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Nachtflug
1.
Geisterhaft zog eine Kette phosphoreszierender Ostereier über den nachtschwarzen Himmel – die Reihe der Fenster, aus denen hier und dort ein wenig Licht drang. Im Innern der Maschine herrschte gedämpfte nächtliche Aktivität. Einige Passagiere schliefen, andere unterhielten sich leise oder betrachteten das bordeigene Fernsehprogramm. Nur die Wand der Flugzeugkabine trennte sie von fünfzig Grad minus und hauchdünnem Luftdruck.
Ariane blickte von ihrem Buch auf und sah aus dem Fenster. Die Erde unter ihr war verschwunden. Nur gähnende Schwärze breitete sich dort aus. Das Blau des Himmels war mit der Zeit immer weniger blau, das Schwarz des Weltalls immer schwärzer geworden. Am Ende war nur ein lavendelfarbener Lichtschein über dem Horizont geblieben, und schließlich war auch dieser verloschen – wie ausgeschaltet.
Sie flogen in einer Höhe von elftausend Metern mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Stundenkilometern, doch zu sehen war davon nichts. Begriffe wie Höhe und Geschwindigkeit schienen ihre Bedeutung verloren zu haben, es spielte auch keine Rolle mehr, ob es bewölkt war oder nicht. Nur die Sterne glitzerten kalt und starr am Himmel. Dort komme ich hin, wenn ich tot bin, dachte sie und schmunzelte über diesen unvorhergesehenen Gedanken.
Der Kapitän meldete sich. Das Wetter sei gut, näselte seine Stimme knisternd durch die Bordsprechanlage, und wenn man auf der linken Seite aus dem Fenster sehe, könne man unten die Lichter der Stadt Genf sehen. Ariane, die auf der rechten Seite saß, verrenkte sich den Hals, sah aber überhaupt nichts und ließ sich wieder in den Sitz zurückfallen. Angeblich verging die Zeit im Flugzeug durch die hohe Geschwindigkeit schneller als auf dem Erdboden – leider nicht schnell genug, als daß sich dies wesentlich bemerkbar gemacht hätte.
Erst in einer Linkskurve tauchten die Lichter von Genf ins Blickfeld der Fenster auf der linken Seite. Die Lichter waren wie die Sterne – sie bewegten sich nicht. Über die Lichter hinaus waren von der Stadt keinerlei Spuren zu entdecken. Keine Fahrzeuge, keine Straßen, keine Gebäude, nicht einmal ein besonders großes oder hohes. Bereits aus einer Höhe von elftausend Metern gesehen, erschien das Wirken des Menschen so gut wie bedeutungslos.
Vor einigen tausend Jahren waren die Menschen auf den verständlichen, aber naiven Gedanken gekommen, einen Turm bis in den Himmel zu bauen. Um dies zu verhindern, verwirrte Gott die Sprache der Menschen, so daß sie sich nicht mehr miteinander verständigen konnten. Damals gab es noch keine Dolmetscher, und das Unternehmen scheiterte. Doch was wäre geschehen, wenn man den Menschen ihren Willen gelassen hätte? Je höher der Turm geworden wäre, desto mehr wäre das Blau des Himmels verblaßt, bis sie schließlich nur noch das Schwarz des Weltalls und die kalt glitzernden Sterne über sich erblickt hätten. Und selbst wenn sie den Turm quer durch die Galaxie und das Universum gebaut hätten, wären sie dem Himmel kein Stück nähergekommen, sondern hätten sich nur immer weiter von ihm entfernt. Ariane runzelte die Stirn und las weiter.
2.
