen, mich aus meiner Einsamkeit herauszulösen und ins pralle Leben zurückzuführen. Ich war nach langen Jahren zu der Erkenntnis gelangt, dass ich den Frauen nicht guttat. Anfangs versprachen sie sich viel von mir. Gingen mit mir aus, erfreuten sich an meinem Körper und an meiner Liebe. Um dann nach einiger Zeit festzustellen, dass ich doch nicht in ihr Leben passte. Wie viele Trennungen hatte ich in den vergangenen dreißig Jahren hinter mich gebracht? Ich konnte die Freundschaften nicht mehr zählen. Was nützte mir der beste Sex, wenn er mir letztlich doch keine dauerhaften Partnerschaften bescherte? Lag es daran, dass ich auch in einer Beziehung eigentlich lieber alleine sein wollte? Emma hatte es früher so ausgedrückt: »Du bist ein Fisch. Ich bekomme dich einfach nicht zu packen. Dein Körper liegt neben mir in diesem Bett. Aber dein Geist ist ganz woanders«. Vor vielen Jahren hatte ich Fra Bartolomeo beim Trampen in Umbrien kennengelernt. Er nahm mich mit in sein Kloster in der Nähe von Assisi, in dem ich eine komplette Woche verbrachte. Obwohl ich kein gläubiger Mensch war, machten die Freundlichkeit und Spiritualität der Franziskanerbrüder einen bleibenden Eindruck auf mich. Schon damals kamen Zweifel an meinem lockeren Lebenswandel in mir hoch. Ich verscheuchte die trüben Gedanken und feierte eine Woche lang Partys in Rimini. Mein Weg zu Gott war eben ein anderer als der, den die Priester beschritten.
Gedankenverloren nahm ich einen Kiesel in die Hand und wollte ihn ebenfalls weit hinaus in den Fluss schleudern. Da erinnerte ich mich der Worte des Mönchs: »Wenn ein Abschnitt zu Ende geht, dann sammele einen Stein und bewahre ihn in einer Schale auf. Auf deinem Totenbett wirst du an ihnen erkennen, wie viele Phasen du durchlebt hast«. Ich ließ den kleinen Brocken in meine Tasche gleiten. Was werde ich nun anstellen? Die Partnerschaft war beendet. Ein für alle Mal. An den Spruch Lass uns gute Freunde bleiben, glaubte ich nicht. Der war schnell so daher gesagt. Eine Floskel, um den schmerzhaften Abschied irgendwie abzumildern. Wie sollte sich glühende Liebe am Tag darauf in eine platonische Beziehung verwandeln? So was klappte nie. Ich verspürte auch keinerlei Lust, es dieses Mal auszuprobieren. Vorbei war vorbei. Ich hatte die Trennung schon lange geahnt. Seit einigen Wochen sogar vorhergesehen. Wir waren nur noch deshalb zusammen geblieben, weil keiner von uns sich getraut hatte, den Satz C’est fini auszusprechen. Heute Nacht war es nun geschehen. Und das war auch gut so. Sie hatte mir zum Abschied noch einmal ihren Körper angeboten. Ich hatte unseren letzten Sex genossen, und nun war es eben erledigt. Mein Verstand hatte sich mit dem Abschied schon längst abgefunden. Einzig meine Emotionen hinkten hinterher. Ich hasste es, wenn meine Gefühlswelt aus den Fugen geriet.
Der Mahner in mir meldete sich: Sei froh, dass es so gekommen ist. Es hätte noch schlimmer ausgehen können. Akzeptiere ihre Entscheidung und sortiere dein Leben von Grund auf neu. Ich schrie ihn an: »Was weißt du schon von Liebe und Glück? Du bist nur mein langweiliges Gewissen. Lass mich in Ruhe«. Er erwiderte: Du verwechselst Liebe mit Sex. Alle deine Frauen sagen es dir. Höre auf sie. Besinne dich auf dich selbst und geh endlich in eine Therapie. Mich packte Zorn, Tränen stiegen mir in die Augen. Ich riss Grasbüschel aus der Wiese und trocknete mein Gesicht. Vom Fluss aufsteigend raunte mir eine verführerische Stimme zu: »Was grämst du dich, Fisch? Steige hinab in meine dunklen Tiefen und finde dort dein Vergessen«. Ich ging ans Ufer und starrte auf die schwarzen Wellen des Stroms. Nach einem kurzen Moment drehte ich mich abrupt um. Ich war noch nicht so weit. Bis jetzt spielte ich mit dem Tod oder er mit mir. Mein Vater hatte vor einiger Zeit zu mir gesagt: »Früher haben sich Männer in deiner Situation erschossen«. Mir war bis heute nicht klar, ob er diese Worte bloß zum Spaß oder doch ernst an mich gerichtet hatte. Ich wollte aber in diesem Moment nicht sterben. Wozu auch? Wer garantierte mir, dass es mir im Jenseits besser gehen würde als auf dieser elenden Erde? Vielleicht würde mich Gott bis in alle Ewigkeit mit meinen Sünden konfrontieren. Ob er vorhatte, mir zu vergeben? Wahrscheinlich war ich so unwichtig, dass er sich überhaupt nicht mit mir beschäftigen würde. Dann lieber noch ein paar Jahre weiter leben. In welcher Form auch immer. Ich öffnete den zweiten Wodka und trank ihn in einem Zug aus.
