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Nachtfahrt
Im Licht der Scheinwerfer tanzten die Herbstblätter einen Hexenreigen. Sie nahm ihren Blick von der regennassen Straße und sah ihn an. Seine Hände lagen entspannt auf dem Steuer, sein Kopf war leicht nach vorne geneigt. Der ganze Körper vermittelte den Eindruck vollkommener Konzentration.
Lächelnd verknotete ihre Hände im Schoss. „Stefan hat einen ziemlichen Bauch bekommen, findest du nicht?“
Ein Grinsen zog seinen rechten Mundwinkel nach oben. „Viele Haare hat er auch nicht mehr.“
Sie ließ sich tiefer in den Sitz sinken. „Maria ist immer noch hübsch.“
„Baby, keine ist so schön wie du.“
„Wie lange sind die beiden schon verheiratet?“
Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Keine Ahnung. Ewig.“
„Sie haben sich in Marias Kanzlei kennen gelernt. Stefan hatte diesen Verkehrsunfall und sie hat ihn vertreten."
„Den ganzen Abend habt ihr zwei Mädchen getuschelt.“ Er zog die Augenbrauen zusammen und warf ihr einen Seitenblick zu. "Wohin warst du zwischendurch eigentlich verschwunden?"
„Verschwunden?“
„Fast eine halbe Stunde lang konnte ich dich nicht finden.“
„Oh!“ Sie sah auf die Straße. „Nur auf der Toilette.“
„Auf der Toilette?“, echote er. Sie nickte.
Eine kurze Stille trat ein. Sein rechtes Augenlid mit den langen Wimpern zuckte.
Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. „Sie hat gefragt, ob ich für sie arbeiten würde.“
„Wer?“
„Maria! Sie hat mich gefragt, ob ich in ihrer Kanzlei arbeiten möchte.“ Sie hielt den Atem an.
Er lachte auf. „Das könnte ihr so passen!“ Sein Mund lächelte. Doch sie konnte sehen, wie seine Hände das Steuerrad umklammerten. „Du bist zu freundlich, Baby. Deshalb glaubt jeder, dich ausnutzen zu können.“
Sie holte tief Luft. „Ich glaube, es würde mir Spaß machen. Deshalb habe ich ihr zugesagt.“
Der Wagen geriet ins Schleudern, so plötzlich trat er auf die Bremse. Als das Auto schließlich stand, zitterte sie am ganzen Körper.
„Verdiene ich nicht genug?“ Seine Stimme klang heiser.
Sie schüttelte den Kopf. Dann nickte sie. Ein Würgen drückte ihr den Hals zu.
„Ich bin vielleicht kein reicher Zahnarzt. Trotzdem dachte ich, mein Einkommen wäre ausreichend. Aber du bist offensichtlich nicht zufrieden.“ Er drehte sich zu ihr herum. „Nie bist du zufrieden!“ Mit der flachen Hand schlug er ihr ins Gesicht. „Was willst du eigentlich?“
Sie schluchzte auf. Ihre Hand tastete nach dem Türgriff.
„Hast du vergessen, wo du herkommst?“ Er schlug noch einmal zu und traf ihre Nase. Es knackte. Weißglühende Fünkchen tanzten vor ihrem Gesicht. Sie öffnete die Tür und taumelte hinaus ins Freie. Die kalte Nachtluft traf sie wie ein neuer Schlag.
„Komm wieder ins Auto!“
Ihr Atem stand in kleinen Stößen vor ihr. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Die Straße führte in die Dunkelheit. Weder die Lichter von Häusern noch die von anderen Autos waren zu sehen.
„Zwing mich nicht, auszusteigen!“ Seine Stimme kippte. „Komm in das verdammte Auto! Oder muss ich dich holen?“
„Nein!“ Sie schmeckte Blut auf ihren Lippen.
Das Motorengeräusch verstummte. Die Autotür auf der anderen Seite wurde aufgerissen und seine Gestalt schraubte sich vor ihr in den Nachthimmel. „Es reicht jetzt! Komm her zu mir!“
"Ich verlasse dich!" Nur ein Flüstern kam heraus. Dabei wollte sie ihn anbrüllen, wollte es wegschreien, dieses Gefühl, zu erstarren, mit jedem Schlag, bis sie immer steifer und kälter wurde. Wie der Blechmann im Zauberer von Oz. Kein Herz, kein Gefühl.
Sie sah ihn an. Einen Moment lang starrte er zurück, dann strich er sich mit der Hand über die Stirn. „Okay, tut mir leid! Ich war wütend.“ Er schüttelte den Kopf. „Manchmal machst du mich eben wahnsinnig.“
„Verschwinde!“ Sie trat einen Schritt zurück.
„Ich habe doch gesagt, es tut mir leid. Was willst du denn hören?“ Lächelnd neigte er seinen Kopf zur Seite. „Es ist kalt, Baby. Komm ins Auto. Lass uns einfach weiterfahren.“
„Ich fahre nicht mit.“
„Sei nicht hysterisch! Willst du mitten in der Nacht, ganz allein, zu Fuß nach Hause gehen?“
„Das betrifft dich nicht mehr.“
Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete er sie. „Bitte! Aber ruf mich nicht an und heule herum, wenn dich jemand ausrauben und vergewaltigen will!“ Er setzte sich hinter das Steuer und sah durch die offene Beifahrertür zu ihr hinauf. „Deine letzte Chance!“
Wortlos nahm sie ihre Tasche vom Sitz und drückte die Tür zu. Der Motor startete und der Wagen fuhr los.
Es wurde dunkler um sie herum, doch am Himmel zeigte sich bereits ein heller Schimmer. Mit zitternden Fingern zog sie ein Taschentuch heraus und hielt es sich unter die Nase. Das Bluten hatte aufgehört. Fröstelnd zog sie ihre Jacke enger und ging los.
Sie war noch nicht weit gekommen, als sie ein Motorengeräusch hörte, das sich rasch näherte.
Das Licht von Scheinwerfern erfasste sie und warf ihren übergroßen Schatten zwischen die Bäume am Straßenrand. So weit wie möglich rückte sie an den Seitenstreifen. Der Wagen wurde langsamer.
Als er schließlich anhielt, warf sie einen Blick zurück und rannte los, im Zickzack über die Straße. Das Auto verfolgte sie, schien mit ihr zu spielen, kam näher und fiel in den Kurven zurück.
Ihr ging die Luft aus, doch sie lief weiter und weiter, wie man manchmal im Traum rennt, atemlos, mit dem Gefühl, niemals anzukommen. Wieder stoppte der Wagen. Keuchend blieb sie stehen und drehte sich um.
Der Motor heulte auf, einmal, zweimal. Mit quietschenden Reifen fuhr das Auto wieder an und raste auf sie zu. Sie konnte sich selbst schreien hören.
Es krachte.
Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf das Gesicht hinter der zersplitterten Frontscheibe. Seine Augen blieben geschlossen. Sie ging zum Wagen, öffnete die Tür und tastete nach seinem Puls. Langsam ließ sie die Hand sinken, trat einen Schritt zurück und betrachtete die völlig zerstörte Karosserie. Als Jugendliche hatten sie in den nächtlichen Straßen der Stadt manchmal Radmuttern von Autos gelöst. Meist bei Typen, über die sie sich geärgert hatten. Oder nur so. Viele Jugendliche machten so etwas. Nur die wenigsten wurden erwischt. Sie wendete sich ab und ging lächelnd weiter die Straße entlang.