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Nachtgebete

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31.08.2003
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Nachtgebete

„Wenn ich alt genug bin, heirate ich dich!“, verkündete Ishaan entschlossen. Roshni kicherte leise hinter vorgehaltener Hand, ihre Mandelaugen leuchteten fröhlich. Er liebte solche Nächte wie diese, in denen er zu ihr rüberkriechen und sich mit ihr unterhalten konnte. Wenn er sie so ausgelassen sah, mit den langen, schwarzen Haaren, die über ihre Schulter fielen, dem hellblauen Kleid, aus dem sie langsam herauswuchs und er sich den Dreck und die vom Knüpfen geschundenen Finger wegdachte, erinnerte er sich an die Legende von Anarkali und Salim, die ihm seine Mutter einmal vor dem Einschlafen erzählt hatte.
Die Einzelheiten hatte er vergessen, aber er wusste noch, dass Anarkali eine wunderschöne Tänzerin am Hof des Moguls gewesen war. Und wenn er Roshni betrachtete war er sich sicher, dass sie genauso schön war wie Anarkali.
„Salim, der Sohn des Moguls, verliebte sich unsterblich in das hübsche Mädchen“, hörte er die Stimme seiner Mutter. „Aber der Herrscher konnte die Beziehung seines Sohnes zu einer einfachen Tänzerin nicht tolerieren und weil Salim sie nicht verlassen wollte, ließ sein Vater sie lebendig einmauern.“
Das Ende der Geschichte hinterließ bei Ishaan noch immer einen bitteren Nachgeschmack, er konnte sich keinen Vater vorstellen, der so grausam war. Nicht mal sein eigener Vater, der ihn vor Jahren an einen Teppichhändler vermietet hatte, um so Schulden zu begleichen, wäre zu so einer Tat fähig. Ishaan hasste seinen Vater nicht, er wusste, dass er keine andere Wahl gehabt hatte.
„Und wie willst du das machen?“, flüsterte Roshni und sah zur Tür, die den Innenhof, in dem sie und die anderen Kinder schliefen, von Babas Haus trennten. Sie mussten leise sein, nebenan saß ihr Besitzer und sah fern. „Bis du deine Schulden abgearbeitet hast, sind wir...“, sie stocke und sah verlegen auf den Boden. Sie konnte nicht rechnen und wusste nicht einmal, wie alt sie war. Sie gehörte wahrscheinlich zu den Kindern, die als Babys entführt und später an Männer wie Baba verkauft wurden. Sie wusste weder, ob sie eine Familie hatte, noch kannte sie ein anderes Leben als das in der Knüpferei. Ishaan schätzte, dass sie etwa acht war, so alt, wie seine kleine Schwester Mariam. Vor ein paar Monaten, als er mal wieder weggelaufen war, hatte er kurz seine Familie sehen können. Roshni und Mariam waren etwa gleich groß.
„Ich habe gehört, dass es verboten ist, Kinder zu kaufen und zur Arbeit zu zwingen“, Ishaan lächelte stolz als er sah, wie sich Roshnis Augen vor Überraschung weiteten. „Ich laufe bald wieder weg, dann hole ich dich und die Anderen hier raus!“
„Wie denn? Mit der Polizei?“
Ishaan zögerte. Sein Vertrauen in die Beamten war schon lange erschüttert. Das erste Mal, dass er weggelaufen war, hatte er in einer Wache Hilfe gesucht, aber anstatt ihn nach Hause, zu seiner Familie, zu bringen, hatten sie ihn einfach wieder bei seinem damaligen Besitzer abgegeben. Inzwischen wusste er, dass die Polizisten für das Wegsehen viele Rupien von den Fabrikbesitzern bekamen. Geld, dass den Kindern wieder als Schulden angerechnet wurde.
„Es soll Menschen geben, die uns helfen würden!“, erkläre er. „Sie holen die Kinder aus den Fabriken, schicken sie in Schulen, wo sie lesen, schreiben und rechnen lernen, damit sie als Erwachsene einen guten Beruf finden!“
„Ich soll lesen lernen? Ich kann doch nur...“
„Wenn du zur Schule gehst, kannst du alles werden, was du willst!“
Roshni lachte leise. „Du bist ein Träumer! Du bist schon so oft weggelaufen und jedes Mal haben sie dich gefunden und zurückgebracht!“