Das Flugzeug flog praktisch von selbst. Längst Vergangenheit waren die Zeiten, in denen der Pilot mit eigener Muskelkraft Kurs und Höhe hielt und seine Maschine durch Wolken, Wind und Nacht steuerte, während der Navigator hinter ihm aus Flugrichtung, Geschwindigkeit und Windverhältnissen die gegenwärtige Position und den einzuschlagenden Kurs berechnete. Heute gab man die Flugroute schon vor dem Abflug in den Computer ein und konnte sich darauf verlassen, daß sie beinahe metergenau eingehalten wurde. Geradeausflieger wurden die Kapitäne der Passagierflugzeuge von ihren Kollegen, den Sportpiloten, auch genannt, und besonders aufregend oder gar abenteuerlich war der Beruf des Verkehrspiloten heute nun wahrhaftig nicht mehr.
Im Cockpit glomm die gedämpfte Beleuchtung der Kontrollämpchen und Displays. Kapitän Ringer beendete seine Durchsage und hängte die Sprechschachtel an die Halterung zurück.
„Heute habe ich alles richtig gemacht“, grinste er. „Letzte Woche, auf dem Flug nach Madrid, habe ich kurz vor der Landung verkündet, wir würden in Kürze in München landen. Prompt hat sich ein Fluggast böse bei der Stewardeß beschwert und die Rückerstattung des Flugpreises und einen kostenlosen Rückflug verlangt.“
Der Erste Offizier entgegnete: „Ich hoffe, ich muß nie nach (hier stotterte er leicht) Massachusetts fliegen. Ich kann das Wort nämlich nicht aussprechen. Meist kommt etwas heraus wie M…Ma…Mäh…“ Er brach ab, wobei er mit der Hand abwinkte, und beide lachten.
Ein steigend-fallend-steigender Alarmton unterbrach die gelassene Stimmung, und eine dritte Stimme – die des Bordcomputers – mischte sich in die Unterhaltung ein. Sie forderte den Piloten kurz und nüchtern auf, in den Sinkflug überzugehen. Diese Prozedur wiederholte sich in regelmäßigen Abständen.
„Scheint, wir bekommen Besuch“, sagte der Kapitän in scherzhaftem Ton. Das Antikollisionssystem hatte angesprochen. Das TCAS zeigte eine andere Maschine nicht weit entfernt auf gleicher Flughöhe. Das war kein Grund zu besonderer Beunruhigung. Bei der Verkehrsdichte über Mitteleuropa kam es des öfteren vor, daß zwei Flugzeuge einander nahekamen. Ruhig und von den meisten Passagieren unbemerkt leitete Kapitän Ringer den Sinkflug ein. Wenn das System einwandfrei funktionierte, würde der Pilot der anderen Maschine seinerseits in den Steigflug übergehen.
Zur gleichen Zeit erreichte sie der Ruf des Fluglotsen. Er bestätigte die Annäherung eines zweiten Flugzeugs und wies Kapitän Ringer die neue Flughöhe von 36.000 Fuß zu.
Damit war die Angelegenheit im Grunde erledigt, die Gefahr beseitigt. Pilot und Copilot hörten über Funk den Sprechverkehr zwischen der anderen Maschine und der Verkehrsleitstelle mit. Aus irgendeinem Grund schien Uneinigkeit darüber zu herrschen, ob das zweite Flugzeug nun steigen oder sinken sollte. Wie es schien, hatte der Fluglotse zuerst den anderen Piloten zum Sinken aufgefordert. Der hatte zunächst nicht reagiert und war dann verspätet in den Sinkflug übergegangen, als die Anweisung schon nicht mehr aktuell war.
Die Stimme des Bordcomputers forderte Kapitän Ringer auf, noch stärker zu sinken. Er folgte dem vom TCAS vorgeschlagenen Manöver, während sein Erster Offizier die Verkehrsleitstelle von der neuen Lage unterrichtete.
Pilot und Copilot starrten in das Dunkel der Nacht hinaus. In Zwei-Uhr-Position waren zwei Positionslichter sichtbar, ein grünes und ein rotes. Zuerst war der Kurs der anderen Maschine nicht genau auszumachen, doch dann schienen die beiden Lichter auseinanderzudriften, und es wurde deutlich: Das andere Flugzeug befand sich nach wie vor auf Kollisionskurs. Kapitän Ringer und sein Erster Offizier wurden blaß. Die spätere Untersuchung sollte zeigen, daß es sich im Sprechfunkverkehr zwischen der Leitstelle und dem armenischen Piloten der zweiten Maschine als fatal erwiesen hatte, daß Gott die Sprache der Menschen verwirrt hatte.
