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Nachtfahrt
Nachtfahrt
Berger verspürte eine Berührung an seiner Schulter. Sofort riss er die Augen auf und erblickte das freundliche Lächeln eines älteren Herrn in dunkelblauer Uniform. „Die Fahrscheine, bitte!“ Augenblicklich war er wieder hellwach. Er musste wohl eingeschlafen gewesen sein. Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster offenbarte ihm eine hügelige, ländliche Landschaft. Die Sonne war schon untergegangen.
Berger kramte den Fahrschein aus seiner Anzugtasche und hielt sie dem Schaffner entgegen. Zufrieden entwertete dieser den Fahrschein und gab ihn an Berger zurück. „Sie werden in fünf Minuten ankommen, einen schönen Abend noch!“, sagte der Schaffner abschließend und wandte sich zu nächsten Passagier.
Berger lehnte sich verschlafen in den Sitz zurück und blickte auf seine Armbanduhr.19.54 Uhr. Er sah sich um. Normalerweise war er eine andere Umgebung gewohnt. Sein Beruf brachte es mit sich, dass er als erfolgreicher Staatsanwalt eher mit der Oberschicht des Landes verkehrte. Hier im Zug saßen für ihn eher gewöhnliche Menschen, mit denen er sonst nicht viel zu tun hatte. Aber als Berger in seinem voll gestopften Terminkalender spontan zwei freie Tage entdeckt hatte, beschloss er, seinen Eltern einen Besuch abzustatten. Ein solcher Besuch war immer mit endloser Fahrerei verbunden, weil seine Eltern sozusagen am Ende der Welt wohnten, und da Berger den Komfort des Zugfahrens sehr zu schätzen wusste, ließ er sein Auto in der Garage stehen. Der einzige Nachteil bestand in den nervigen Regionalexpressen, die alle zwei Kuhkäffer anhalten und zu dieser Zeit meistens mit Besoffenen oder Asozialen überfüllt waren.
Im nächsten Moment quietschten die Bremsen unerträglich laut und der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen. Berger nahm seinen schwarzen Koffer von der Gepäckablage und stieg aus dem Zug aus.
Ein eisiger Windstoß fuhr ihm durch den Anzug. Es war kalt. Entsetzlich kalt. Berger blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Frierend ging er auf das Bahnhofsgebäude zu, in dem sich schon jetzt niemand mehr befand und kein Geschäft mehr geöffnet war. Er wusste aus Erfahrung, dass jetzt kein Bus mehr fahren würde. Er lief durch das Bahnhofsgebäude und fand sich auf einem kleinen Vorplatz wieder, hinter dem sich die „Stadt“, oder besser gesagt eine kleine Ansammlung von Häusern befand. Berger atmete auf – vorne an der Straße standen drei Taxen.
Er ging auf das vorderste Taxi zu, verstaute seinen Koffer im Kofferraum und stieg hinten ein, um später einem lästigen Gespräch mit dem Fahrer zu entgehen. Zufrieden stellte er fest, dass der Fahrer von sich aus wohl nicht sehr offen für Gespräche war. Zwischen Hinter- und Vordersitzen befand sich ein Eisengitter. Der Taxifahrer musste bemerkt haben, wie Berger auf das Gitter starrte. „Ist nur eine Sicherheitsvorkehrung. Vor ein paar Wochen wurde hier in der Gegend ein Taxifahrer ermordet. Ich lasse meine Mitfahrer grundsätzlich nicht vorne einsteigen. Ich hoffe, dass Sie das nicht stört“, sagte der Fahrer mit freundlicher und vornehmer Stimme. Berger war das nur recht- er wollte auf der ca. 20-minütigen Fahrt einfach seine Ruhe haben und ein wenig Zeitung lesen. Seine Eltern wohnten ein wenig abgelegen von dem Dorf.
„Kein Problem. Ist ja verständlich“, erwiderte Bergen höflich. „Wo darf es hingehen?“, fragte der Fahrer und drehte sich das erste Mal um. Im ersten Moment erschrak Berger, denn der Mann sah auf eine gewisse Art unheimlich aus. Berger schätzte ihn auf ungefähr 40 Jahre. Er hatte ein kantiges Gesicht ohne jegliche Falten, schwarze und glatte Haare bis zu den Schultern, einen schwarzen Schnurrbart und tiefe, schwarze Augen. Zu Bergers Überraschung trug der Mann außerdem einen schwarzen Anzug, was ihn Zusammenwirken mit seinem Gesicht komischerweise überaus vornehm aussehen ließ. Sogar so vornehm, dass es auf Berger eine unheimliche Wirkung hatte.
„Ist was?“, fragte der Fahrer in leisem, vornehmem Tonfall. Berger errötete. Es war ihm überaus peinlich, den Fahrer so angestarrt zu haben.