„Dieses Mal nicht!“, aus dem Haus drang Amitabh Bachans tiefe Stimme. Er sang rang barse, es regnet Farben, Ishaans Lieblingslied. Einmal hatte er es geschafft, sich für ein paar Wochen in der Stadt vor Baba und seinen Männern zu verstecken und hatte sich oft in eins der Kinos geschlichen, wenn er auf den großen, handgemalten Filmplakaten Amitabhs Gesicht gesehen hatte. „Ich werde Amitabh bitten, uns zu helfen! Ich weiß, dass er es tut!“, flüsterte Ishaan. Er war so begeistert von seinem Einfall, dass es ihm schwerfiel leise zu sprechen.
„Wen?“
„Ein Schauspieler, er ist ein richtiger Held! In einem seiner Filme hat er mal ein Waisenkind...“
„Wenn wir heiraten, kann ich dann auch so ein tolles Kleid tragen wie die Frauen im Fernsehen?“, unterbrach sie ihn mit großen Augen, Amitabhs Heldentaten interessierten sie nicht.
„Ich kaufe dir die schönsten Kleider der ganzen Stadt! Und Schmuck und... und ein großes Haus!“
„Shh, sei leise!“, flüsterte Roshni, aufgeschreckt von einem Geräusch aus dem Haus. „Baba kommt!“
Ishaan kroch schnell an den anderen Kindern vorbei an seinen Platz zurück und stellte sich schlafend als die Tür, wie fast jede Nacht, geöffnet wurde.
Baba kam langsam die beiden Stufen zum Hof runter, blieb stehen und betrachtete die Kinder. Ishaan spürte, dass sein Besitzer in seiner Nähe war und ihn misstrauisch beobachtete. Raju, der neben Ishaan schlief, hustete wieder im Schlaf. Der Gesundheitszustand und die Arbeit des Jungens war in den letzten Wochen immer schlechter geworden. Baba betastete kurz Rajus Stirn und brummte missmutig.
„Zu nichts mehr zu gebrauchen“, murmelte er in sich hinein, während er weiterging. „Der Junge kostet mehr als er einbringt.“
Ishaan öffnete vorsichtig die Augen. Baba war inzwischen bei Roshni angekommen und, wie immer, wenn er sich über sie beugte, veränderte sich sein Blick. Er sah sie genauso gierig an wie er einen kostbaren Teppich betrachtete, von dem er wusste, dass er ihn teuer an einen reichen Ausländer verkaufen konnte.
Roshni riss die Augen auf als sich Babas große Hand auf ihren Mund legte und der Mann sie vom Boden hochhob. Ishaan hörte, wie er ihr zuflüsterte, sie solle ruhig sein, um die anderen Kinder nicht zu wecken, Roshnis Augen glänzten feucht.
Schnell schloss Ishaan die Augen, Baba hatte sich umgedreht, um ins Haus zu gehen. Die Holzstufen knarrten leise unter seinem und Roshnis Gewicht, die Tür wurde geschlossen.
Viel zu viele Nächte hatte Ishaan einfach so zugesehen, wie Baba das Mädchen nachts zu sich holte. Ishaan bedeutete Nachtgebet und seine Mutter hatte immer behauptet, das dieser Name ihn beschützte, aber obwohl er jede Nacht für sie und sich betete, kam Baba zurück. Immer wieder hörten er und die Anderen ihre tränenerstickte Stimme, ihre schmerzerfüllten Schreie, das leise Wimmern, wenn er sie zurück an ihren Platz brachte.
Er nannte sie seine Prinzessin und oft, wenn er durch die Knüpferei ging, blieb er an Roshnis Platz stehen und berührte mit diesem gierigen Blick ihre Haare, manchmal ihre Beine.
Es war genug. In dieser Nacht war Ishaan zu zornig zum weinen und tatenlos mitanzuhören, wie Baba Roshni wehtat. Wut bahnte sich seinen Weg durch Ishaans ganzen Körper und machte ihn blind. Er sprang vom Boden auf und stürmte ins Haus.
Baba war verschwitzt, atmete schnell und war zu beschäftigt mit dem Gürtel seiner Hose um Ishaan zu bemerken. Hinter dem dicken, kräftigen Mann war Roshni kaum noch zu sehen.
Aber Ishaan konnte sie hören.
