Nachtigall
Nachtigall
27 Gramm. Ein unscheinbares Federkleid und eine Stimme, die trotz ihrer geringen Lautstärke, die Mauern von Jericho zum Einsturz bringen kann.
Wenn das Zwielicht der Dämmerung den Konturen die Schärfe nimmt beginnt sie ihre Elegie, ihren Nachruf auf den sterbenden Tag. Nicht auf einen speziellen Tag. Nicht ein bestimmtes Ereignis. Nein, es betrifft jeden Tag gleichermaßen.
Es ist ihre Trauer über den Verlust der Helligkeit, über die Reduzierung von Wahrnehmungen, über die Unwiederbringlichkeit eines weiteren, kleinen und erfolgreich bestandenen Lebensabschnittes. Sie singt ihre Trauer hinaus. Aber leise hinein geflochten findet sich die Vorfreude auf den kommenden Tag. Beides zusammen erst erzielt diese Wirkung und dringt direkt in die Seele, macht sie empfänglich für zarte Töne. Sonst als Nebengeräusch überhört, wird die Melodie zum Mittelpunkt aller Wahrnehmung. Der starke Kontrast zum gefühllosen Alltagskampf verstärkt das Entstehen von Harmonie und für eine kurze Weile nimmt diese Harmonie dem Tag die Spitzen, die Schrecken. Der Mensch hält inne, vergisst für Minuten und geht in sich. Trotz allen Fortschritts und aller Intelligenz benötigt er einen Impuls um Zugang zu seinem Inneren zu bekommen, Unabhängigkeit zu erleben und Distanz.
Der Nachtigall hingegen genügt ein kurzer Flügelschlag und die Bedrohungen dieser Welt bleiben zurück. Grenzenlose Freiheit. Glück, das nie als solches empfunden wird.
27 Gramm, welch ein Gewicht!