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Nachtgedanken
Suchend ziehe ich durch die Straßen der nächtlichen Großstadt. Die wenigen Menschen, die mir entgegenkommen, sehen mich nicht an, doch ich betrachte sie genau, jeden einzelnen, präge mir jedes Gesicht, jede Linie ein und lese darin, was sie nicht vor mir verbergen können.
Ich sehe die Hure, die gelangweilt vor einem schäbigen kleinen Hotel auf und ab geht. Man kann sehen, daß sie einmal eine schöne Frau war, die sicher nicht lange auf zahlende Kunden warten mußte. Doch jetzt ist ihre Haut unrein, die Haare sind glanzlos und ihre Augen ohne Leben. Nichts spricht aus ihnen als Niederlage und die Scham darüber, keine ihrer zahlreichen Chancen wahrgenommen zu haben.
Ein Penner, der vielleicht von seinem Schlafplatz aufgeschreckt wurde, kommt mir mit gebeugten Schultern entgegen. Zu viele Enttäuschungen haben ihn ausgezehrt und er hat nichts mehr, was er dem Schicksal noch entgegensetzen könnte. Ich rieche den Alkohol, den er aus jeder Pore ausdünstet und frage mich, ob er jemals durch einen seichten Bach gewatet ist oder Schmetterlinge gefangen hat, wie ich selbst es so gerne tat, als kleiner Junge, irgendwann vor langer Zeit, als mein Herz noch das eigene Blut durch meinen Körper pumpte.
Ich beobachte ein junges Liebespaar, das einige Meter von mir entfernt langsam vorbeischlendert. Er hat den Arm um ihre Schultern gelegt und sie schmiegt sich lächelnd in seine Umarmung. Naivität und grenzenloses Vertrauen stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Sein Blick jedoch ist rastlos, gleitet unruhig über bedeutungslose Details der Nacht. Er wird sie bald enttäuschen und sie wird daran zerbrechen.
Mein Weg führt mich in eine kleine, spärlich beleuchtete Parkanlage, windet sich an einem hässlichen viereckigen Teich entlang, der schwarz und still in der Dunkelheit liegt und ruht. Zwei Enten schlafen am Ufer, die Köpfe unter die Flügel gesteckt. Der Kies knirscht unter meinen Schuhen, alte Bäume, Linden und Buchen, rauschen leise im kühlen Wind. Ich gehe an einem kleinen, lieblos gestalteten Spielplatz vorbei, mit grobkörnigem Sand, einer niedrigen Rutsche und einer kaputten Schaukel.
Dann erblicke ich den alten Mann, der in sich zusammengesunken auf einer Parkbank sitzt. Die gefalteten Hände ruhen in seinem Schoß. Aufmerksam betrachtet er den zugezogenen Himmel, als könne er hinter den Wolken und dem Dunst der Großstadt die Sterne erkennen.
Ich frage mich, warum er da sitzt, ganz verloren in seinen Gedanken, als hielte er da oben nach etwas Ausschau. Langsam trete ich näher zu ihm und hoffe, mehr über ihn zu erfahren, wenn ich seine Augen erkennen kann.
Blau sind sie, sehr hell und offen. Ein seltsames Gefühl überkommt mich, als er mir ins Gesicht blickt, so direkt, wie mich schon lange niemand mehr angesehen hat. Fast glaube ich, er könne hinter der Maske des unscheinbaren jungen Mannes mein altes, wahres Selbst erkennen.
Keine Frage liegt in seinem Blick, nur Traurigkeit und Sehnsucht. Die merkwürdige Gewissheit überkommt mich, dass der alte Herr schon jetzt, in diesem Moment, weiß, was passieren wird. Unsere Blicke trennen sich nicht, als ich mich neben ihn auf die Bank setze.
Alles lässt er mich lesen, seine Geschichte, sein ganzes Leben. Die Flut von Erinnerungen, die er mit mir teilt, reißt mich mit sich fort. Ich fühle seinen Schmerz, als er als kleiner Junge seine Mutter verlor, den Zorn über die häufige ungerechte Bestrafung durch seinen strengen Vater, den Stolz wegen des gelungenen Schulabschlusses, für den er so hart arbeiten mußte und den er nur knapp bestand.
Ich lächle, als mich die Liebe zu seiner Frau warm überflutet, die er kurz danach kennenlernte und viel zu schnell heiratete, das Glück über die Geburt der Zwillinge. Schließlich teile ich mit ihm die Scham, die er nach dem Seitensprung empfand und die Angst, seine Frau zu verlieren, nachdem sie es herausgefunden hatte, seine Erleichterung, als sie sich entschlossen hatte, bei ihm zu bleiben und die Trauer darüber, dass ihre Liebe zu ihm nie wieder ganz zurückkam.
Der Schmerz, den ihr Tod ihm brachte, trifft mich unverhofft, schneidet mir tief in die Seele. Wenn ich ein schlagendes Herz hätte, es bräche wohl, so wie seines daran zerbrach. Ich habe das Gefühl zu fallen, als seine Augen mich plötzlich loslassen, suche Halt, doch ich finde keinen. Langsam legt er den Kopf in den Nacken und richtet seinen Blick wieder nach oben, auf den bewölkten Himmel.
Ein kleines, bitteres Lächeln umspielt seine Mundwinkel und einen kurzen Moment zögere ich, bevor ich mich nach vorne beuge, meine Zähne in seinen Hals schlage und ihn austrinke, bis sein Herz endlich innehält.