- Beitritt
- 23.08.2001
- Beiträge
- 2.936
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 32
Nachtmahl
Exakt mit dem zwölften Glockenschlag erwachte sie.
Mitternacht.
Ihre Zunge klebte am Gaumen, sie hatte Durst. Einen mörderischen Durst. Langsam erhob sie sich, streckte knackend ihre müden Knochen und setzte sich auf die Bettkante. Sie sah sich um und stand schließlich auf. Es war kalt geworden, und so zog sie einen schwarzen Umhang über. Wo würde sie jetzt am ehesten etwas zu Trinken bekommen? Hier nicht, so viel war klar. Schnell schlüpfte sie in ihre Schuhe und schlich sich dann nach draußen. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Aber sie wusste, wohin sie wollte. Schnell ging sie die Straße hinunter. Ihre Schritte lenkten sie unaufhaltsam in Richtung der Vergnügungsviertel der Stadt. Hier waren ihre Chancen einfach am größten.
Sie lief etwa eine Viertelstunde durch die Nacht, bis sie die erste Disco erreichte. Hier würde sie fündig werden, da war sie ganz sicher. Sie ging selbstbewusst auf den Eingang zu - und wurde von einem sehr bestimmt aussehenden Türsteher gestoppt.
"Sorry, Kostümfest ist erst nächstes Jahr wieder. Kein Einlass!" Sie fauchte ihn wütend an, entschied sich dann aber, kein Aufsehen zu erregen und drehte sich um. Auch an der nächsten Disko hatte sie kein Glück, sie erschien dem dortigen Gorilla einfach zu alt. Gerne hätte sie ihm ein paar Takte zum Thema Höflichkeit älteren Mitbewohnern gegenüber erzählt, aber sie verkniff es sich. Sie hatte Durst und brauchte so schnell wie möglich etwas zu trinken, da lohnte sich der Aufwand einfach nicht, sich auf offener Straße mit einem körperlich deutlich Überlegenen anzulegen. Also zog sie ab und wandte sich dem nächsten Laden zu. Hier hatte sie Glück: Mit ihrem langen schwarzen Haaren, dem Umhang und ihrer blassen Haut fiel sie in der Gothic-Disco kaum auf. Unbehelligt betrat sie den Laden. Zielstrebig ging sie durch die Menge, von irritierten Blicken und leisem Gemurmel begleitet, welchem sie jedoch keine weitere Beachtung schenkte.
Schließlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie kämpfte sich zur Bar durch, starrte den Typen dahinter intensiv an und wartete ab. Der Barkeeper brauchte nicht lange, bis er auf sie aufmerksam wurde.
"Was kann ich Dir bringen?" Da sie seine Worte durch den Lärmpegel schon kaum verstand, verzichtete sie auf eine Antwort und griff stattdessen einfach über den Tresen. Der verwirrte Blick des Barmannes war ihr egal, sie hatte Durst und musste ihn stillen, jetzt, sofort. Sie zog das Objekt ihrer Begierde heran, immer näher, bis es direkt vor ihrem Mund schwebte. Die protestierenden Geräusche des Barkeepers ignorierte sie ebenso wie das aufgeregte Gemurmel der Umstehenden.
Sie konnte an nichts anderes mehr denken. Sie öffnete den Mund und schlug ihre Zähne in die glatte, straffe Haut. Augenblicklich füllte der köstliche rote Saft ihren Mund. Gierig trank und schluckte sie, sie konnte nicht wieder aufhören, bis sie den letzten Tropfen herausgesogen hatte. Dann ließ sie die leere Hülle achtlos fallen.
"Was schulde ich Dir?", fragte sie den Barmann, der nicht in der Lage war, zu antworten. Sie zuckte mit den Schultern, warf einen Fünf-Euro-Schein auf den Tresen und drehte sich um. Niemand hinderte sie daran, zu gehen.
Als sie wieder zuhause ankam, legte sie sich zufrieden hin. Das war gut. Wenn es bloß nicht immer so lästig wäre, an den Saft zu kommen! Natürlich hatte sie gelegentlich einen Vorrat im Haus, aber oft genug war er aufgebraucht, bevor sie es merkte und ihn wieder aufstocken konnte. Trotzdem würde sie bei nächster Gelegenheit daran denken, sie konnte nicht jede Nacht bis zur Disco laufen und dort für Aufsehen sorgen.
Das Letzte, woran sie dachte, bevor sie einschlief, war dieser Geschmack. Süß, aromatisch, himmlisch.
Blutorange.
_____________
9. April 2003