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Nachtfahrt

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13.08.2001
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Nachtfahrt

Sein Herz rast. Adrenalin in großen Dosen, das durch seine Adern rauscht. Ein LKW kreuzt die Fahrbahn. Die Ampel war rot gewesen. Er hatte es nicht gesehen. Seine Gedanken waren nicht hier, sie waren da. Zwei Autobahnabfahrten und einige Kilometer weiter. In einem Doppelbett mit Satinlaken.
Nur ein Reflex hatte ihn gerettet. Der Reflex das Richtige zu tun, hatte den Unfall verhindert. Er atmete tief durch.

Die Jugendlichen bemerkten davon nichts. Jeder eine Flasche in der Hand, überquerten sie lachend die Fußgängerampel. Keiner von ihnen ahnte auch nur, wie nah sie gerade dem Unausweichlichen gewesen waren. Zerquetscht zu werden zwischen einer mit Vogelkot verdreckten Motorhaube eines SLK und dem Seitenaufbau eines LKW, der lebende Schweine zum Schlachthof bringt.

Was da passiert war... Er rieb sich mit der Hand über die Augen, rieb über die Augenlider. Rot vor seinen Augen. Grün vor seinem Gesicht. Er fuhr nicht, es war keiner hinter ihm. So spät in der Nacht gab es keinen Verkehr hier.
Noch 10 Minuten bis nach Hause. Hatte er noch Vodka da? Der Reflex, das Richtige zu tun. Wie absurd. Er fühlte sich nicht nur schuldig, er war es. Seine Hand fuhr über sein stoppeliges Kinn. Er roch sie noch an seinen Fingerkuppen. Es war noch Vodka da. Ganz sicher.

„Ist alles in Ordnung“, hatte sie danach gefragt und er hatte sie angeschaut. Der Rausch war verebbt. Da war kein Nebel mehr, nur Klarheit.
„Ich weiß nicht“, hatte er geantwortet. Eine Lüge. Die Wahrheit kannten beide.

Er fuhr weiter. Das Gefühl des Lenkrads in seinen Händen beruhigt ihn, weil es vertraut war. Wie war es dazu gekommen?
Eine Tankstelle erhellte die klare, warme Sommernacht. Einsam stand sie da zwischen Fabrikhallen. Der Nachtschalter ist offen. LKWs stehen dort. In die andere Richtung liegt die Autobahn.

„Wir dürfen nicht...“, ihre Stimme hallte nach. Es war ein Echo der Vernunft gewesen, zu nah, um es nicht zu hören, zu weit weg, um es zu verstehen . Da stand sie schon vor ihm, fast nackt.
„Niemand wird...“, der Satz, nie zu Ende gesagt. Der Trieb hatte die Fäden in der Hand. Das Drehbuch, geschrieben von den Hormonen, die ihre Körper fluteten. Seinen Körper zumindest. Er hatte sie gespürt. Vielleicht war es aber auch nur das Blut gewesen, was von seinem Gehirn, in den Schwanz gewandert war.
Der Reflex, das Richtige zu tun, hatte auch in diesem Augenblick und denen danach funktioniert. Technisch gesehen zumindest. Körper lügen selten. In diesem Fall hatte keiner der beiden gelogen, das hatte er gespürt.

Sie war verheiratet, er verlobt. Sieben Jahre kannte er sie jetzt, zwanzig Jahre kannte er ihn. Sommer, Winter, Schule, gemeinsame Urlaube. Ihm war plötzlich schlecht. Manchmal fühlt sich Schuld wie eine Magen-Darm-Grippe an. Hoffentlich war noch Vodka da.

Wie hatte das angefangen? War es heute Abend gewesen? Früher? Wann? Er erinnerte sich nicht daran. Kein klarer Gedanke. Die Straßen rauschten jetzt vorbei. Er beschleunigte noch mehr und erinnerte sich an etwas anderes, an ihren Geschmack, ihr Stöhnen, den Anblick ihres prallen Arsches, wie er hinter ihr kniete...

Die Erinnerungsflut spülte für einen kurzen Augenblick die Schuld fort. Oder überspülte sie. Denn kurz danach war sie wieder da. Schuld wird nicht fortgespült. Außer vielleicht von Vodka. Er würde es probieren. Gleich.

Er lenkte sein Auto auf den Parkplatz, stellte den Motor ab, schnallte sich ab, starrte noch für fünf Sekunden in die Nacht und stieg aus. Wieder eine Welle. War es Wut? Auf wen denn? Für einen Augenblick zögerte er, überlegte die Tür zuzuschlagen. Mit einem Ruck tat er es dann. Das Geräusch hallte in seinen Ohren nach. Im Hintergrund hörte er das Rauschen der nicht ganz so fernen Autobahn. Er musste jetzt gerade viele Gedanken haben, dachte er sich und schaute zum Mond hinauf. Warum hörte er nur keinen?

Das Klingeln seines Handys holte ihn zurück. Mühsam fischte er es aus seiner Jackettasche. Ein Blick auf das Display, dort war ein Name. Nicht ihrer. Seiner. Sein Magen krampfte, Magen-Darm-Grippe, es wurde leer um ihn, in ihm.

Vielleicht war es nicht klug. Aber er tat es trotzdem, schließlich war es einer der Reflexe, denen er zu vertrauen gelernt hatte. Der Reflex, das Richtige zu tun.

 

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