„N…nein, tut mir leid! Mauerstraße 5 in Waldhausen, bitte.“ Ohne ein Wort zu sagen setzte der Fahrer den Mercedes in Bewegung. Das Motorengeräusch war kaum zu hören, ein Meisterwerk schwäbischer Mechaniker.
Berger lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster. Der Fahrer lenkte das Auto aus der Stadt heraus. Es war stockdunkel. Außer den schemenhaften Umrissen von Häusern und Bäumen war draußen nichts zu erkennen. Berger fror. Es war sogar hier im Wagen entsetzlich kalt. „Könnten Sie bitte die Heizung anmachen?“, fragte Berger freundlich in den vorderen Teil des Wagens. Wortlos drückte der Fahrer einen Knopf. Der Wagen wurde immer schneller und schneller. Draußen war auf Grund der hohen Geschwindigkeit nichts mehr zu erkennen. Berger versuchte verkrampft, einen Blick auf die Tachonadel zu erhaschen. Die Sitzposition des Fahrers machte es ihm jedoch unmöglich.
„Warum müssen Sie denn so rasen, Mister?“, fragte Berger energisch. Der Fahrer gab keine Antwort und fuhr wie verstummt weiter. Berger fiel auf, dass die noch zuvor glatt gekämmten Haare nun wirr und wie verfilzt am Kopf hinunter hingen. Das unheimliche Verhalten und die Veränderung des Fahrers sowie die erdrückende Stimmung im Wagen sorgten dafür, dass eine gewisse Art von Beklemmung Besitz von Berger ergriff.
„Mister, hören Sie mich überhaupt?“, rief Berger, nun deutlich lauter. Wieder keine Antwort. Berger war der Verzweiflung nahe. Er spielte mit dem Gedanken, die Tür zu öffnen und heraus zu springen, was bei dieser Geschwindigkeit jedoch glatter Selbstmord gewesen wäre.
Berger überlegte kurz und klopfte gegen das Gitter. Erst leise, dann immer lauter. Sein Blick fiel auf den Fahrer. Er erschrak fürchterlich. Viele Haare des Fahrers lagen nun wie abgerissen auf dem Polster des Sitzes. An einigen Stellen konnte Berger die weiße Kopfhaut erkennen. Er schrak zurück, sammelte sich jedoch sofort wieder und schrie: „Mister, was ist los mit Ihnen, hören Sie mir überhaupt zu?“ Der Fahrer gab, wie von Berger erwartet, keine Antwort. „Halten Sie sofort an!“, schrie Berger und schlug mit aller Wucht gegen das Gitter. Diesem Schlag folgten vier weitere Schläge. Beim letzten Schlag riss das Metallgitter die Haut an Bergers Knöcheln auf, Berger schrie vor entsetzlichen Schmerz auf. Im nächsten Moment überkam Berger ein Gefühl der Übelkeit und er musste sich beherrschen, sich nicht zu übergeben. Erschöpft ließ er sich zurück in seinen Sitz fallen und fing an, zu hoffen. Er konnte nichts tun. Überhaupt nichts. Berger versuchte, sich zu beherrschen. Er durfte nicht in Panik geraten. Er musste den Fahrer und seine merkwürdigen Veränderungen im Auge behalten. Das beklemmende Gefühl wurde immer stärker.
Im nächsten Moment bewegte der Fahrer seinen rechten Arm vom Lenkrad weg. Berger richtete sich auf und beobachtete, was der Fahrer vorhatte.
Abermals erschrak er, als er die Hand des Fahrers sah. Sie war knöchern, bleich und sehr faltig. Mit seinem knöchernen Zeigefinger tippte der Fahrer auf einen Knopf in der Mittelkonsole des Wagens. Im nächsten Augenblick war der ganze Wagen mit klassischer Musik erfüllt – Beethovens 5. Symphonie. Die knöcherne Hand drehte an einem Rädchen, sodass die Musik unerträglich laut wurde. „Was soll das?“, schrie Berger, so laut er konnte. Die Haare des Fahrers waren zu seiner Überraschung mittlerweile grau und dünn geworden. Das Gefühl der Beklemmung war mittlerweile dermaßen stark, dass Berger anfing, von Schmerz und Pein zu wimmern. Seine rechte Hand pochte stark vor Schmerzen. Er legte sich, so gut es ging auf die Rückbank und versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. Die Musik ließ sein Trommelfell unaufhörlich vibrieren, so sehr, dass er bald die Melodie nicht mehr erkannte.
Er wusste nicht, wie lange er auf der Rückbank des Wagens gelegen war, und wie lange die Musik nun schon sein Trommelfell belastete, da verstummte sie von der einen auf die andere Sekunde. Berger richtete sich mit letzter Kraft auf. An der Gestalt des Fahrers schien sich nichts verändert zu haben.