3.
Fünfundachtzig Tonnen Flugzeug, fünfundzwanzig Tonnen Treibstoff und einhundertfünfundsiebzig Menschen verschwanden in einem Feuerball, der nach allen Seiten glühende Wrackteile spie. Die Passagiere bekamen von dem Unglück und von dem, was ihnen widerfuhr, fast nichts mit – gerade nur einen kurzen, flüchtigen Eindruck schrecklicher Gewalteinwirkung, bevor sie in alle Richtungen davonstoben. Kaum hatten sie bemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war, da waren sie auch schon – ja, wo waren sie eigentlich? Zuerst wußten sie selbst nicht mehr, wo sie waren, und dann konnten sie nichts mehr darüber sagen. Vielleicht fanden sie es schade, vom eigenen Ende so wenig mitzubekommen, daß sie nicht einmal mehr merkten, wie sie starben. Diese Welt verlassen zu müssen ohne Abschiedsgruß, ohne Kommentar, ohne wenigstens ihre Meinung dazu sagen zu können.
Die größeren Wrackteile fielen innerhalb kürzester Zeit auf die Erde zurück. Der baden-württembergische Ort Sonningen entging nur knapp einer Katastrophe. Ein Triebwerk fiel in ein abseits stehendes Haus und machte es dem Erdboden gleich. Zufällig waren die Bewohner des Hauses verreist, so daß niemand verletzt wurde. Hier und da folgte ein einzelner Koffer, eine angesengte Jacke, eine zerfetzte Handtasche, ein nicht mehr benötigter Schuh (der andere landete vielleicht einige Kilometer weiter oder existierte schlichtweg nicht mehr). Im Laufe der nächsten Stunden regneten und nieselten die kleineren und kleinsten Wrackteile herab und verteilten sich auf ein Gebiet von etwa tausend Quadratkilometern. Auch die Körper der Passagiere fielen in mehr oder weniger verkohlten und verstümmelten Einzelteilen vom Himmel. Von ihren Seelen wurde keine Spur gefunden. Sie blieben verschwunden.
Dem Fernsehzuschauer, Radiohörer oder Zeitungsleser stellte sich der Ablauf der Katastrophe zunächst in etwas widersprüchlicher Form dar. Ein halbes Dutzend Versionen über die möglichen Ursachen des Unglücks fand sofort Verbreitung, begleitet von zahlreichen Spekulationen. Einig war man sich allerdings darin, daß es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände handeln mußte. Die genauen Einzelheiten waren später im viele tausend Seiten umfassenden Untersuchungsbericht nachzulesen, der allerdings der Öffentlichkeit nicht zugänglich war.
Den Bewohnern von Sonningen hingegen war zumindest ihre eigene Lage klar. Niemand war ernsthaft verletzt worden, und doch war man gleichermaßen froh wie entsetzt darüber, wie knapp man einer Katastrophe entkommen war.
„Wenn man dem Tod so gerade noch von der Schippe gesprungen ist“, sagte einer vor der Kamera, „ist es, als bekäme man sein Leben ein zweites Mal geschenkt.“
Eine andere Bewohnerin von Sonningen sagte dagegen dies:
„Ich bin sicher, daß der Herrgott seine schützende Hand über uns gehalten hat. Als mein Junge heute aus der Schule nach Hause kam, sagte er, jetzt glauben bei uns alle an Gott.“
Welch eine Logik – oder welch ein Gott: Die Tatsache, daß einhundertfünfundsiebzig Menschen einen schrecklichen Tod fanden und ein Dorf beinahe ausgelöscht wurde, ist ein Beweis für seine Existenz und sein barmherziges Wirken.