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Nachtgedanken

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02.11.2001
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Nachtgedanken

Suchend ziehe ich durch die Straßen der nächtlichen Großstadt. Die wenigen Menschen, die mir entgegenkommen, sehen mich nicht an, doch ich betrachte sie genau, jeden einzelnen, präge mir jedes Gesicht, jede Linie ein und lese darin, was sie nicht vor mir verbergen können.
Ich sehe die Hure, die gelangweilt vor einem schäbigen kleinen Hotel auf und ab geht. Man kann sehen, daß sie einmal eine schöne Frau war, die sicher nicht lange auf zahlende Kunden warten mußte. Doch jetzt ist ihre Haut unrein, die Haare sind glanzlos und ihre Augen ohne Leben. Nichts spricht aus ihnen als Niederlage und die Scham darüber, keine ihrer zahlreichen Chancen wahrgenommen zu haben.

Ein Penner, der vielleicht von seinem Schlafplatz aufgeschreckt wurde, kommt mir mit gebeugten Schultern entgegen. Zu viele Enttäuschungen haben ihn ausgezehrt und er hat nichts mehr, was er dem Schicksal noch entgegensetzen könnte. Ich rieche den Alkohol, den er aus jeder Pore ausdünstet und frage mich, ob er jemals durch einen seichten Bach gewatet ist oder Schmetterlinge gefangen hat, wie ich selbst es so gerne tat, als kleiner Junge, irgendwann vor langer Zeit, als mein Herz noch das eigene Blut durch meinen Körper pumpte.

Ich beobachte ein junges Liebespaar, das einige Meter von mir entfernt langsam vorbeischlendert. Er hat den Arm um ihre Schultern gelegt und sie schmiegt sich lächelnd in seine Umarmung. Naivität und grenzenloses Vertrauen stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Sein Blick jedoch ist rastlos, gleitet unruhig über bedeutungslose Details der Nacht. Er wird sie bald enttäuschen und sie wird daran zerbrechen.

Mein Weg führt mich in eine kleine, spärlich beleuchtete Parkanlage, windet sich an einem hässlichen viereckigen Teich entlang, der schwarz und still in der Dunkelheit liegt und ruht. Zwei Enten schlafen am Ufer, die Köpfe unter die Flügel gesteckt. Der Kies knirscht unter meinen Schuhen, alte Bäume, Linden und Buchen, rauschen leise im kühlen Wind. Ich gehe an einem kleinen, lieblos gestalteten Spielplatz vorbei, mit grobkörnigem Sand, einer niedrigen Rutsche und einer kaputten Schaukel.
Dann erblicke ich den alten Mann, der in sich zusammengesunken auf einer Parkbank sitzt. Die gefalteten Hände ruhen in seinem Schoß. Aufmerksam betrachtet er den zugezogenen Himmel, als könne er hinter den Wolken und dem Dunst der Großstadt die Sterne erkennen.
Ich frage mich, warum er da sitzt, ganz verloren in seinen Gedanken, als hielte er da oben nach etwas Ausschau. Langsam trete ich näher zu ihm und hoffe, mehr über ihn zu erfahren, wenn ich seine Augen erkennen kann.
Blau sind sie, sehr hell und offen. Ein seltsames Gefühl überkommt mich, als er mir ins Gesicht blickt, so direkt, wie mich schon lange niemand mehr angesehen hat. Fast glaube ich, er könne hinter der Maske des unscheinbaren jungen Mannes mein altes, wahres Selbst erkennen.
Keine Frage liegt in seinem Blick, nur Traurigkeit und Sehnsucht. Die merkwürdige Gewissheit überkommt mich, dass der alte Herr schon jetzt, in diesem Moment, weiß, was passieren wird. Unsere Blicke trennen sich nicht, als ich mich neben ihn auf die Bank setze.

