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Nachtgeschichte
Nachtgeschichte
Die Nacht war hereingebrochen.
Dorian saß auf seinem Kinderbett und starrte durchs Fenster ins Freie.
Der Wind sammelte die Wolken und schickte sie unentwegt am Mond vorbei.
Der Mond war groß und voll. Ab und zu, wenn der Wind wieder Wolkenknäuel davor schob, sah es aus, als hätte er einen Bart.
Dorian musste lachen, wenn er ihn so sah. Der Mond antwortete mit einem lustigen Zwinkern. Manchmal aber, wenn er ihn mit halb geschlossenen Augen ansah, glaubte er, in ein hämisches Grinsen zu sehen.
Dorian wurde durch ein Poltern auf der Treppe aus seinen Träumereien gerissen.
Großmutter kam. Er konnte sie förmlich sehen, wie sie mit ihrem großen Buch in der rechten Armbeuge ihren massigen Körper Stufe für Stufe nach oben zog. Die hölzernen Treppenstufen hatten viel zu ertragen. Dorian sah im Geiste, wie jedes Astauge weinte, wenn Großmutters Riesenfüße darauf traten.
Er zog sich unter seine Decke zurück. Oscar, sein Teddy der neben ihn lag, schien auch tiefer zu rutschen. Dorian wusste, was ihm bevorstand.
Die Eltern waren bei Freunden zu Besuch und Großmutter hatte wieder mal den Drang, nichts besseres zu tun als ihm schaurige Geschichten zum Einschlafen vorzulesen. Er mochte ihre Geschichten nicht und Mutter hatte es ihr schon so oft verboten. Doch Großmutter hatte ihren Starrsinn und ihr schien es zu gefallen, wenn er mit großen ängstlichen Augen unter der Decke hervorlugte. Dorian war machtlos und fügte sich stets seinem Schicksal. Doch er hatte gelernt weg zu hören. Immer, wenn sie las, schuf er in seiner Fantasie seine eigenen Bilder und Handlungen. So gelang es ihm in letzter Zeit, Großmutters Grauen zu entfliehen und sanft einzuschlafen.
Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich, zu seinem Erstaunen ohne Knarren. Vater, so fiel ihm ein, hatte kürzlich die Scharniere geölt.
Schniefend stand die alte Dame im Zimmer und warf einen gewaltigen Schatten.
Das Buch fest umklammert steuerte sie auf den alten Ohrensessel zu und ließ sich in ihn fallen. Selbst im Bett spürte Dorian, wie der Boden bebte und er glaubte vom Sessel ein Stöhnen zu hören.
Großmutter schob ihre Brille zurecht und schlug bedächtig das Buch auf.
„Nun Dorian, kommen wir zum schönsten Teil des Tages, der Nachtgeschichte.“
Er glaubte Hohn in ihrer Stimme zu hören und ihr spitzer Mund entgleiste zu dem hämischen Grinsen, das er zuvor im Mond gesehen hatte.
Mit tiefer dunkler Stimme begann sie eine Geschichte vorzulesen. Ab und zu schaute sie über den Rand ihrer Brille zu Dorian, der Oscar fest an sich drückte.
Es war wieder eine Geschichte über Dämonen, Hexen und Wölfe, die blutrünstig durch die Wälder schweiften. Dorian versuchte sofort seine eigene Story aufzubauen. Doch irgendetwas lähmte seinen Willen. Immer wieder verlor er sich und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Der Wind heulte hinterm Fenster und jagte Wolke für Wolke vorbei.
Irgendwas ist heute anders, dachte er und hörte säuselnde Stimmen.
„Zeige es ihr endlich. Lass dich nicht kleinkriegen.“ Immerfort stachelten die Stimmen ihn an.
„Du kannst es. Verpasse ihr einen gehörigen Schrecken. Trau dich.“
Dorian schaute zur Großmutter. Sie schien nichts zu hören und las unentwegt weiter.
Na gut, dachte er, versuche ich es eben noch mal. Er drückte seinen Teddy fester an sich und begann in sich zu gehen.
Der Wind fuhr vom Himmel herab und teilte in einem wilden Orkan den Wald.