Sie flehte Baba an, ihr nicht wieder wehzutun, sie in Ruhe zu lassen. Ishaan griff nach einer Vase, die neben dem Fernseher stand und ließ sie, in dem Moment, als Baba sich über Roshni beugte, mit aller Kraft, die er hatte, auf dem Kopf seines Besitzers sinken. Baba erstarrte, hob langsam seine Hand und betastete die blutende Stelle an seinem Hinterkopf, dann drehte er sich zu Ishaan um, starrte ihn ungläubig an und sank schließlich auf den Boden neben Roshni.
„Ist er... tot?“, fragte sie ängstlich, während sie sich aufrappelte. Ishaan betrachtete Baba und schüttelte schnell den Kopf.
„Wir müssen verschwinden, bevor er wieder aufwacht!“, er griff nach Roshnis Hand und zog sie hinter sich her. Ohne sich umzusehen rannte er, vorbei an den Anderen, die durch den Lärm im Haus aufgewacht waren, durch den Innenhof.
Babas Hunde fingen an zu bellen und rissen an ihren Ketten, bereit, die Kinder zu verfolgen. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis man sie auf sie hetzen würde. Völlig außer Atem erreichten sie endlich das große Eisentor, das die Fabrik, wie Baba immer behauptete, vor Einbrechern schützte. In Wirklichkeit dienten die großen Glasscherben, die oben angebracht waren dazu, die Kinder vom Weglaufen abzuhalten.
„Ich kann das nicht, Ishaan!“, sagte Roshni verzweifelt. „Es ist zu hoch!“
„Du musst! Kletter mir einfach hinterher!“
„Ich kann nicht!“
Das Gebell der Hunde wurde ungeduldiger und kam näher. Ishaan ignorierte den ängstlichen Blick seiner Freundin, zog sie zum Tor und hob sie hoch.
„Mach schon!“, befahl er ihr.
Die Hunde würden gleich bei ihnen sein.
Roshni hielt sich am Tor fest und begann endlich damit, sich hochzuziehen. Ishaan half ihr eilig nach.
„Pass’ auf die Scherben auf“, rief er ihr zu als sie oben angekommen war.
„Ich habe Angst!“
„Kletter rüber und lauf’ weg!“
„Aber die Scherben!“
„Mach’, was ich dir sage, wenn du vorsichtig bist, passiert dir nichts!“
Sie tat, was er ihr gesagt hatte, kletterte aufmerksam auf die andere Seite und wieder runter. Erleichtert sah er, wie sie sicher auf dem Boden landete.
Jetzt war er dran. Er zog sich hoch und kletterte, so schnell er konnte.
„Die Hunde!“, schrie Roshni plötzlich.
Ishaan drehte sich um und sah die drei kalbsgroßen Tiere, die direkt auf ihn zustürmten. Er wusste, er würde es nicht mehr schaffen.
„Roshni, lauf’ endlich weg!“
„Ich gehe nicht ohne dich!“
„Ich komme nach“, log er, dann lächelte er aufmunternd. „Versprochen!“
Sie machte zwei unsichere Schritte nach hinten. „Wirklich?“
Ishaan nickte. Mit Tränen in den Augen drehte sich um und lief weg. Sie wusste, dass er log.
Die Hunde sprangen am Tor hoch, einer verbiss sich in Ishaans Wade. Der Schmerz drohte, ihn zu zerreisen. Während das Tier versuchte, ihn herunterzuziehen, klammerte Ishaan sich fest an die Gitterstäbe. Der Hund gab nicht nach, verbiss sich fester und zerrte mit aller Kraft. Ishaan glaubte, sein Körper würde jeden Moment in zwei Teile reissen.
Endlich hörte er, wie eine männliche Stimme den Befehl gab, von ihm abzulassen. Der Druck auf seiner Wade verschwand und wurde abgelöst von einem stechenden Schmerz. Einer von Babas Männern packte ihn und zog ihn vom Tor runter, Ishaan war zu müde um sich zu wehren.
Die Hunde standen aufmerksam vor ihnen, ihr Knurren signalisierte ihre Bereitschaft, jederzeit wieder anzugreifen. Baba kam, tätschelte eins der Tiere und blieb vor Ishaan stehen. Er blickte mürrisch auf den Jungen runter und presste ein Tuch an die blutende Wunde an seinem Hinterkopf.
„Das ist das letzte Mal, dass du mir Ärger machst“, erklärte Baba schlecht gelaunt und drohend. Er packte Ishaan an den Haaren. „Und ihr“, rief er seinen Männern zu, „holt das Mädchen zurück!“
Während Baba ihn vom Tor wegzog betete Ishaan für sie und für sich selbst. Vielleicht holte Gott ihn ja endlich in dieser Nacht zu sich.