Alles lässt er mich lesen, seine Geschichte, sein ganzes Leben. Die Flut von Erinnerungen, die er mit mir teilt, reißt mich mit sich fort. Ich fühle seinen Schmerz, als er als kleiner Junge seine Mutter verlor, den Zorn über die häufige ungerechte Bestrafung durch seinen strengen Vater, den Stolz wegen des gelungenen Schulabschlusses, für den er so hart arbeiten mußte und den er nur knapp bestand.
Ich lächle, als mich die Liebe zu seiner Frau warm überflutet, die er kurz danach kennenlernte und viel zu schnell heiratete, das Glück über die Geburt der Zwillinge. Schließlich teile ich mit ihm die Scham, die er nach dem Seitensprung empfand und die Angst, seine Frau zu verlieren, nachdem sie es herausgefunden hatte, seine Erleichterung, als sie sich entschlossen hatte, bei ihm zu bleiben und die Trauer darüber, dass ihre Liebe zu ihm nie wieder ganz zurückkam.
Der Schmerz, den ihr Tod ihm brachte, trifft mich unverhofft, schneidet mir tief in die Seele. Wenn ich ein schlagendes Herz hätte, es bräche wohl, so wie seines daran zerbrach. Ich habe das Gefühl zu fallen, als seine Augen mich plötzlich loslassen, suche Halt, doch ich finde keinen. Langsam legt er den Kopf in den Nacken und richtet seinen Blick wieder nach oben, auf den bewölkten Himmel.

Ein kleines, bitteres Lächeln umspielt seine Mundwinkel und einen kurzen Moment zögere ich, bevor ich mich nach vorne beuge, meine Zähne in seinen Hals schlage und ihn austrinke, bis sein Herz endlich innehält.

 

Servus Raven!

Ja wirklich nächtlich sind deine Gedanken unterwegs. Die Geschichte ist gut erzählt. Vor allem die unterschiedlichen Eindrücke des Prot. auf dem Weg ist auffallend gelungen. Meine Lieblingsstelle ist jene, bevor er den Mann entdeckt, dort wo die Enten sich mit Flügeln bedecken, der Kies knirscht und die kaputten Spielgeräte rumstehen. Da kriegt man die Stille des fast verlassenen nächtlichen Parks wunderbar präsentiert.

Warum sich das Beisserle grad einen ausgesucht hat der schon alt, verbraucht und schwach ist? Aber ich kenne mich mit deren Speisewünschen auch nicht wirklich gut aus. Möglicherweise wollte er ja nur einen kleinen Happen zum Nachtisch.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hallo Sav.
Die Beschreibung des Weges und der Beobachtungen deines Protagonisten hat mir recht gut gefallen. Den vorletzten Abschnitt halte ich aber für den besten der Geschichte. Die Geschichte, die der alte Mann erzählt und die der Leser nur durch Andeutungen der Hauptfigur erfährt, fand ich gelungen.
Aber es gab auch gewisse Dinge, die ich für nicht so gelungen halte. Zum einen hat es mich etwas gestört, dass der Protagonist alles zu sehen scheint, nur bei einem Vorbeigehen (Naivität oder das die Nutte eine schöne Frau gewesen sein soll). An diesen Stellen fand ich die Ausführungen dann etwas zu detailiert, auch wenn du am Anfang schreibst, dass er alles beobachtet und sich einprägt. Das klang mir alles zu "wissend".
Das Ende, wo sich herausstellt, dass es sich wohl um einen Vampir handelt, hat mir nicht gefallen. Das hat die Stimmung, die vorher aufgebaut wurde, getrübt.
Mich würde interessieren, ob du das genau aus diesem Grund gemacht hast oder ob das ungewollt geschehen ist?
So viel erstmal von mir. ;)

Saludo, Gam.

 

Hallo Sav!

Du schreibst die Geschichte mit sehr viel Atmosphäre, sodaß ich richtig mitleben konnte. An Deinem Stil finde ich nichts auszusetzen, Du beherrscht das Schreiben. ;)

Für mich kam der Schluß sehr überraschend. Du hast zwar in der Mitte mal einen Hinweis eingebaut, aber den konnte ich an der Stelle noch nicht deuten.
So habe ich eigentlich mit jedem anderen Schluß gerechnet, aber mit dem eigentlich nicht. Ungewöhnlich, aber nicht schlecht.

Vor allem Deine Beschreibungen der Menschen finde ich sehr gelungen, selbst dem Paar gibst Du mit wenigen Worten etwas eigenständiges, charakteristisches.
Wählt sich Dein bluttrinkender Protagonist die Opfer danach aus, wer noch am wenigsten vom restlichen Leben haben würde?