Ein langer spitzer Schatten schwamm daraus hervor, gefolgt von einem dunklen Wanderer. Im weiten schwarzen Mantel gehüllt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, trat er aus dem schwarzen Forst heraus, im Bunde mit drei Wölfen. Feuer loderte in den Augen der Tiere und aus ihren gefletschten Zähnen tropfte Blut. Der Mann schritt kraftvoll aus und wenn er sein Gesicht zum Himmel richtete, sah man seine, ebenfalls glühenden, Augen.
Dorian sah ihn kommen, mit seinen Gefährten. In seiner Fantasie führte er sie zum Haus, während Großmutter las und las.
„Wir sind angekommen“, dröhnte die Stimme des dunklen Wanderers in Dorian. „Öffne uns, damit wir das Spiel beginnen können“.
Wieder sah er zur Gr0ßmutter. Sie las immer noch und schaute nicht einmal auf. Wieder schloss er seine Augen und spürte das typische Kribbeln in seinen Schläfen. Körperlich im Bett, schwang sich sein Geist auf und glitt die Holzstufen mit den weinenden Astaugen hinab. Alles schien zu schreien, als wolle es ihn zurückhalten. Zu seiner Verwunderung, brachte er es auch fertig, das Türschloß der Haustür zu bewegen. Sofort sprang sie weit auf und kalter fauchender Wind drang herein. Mit ihm floss der Schatten des dunklen Wanderers ins Haus, gefolgt von seinen drei teuflischen Wesen.
Die Täfelung der Wände begann zu knistern, als die Vier, den Flur entlang, der Treppe zustrebten. Eisiger Wind fegte durchs Haus und die Tränen der Astaugen begannen zu gefrieren.
In diesem Moment verlor Dorian die Kontrolle und er wusste, dass er etwas heraufbeschworen hatte, das sich seinem Willen entzog. Seine Schläfen schmerzten vor Anstrengung, doch es war umsonst. Nie gekannte Angst überfiel ihn. Er wollte Großmutter warnen, doch er brachte kein Wort über seine Lippen.
Mit lauten Knarren öffnete sich die Zimmertür. Dorian sah erschrocken, wie die Wölfe herein sprangen und ihre Kreise um Großmutter zogen, während der dunkle Wanderer seinen Mantel ausbreitete und das Zimmer in schwarze Nacht hüllte.
Jetzt erst blickte die alte Dame auf und sah mit Entsetzen was sich um sie herum abspielte. Kreischend hielt sie sich das Buch vors Gesicht und zog die dicken Füße hoch.
„Dorian, Dorian“, schrie sie. „Was sind das für Scheusale?“
Doch Dorian war erstarrt vor Angst. Was sollte er tun? Sein Wille war wie gelähmt.
Die Wölfe jedoch zogen ihre Kreise im schneller werdenden Tempo. Und so, wie sie kreisten, drehte sich der Ohrensessel mit der kreischenden Großmutter. Es wurde so rasend schnell, das Brille und Buch wegflogen. Schließlich war sie nur noch ein flirrendes Etwas auf einen kaum erkennbaren Sessel.
Wie auf ein Zeichen hielten die Wölfe abrupt im Lauf inne. Der Sessel kam zum stehen und Großmutter sackte in sich zusammen wie eine verdrehte dicke Schaufensterpuppe. Langsam nur fand sie wieder zu sich und begann erneut zu kreischen. Da sprangen die Wölfe mit gierigen Mäulern auf sie. Ihre scharfen Zähne gruben sich in Arme und Hals. Großmutters kreischen erstarb in dem Moment als Ihr Kopf mit weit geöffneten Augen, fast staunend, auf den Boden fiel und in eine Ecke rollte. Kopflos zappelte der dicke Körper ein letztes mal und Blut schoss zur Decke um von dort wieder herab zu regnen.
Als Dorian aus seiner Ohnmacht erwachte, standen die Eltern im Zimmer und ein Mann, den er als Doktor Fabian erkannte unterhielt sich leise mit ihnen.
„Herzversagen“, konstatierte er.
„Sie hat bestimmt nicht leiden müssen. Der Tod kam schnell und kurz. Irgendwann ist jede biologische Uhr abgelaufen.“
Dorian schaute auf den Sessel, in dem Großmutter, in sich zusammengesunken, lag. Keine Spur von Gewalt und Blut deutete auf das vergangene Geschehnis. Sie lag da, mit herab gerutschter Brille und schien zu schlafen. Ihr Buch war aufgeklappt und als Dorian genauer hinsah, entdeckte er nur weißes unbedrucktes Papier.