 

Hallo Gori

Ich musste es 2x hintereinander lesen, da ich es spannend fand und zugleich dramatisch...

Lieber Gruss

 

Hi gori,

Deine Geshcichte hat mir sehr gut gefallen! Du schreibst detailreich und lebendig, so dass ich die Szenen vor meinem immeren Auge sehen konnte. Auch die Namen und der Schauplatz wirken realistisch, so dass ich mich frage, ob Du dafür recherchiert hast und wenn ja, wie und wo.

Deine Sprache ist flüssig und ansprechend und bis auf zwei kleine Fehler hab ich nichts zu meckern:

Der Gesundheitszustand und die Arbeit des immer schwächer werdenden Jungen war in den letzten Wochen immer schlechter geworden.
Das ist irgendwie doppelt, ich denke, "Immer schwächer werdenden" kannst Du rauslassen, da sich das aus dem Rest eh ergibt.
Ishaan glaubte, sein Körper würde jeden Moment in zwei Teile zu reissen.

Lieben Gruß

chaosqueen

 

Hallo gori!
Ich habe deinen Text nur so verschlungen. Er ist wirklich spannend und gut zu lesen. Weiter so!

Viele Grüße, Sylvia

 

Hallo!

Danke fürs Lesen und eure Kommentare, hat mich gefreut, dass es euch gefallen hat.

@Meryem:
:D als ich deine Antwort zuerst überflogen habe, habe ich erst gedacht, dass du zwei Mal gelesen hast, weil ich so schlecht geschrieben habe.
Na ja, manchmal brauch ich etwas länger... :)

@chaosqueen:
Die Fehler hatte ich vollkommen übersehen. Hab's geändert, danke nochmal.
Recherchiert habe ich nicht besonders. Ich sehe viele Bollywood-Filme an und hab' einen Verlobten aus der Gegend. Von daher kenne ich ein wenig Hindi/Urdu/Punjabi (ich spreche immer einen Mix der drei Sprachen, wenn ich versuche mich auszudrücken :D ) und die Situation der Menschen, besonders der Kinder.

@goldi_x:
auch dir noch einmal danke, hat mich gefreut, dass es dir gefallen hat!

Liebe Grüße,
gori

 

hallo gori!

wunderschöne geschichte... nur schon die namen der kinder geben dem ganzen einen sehr speziellen touch!

auch deine sprache ist - wow - super! wie schon chaosqueen bemerkte, man kann sich alles extrem gut vorstellen, es ist fast greifbar... wirklich toll!

cuio vae,
adaneth

 

Hallo Adaneth,

danke für's Lesen, freut mich ehrlich, dass es dir gefallen hat!

Liebe Grüße,
gori

 

Hi gori,
was soll ich dem noch hinzufügen? Also ganz kurz und angebunden: Klasse!

Grüße...
morti

 

Hallo Gori,

das ist die erste Geschichte die ich von dir lese
und...ich bin begeistert.
Auch ich sehe einen Film vor mir ablaufen.
Als deine Geschichte auf`s Ende zu ging, habe ich immer schneller gelesen, in der Hoffnung, dass der Junge es doch noch schafft.
Wie geht es mit ihm und seiner kleinen Freundin weiter?

Kannst du nicht eine Fortsetzung schreiben?

lg. coleratio

 

Hallo morti und coleratio,

danke auch euch :)

Ich muß zugeben, dass ich am Anfang bei diesem Text sehr, sehr skeptisch war, ich habe eben noch nie Kinder leiden lassen. Deswegen bin ich auch relativ überrascht, dass die Geschichte so positiv aufgenommen wurde.

Liebe Grüße,
gori

 

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