Noch ganz kurz:

"Schließlich teile mit ihm die Scham"
- ich

"sich entschlossen hatte bei ihm zu bleiben"
- würde nach "hatte" einen Beistrich machen ;)

Alles liebe,
Susi

 

Also jetzt bin ich ja fast ein bisschen enttäuscht ... ;)

Hi raven,

die ganze Zeit über, genauer gesagt, ab dem letzten Satz des zweiten Absatzes, bin ich davon ausgegangen, dass der Protagonist tot ist (was er ja streng genommen auch ist), aber ich meinte einen Geist zu sehen, der sich selbst (den alten Mann) beim Sterben beobachtet und noch einmal sein Leben revue passieren lässt.

Und jetzt frag ich mich ernsthaft, ob du diesen Plan ebenfalls gehabt hast und nur aus Jux oder Langeweile zur Vampirstory umgeleitet hast oder eben ob das wirklich dein Ziel war?
Ich fürchte(?) ja letzteres. ;)

Der Unterschied, den ich darin sehe, ist einfach der, dass ich den Plot, so wie ich ihn meinte, interessanter gefunden hätte. (Möglicherweise)
So isses halt jetzt "nur" 'ne Vampirstory ... :p

Aber gut, nehmen wir es also, als das was es ist:
Dein Vampir ist also einer von der "netten" Sorte. Fällt nicht bestialisch über irgendwelche Leute her, sondern macht sich seine melancholischen Gedanken, hört sich auch noch ganz gerührt die Lebensgeschichte des alten Mannes an, bevor er dann zuschlägt und seiner Natur folgt.
Von der Grundidee her, eine gute, wie ich finde. Dass ich mit der Umsetzung so meine kleinen Probleme habe, siehst du ja oben. :rolleyes:

Grüße
Visualizer

 

@Visualizer, das klingt ja wahrlich interessant... :rolleyes: :)

Jetzt bin ich mindestens ebenso gespannt.

 

Hallo raven!

Mir hat die Geschichte gut gefallen, die BEschreibungen von der Stille im Park, dem verlassenen Spielplatz und der Lieblosigkeit am allerbesten.

Auch die Idee, das der Vampier die Menschen erkennen kann, ihre Gefühle miterleben kann, hat mir sehr gut gefallen.
dass er Vampir ist, war mir übrigens recht früh kalr: "irgendwann vor langer Zeit, als mein Herz noch das eigene Blut durch meinen Körper pumpte." - recht eindeutig eigentlich.
Meine einzigen Zweifel rührten daher, dass die Rubrik "Alltag" heißt...

schöne Grüße, Anne

 

hallo,

vielen dank für eure kritiken!

an dieser geschichte hab ich lange gefeilt. (noch länger als sonst...) ich hab sie leuten zu lesen gegeben, die ahnung von der materie habe und mit deren strenger kritik an der story gearbeitet, bis sie mir rund erschien. ich freue mich sehr, daß sie euch ein
bißchen gefällt. :)

@schnEEEule
scheiß neue rechtschreibung, was? ;)
danke für das lob!

@gam
genau das, was dir nicht gefällt, diese detailierten ausführungen, hat jemand anderes auch bemängelt, allerdings sollte ich diese stellen ihrer meinung nach noch mehr vertiefen... *rotier*
vermutlich hätte dir eine frühere version der geschichte besser gefallen, die an diesen stellen weit weniger ausführlich war.

natürlich sollte der schluß den leser überraschen, vielleicht auch erschrecken, die stimmung zu trüben hatte ich aber nicht vor.

@susi

danke für die tippfehler. es ist unglaublich, aber trotz 1.000.000x durchforsten bleibt immer noch irgendwas...
zu deiner frage (auch @schnee.eule): eigentlich hat er sich den alten mann, wie ich meine, nicht ausgesucht. es ist mehr so etwas wie eine "schicksalhafte begegnung".
ich möchte nicht genau darlegen, was ich mir dabei gedacht habe. eine geschichte sollte sich mmn selbst erklären. was der leser aus einem text herausliest, ist immer richtig, denke ich. ein veröffentlichter autor kann schließlich auch nicht hinter seinen lesern herlaufen und ihnen erklären, wie sie seine story zu verstehen haben.
wenn mir sehr wichtig ist, daß meine intention ankommt, und sie tut es nicht, versuche ich, die geschichte mit hilfe der kritiken zu verbessern.
oft finde ich es aber besser, den leser selbst interpretieren zu lassen. meistens sind es eh mehr gefühle und stimmungen, die ich rüberbringen will.