Mein Telefon klingelte. Wer rief mich um diese nachtschlafende Uhrzeit an? Mit trüben Augen starrte ich auf’s Display. Es war sie. Was wollte sie von mir? Reden. Wozu? Es war alles gesagt worden. Zudem würde sie mir vorhalten, dass ich lallte. Das würde mich noch mehr abfucken, als ich es ohnehin schon war. Sie blieb hartnäckig. Das Dreckshandy läutete sage und schreibe ein Dutzend Mal, bis es endlich verstummte. Ein weiterer Ton erklang. Nun war eine SMS eingegangen. Mühsam entzifferte ich: Wo bist du? Lass uns gemeinsam frühstücken. Ich mache mir Sorgen um dich. Ich schmiss das Teil in hohem Bogen in die Fluten. Danach fühlte ich mich wohler.
Wie würde es nun weitergehen? Ich beschloss, das zu tun, was ich im Falle solcher Trennungen immer gemacht hatte: mich zu betrinken. Den Schmerz solange zu betäuben, bis mir alles egal geworden war. Die Vorhänge meines Appartements zuzuziehen, mich aufs Sofa zu legen und tagelang volllaufen zu lassen. Bis irgendwann die körperlichen Qualen die seelischen überlagerten. Es war ein ruppiger – aber durchaus bewährter – Weg der Reinigung. Ähnlich wie ein Fasten, das man durch Abführmittel beschleunigt. Wie lange würde es dauern, bis ein Neuer meinen Platz eingenommen hatte? Sie war niemand, der gerne alleine blieb. Wahrscheinlich war bereits heute Abend mein Platz in ihrem Bett an meinen Nachfolger vergeben. Irgendeinen gutbetuchten Steuerberater aus einer dieser Akademikerbörsen im Internet. Bei diesem Gedanken schüttelte es mich. Mein Herz klopfte bis in meine Schläfen hinein. Brechreiz überkam mich. Ich war kurz davor, mich zu übergeben. Und erneut haderte ich mit mir selbst. Eifersucht war eines der Gefühle, das ich am meisten verabscheute. Invidia: eine der sieben Todsünden. Sie strangulierte einen wie ein tollwütiger Krake. Nahm mir die Luft zum Atmen. Und ließ einen dann für Wochen nicht mehr los. Ich sprang von der Bank auf und schüttelte mich. Ich wollte diesen niederen Instinkt auf keinen Fall an mich heranlassen.
Der Morgen dämmerte herauf. Die ersten Sonnenstrahlen ließen vermuten, dass es auch heute wieder ein heißer Tag werden würde. Ich marschierte zur nächsten Tankstelle und deckte mich dort mit Vorräten ein.
Zehn Tage später
»Hallo, Herr Keller. Schön, dass Sie endlich wieder zu sich kommen.«
Über mir stand Schwester Veronika. Von uns liebevoll Black Mamba genannt. Wegen ihrer Vorliebe für hautenge schwarze Bodies. Ich freute mich, sie zu sehen.
»Wissen Sie überhaupt, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Keinen blassen Dunst.«
»Wir haben sie mehr tot als lebendig vorgestern aus Ihrer Wohnung rausgeholt. Das war allerletzte Eisenbahn. Sie wären beinahe abgekratzt.«
»Klingt übel.«
»Da sagen Sie was. Ruhen Sie sich aus, und kommen Sie langsam wieder auf die Beine. Medikamente bringe ich Ihnen gleich vorbei.«
Der Tod hatte mich also auch dieses Mal verschont. Er wollte mich einfach nicht mitnehmen. Weshalb? Weil ihm Komasaufen zu simpel war? Nicht dramatisch genug? Warum konnte ich nicht für immer einschlafen? Musste ich erst an meinem Erbrochenen ersticken? Oder betrunken vom Balkon in einen Müllcontainer fallen? Standen mir als Fisch – ähnlich wie der Katze – vielleicht sieben Leben zur Verfügung? Wie viele davon hatte ich mittlerweile aufgebraucht?
Der Entzug setzte nun mit aller Gewalt ein. Nahezu alle Körperfunktionen spielten verrückt. Ich drückte auf den Alarmknopf. Hoffentlich beeilte sich Veronika mit den Pillen. Andernfalls würde ich den heutigen Abend sicherlich nicht mehr erleben.
Was war mit ihr? Spürte ich noch Liebeskummer oder gar Eifersucht? Nein, ich war emotional vollkommen kalt. Ich konnte mich nur schemenhaft an die vergangenen Monate mit ihr erinnern. Das Höllenexperiment mit dem Alkohol hatte wie ein Exorzismus auf mich gewirkt. Der Dämon war aus meinem Gedächtnis getilgt. Hoffentlich für immer. In meiner Hosentasche entdeckte ich den Kiesel. Ein Abschnitt meines Lebens war unwiderruflich vorbei.