„Mister … b…bitte halten Sie an!“, wimmerte Berger. Mit einem Ruck drehte sich der Fahrer um. Was Berger sah, ließ ihn die Welt um sich herum vergessen. Das Gesicht des Mannes war weiß wie Schnee, jeder einzelne Teil des Schädels war zu erkennen. Die Augen waren in riesige, dunkle Höhlen vertieft und aus Nase und Ohren wuchsen weiße Haare. Ihm war, als säße ein Skelett vor ihm. Ihm schien, als grinse es ihn hämisch an.
Berger war wie festgefroren. Was dann geschah, war für Berger wie ein Wunder. Der Fahrer öffnete seinen zerfallenen Mund und sagte in uralter, jedoch immer noch ungemein vornehmer Stimme: „Es tut mir schrecklich leid, ich mache hier meinen Job. Einfach nur meinen Job!“ Berger löste sich aus seiner Erstarrung. „Was ist mit Ihnen passiert? Wir müssten schon längst angekommen sein!“, sagte Berger dann mit schmerzerfüllter Stimme. Der Fahrer blickte ihn daraufhin noch eine Weile durchdringend an, ohne dabei jedoch die mörderische Geschwindigkeit zu verlangsamen, drehte sich mit einem Ruck wieder um und drückte wieder einen Knopf . Diesmal war die Stimme eines Radiosprechers zu vernehmen.
„Es ist 21 Uhr. Soeben erreichte uns die Meldung, dass der Regionalexpress RE 19401 auf dem Weg nach Lindau kurz vor Waldhausen von den Gleisen gesprungen und daraufhin einen Abhang hinuntergestürzt ist. Alle Passagiere seien laut Bergungsteams sofort tot gewesen. Die Unfallursache ist noch unklar. Wir halten Sie auf dem Laufenden.“
Berger wurde bleich und fing sofort an, fürchterlich zu zittern. Ihm wurde schwarz vor Augen, und diesmal konnte er nicht gegen die Ohnmacht ankämpfen.
Als Berger wieder erwachte, war der Wagen zum Stehen gekommen. Draußen war es ein wenig heller geworden, jedoch konnte Berger noch immer nicht viel erkennen.
„Steigen Sie aus, wir sind da!“, sagte der Fahrer freundlich, jedoch bestimmt. Berger öffnete die Tür. Das Gefühl der Beklemmung war wie weggeblasen. Er traute seinen Augen nicht, als er sich umsah. Der Fahrer hatte das Taxi auf einem riesigen Platz geparkt, auf dem noch unzählige weitere Autos standen und dessen Ende links und rechts nicht zu erkennen war. Am gegenüberliegenden Ende des Platzes befand sich eine Art riesige Wand, die nur aus purer Dunkelheit zu bestehen schien. Berger drehte sich mit dem Rücken zu Wand. Es war nichts zu erkennen. Er drehte sich nochmals um. Viele Gestalten liefen auf die Wand zu und verschwanden dann in der Dunkelheit. Vor dem Taxi stand ein Schild mit der Aufschrift RE 19401, auf zwei noch leeren Parkplätzen nebenan ebenfalls.
„Gehen sie einfach auf die dunkle Wand zu“, ertönte es aus dem Wagen. Berger blickte zurück in die andere Richtung. „Es gibt kein Entkommen von diesem Ort, überzeugen Sie sich selbst, wenn sie wollen!“, ertönte es wieder aus dem Wagen.
Berger schaltete schnell und rannte los, weg von dem Parkplatz, weg von der dunklen Wand. Mit jedem Schritt wurde jedoch das Gefühl der Beklemmung immer stärker. Er rannte weiter, brach jedoch schon nach wenigen Schritten zusammen und musste sich übergeben. Mit letzter Kraft schleppte er sich zurück zum Parkplatz, das Gefühl der Beklemmung ließ wieder nach. Er blickte noch einmal in das Taxi. Der Fahrer hatte nun keine Haut mehr. Am Steuer saß ein Skelett. "Mister?", fragte Berger leise. Der Fahrer reagierte nicht mehr auf sein Erscheinen. Es war ihm jetzt egal. Er ging auf die schwarze Wand zu. In den anderen Autos saßen ebenfalls Skelette. Viele andere gingen auch auf die Wand zu. Es wurde nichts gesprochen.
Berger fing an zu weinen, als er in die Dunkelheit der Wand eindrang. Es wurde kalt. Entsetzlich kalt.
Und dunkel. Sehr dunkel. Berger verlor das Bewusstsein.
Es würde nie wieder hell werden.
Copyright 2003 by Apocalypse