@visualizer
deine gedankenwindungen scheinen sich von meinen signifikant zu unterscheiden, was? :D
nein, die geschichte war von anfang an als vampirgeschichte geplant. auch wenn sich die allgemeine begeisterung dafür in grenzen hält... :shy:

tut mir leid, wenn ich dich (euch) enttäuscht habe. wenn das vampir-ding nicht der dreh- und angelpunkt meiner geschichte wäre, würde ich mir glatt überlegen, es herauszunehmen. aber daß er ein blutsauger ist, ist doch grade der knackpunkt, oder?

grüblerische grüße von sav

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi nochmal.
Nun, habe nochmal gelesen. Durch das Ende bekommt ja die Beobachtungsgabe des Prot. einen Sinn. Eben weil er ein Vampir ist und deswegen vielleicht Dinge sieht, die normale Menschen nicht sehen können. Dadurch ist es also stimmig, nur kann ich mich leider nicht so ganz mit ihm anfreunden. Ist natürlich subjektiv, anderen hat es ja zu gesagt. Aber wie gesagt, der vorletzte Abschnitt mit dem alten Mann hat mir persönlich am besten gefallen. Vielleicht kommt das Ende auch etwas zu schnell. Werde ich mal drüber nachdenken. ;)

Saludo, Gam.

 

Hallo Raven,

einerseits möchte ich das allgemeine Lob in vollem Umfang übernehmen, anderseits aber auch die ´Enttäuschung´ über den Vampirstatus deines Protagonisten. (...mag halt lieber Wein :D )

Den Hinweis: ""irgendwann vor langer Zeit, als mein Herz noch das eigene Blut durch meinen Körper pumpte." hielt ich im Gegensatz zu Maus für eine schöne Metapher. Wenn ich noch eine kritische Anmerkung machen darf:

präge mir jedes Gesicht, jede Linie ein und lese darin, was sie nicht vor mir verbergen können.
klingt m.E. etwas zu stark betont, schon fast etwas unwahrscheinlich, dass diese intensive Bbetrachtung im Vorbeigehen möglich ist. Und dann noch, die Augen des Alten: "Blau sind sie, sehr hell und offen." Es ist dunkel, wir befinden uns in einer kleinen, spärlich beleuchteten Parkanlage.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, deine Geschichte hätte mir nicht gefallen, im Gegenteil. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass es eine Vampirgeschichte ist, die normal nicht mein Geschmack sind.
Durch das Posten in Alltag hast du dir sicherlich mehr Leser gesichert :).

gruß vom querkopp

 

huch, maus, deine antwort hatte ich glatt übersehen.(was auch daran liegen könnte, daß ich stunden zum erstellen einer antwort brauche...)
danke dir!

ich hab letzte nacht noch mit ponch über die passende rubrik diskutiert. trotz des vampirs finde ich sie nicht horrormäßig. eher schon romantisch, was die grundstimmung betrifft, aber da wäre ich sicher auf unverständnis gestoßen. "alltag" war perfekt, um den überraschungseffekt zu sichern.

@querkopp
als vampir kann mein prot natürlich ausgezeichnet im dunkeln sehen, der hinweis auf die augenfarbe des alten mannes sollte eine weitere anspielung auf seine blutsaugernatur sein. ;)

was diese wahrnehmung des innenlebens der vorübergehenden betrifft (auch das weist auf die außergewöhnlich scharfe beobachtungsgabe hin) - da scheine ich wohl über die stränge geschlagen zu haben. mal sehen, vielleicht werde ich das noch modifizieren.

vielen dank jedenfalls fürs antworten. und natürlich fürs schmeicheln. ;)

sav

 

Hallo raven,

die Personenbeschreibungen am Anfang sind gut gelungen, die Nutte hat schon im Leben verloren, das Paar wird noch verlieren, weiß aber noch nichts davon. Der Penner hat als Pendant den Protagonisten, der auch einmal ein Mensch mit Zukunftsaussichten war. Er steht stellvertretend für all die Potentiale menschlichen Tuns, die sich oft nicht verwirklichen. Die Erkenntnismöglichkeit des Vampirs ist auch sein Fluch, zuviel weiß er über die Übel unter den Menschen. Dann dreht sich der übliche Vampir- Plot ins Gegenteil: Zum Glück hat er kein Herz, so muß er nicht so sehr leiden, durch sein Vampir-Sein kann er manchen Menschen aus seinem Unglück erlösen. Hier findet sich in Deinem Text eine interessante Opfer- Täter- Beziehung.
Da gibt`s nix zu meckern,

tschüß... Woltochinon

 

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