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Nachtaufnahme
Nachtaufnahme
Sie stand am Fenster, blickte hinaus in den späten Nachmittag, der dunkelrot über den Dächern der Stadt verglomm. Sie sah die einströmende Dämmerung in die Siedlung, in die Straße vor dem Haus, das unregelmäßige Aufflammen der Beleuchtung in den sachlich gekachelten Hausfluren. Sie fröstelte. Ganz nah, dass der Atem die Scheibe beschlug, beugte sie sich an das kalte Glas und beobachtete den sich ausbreitenden blinden Fleck. Wie ein Weichzeichner, dachte sie.
Ihre Augen ertasteten den schwarzfeucht schimmernden Straßenverlauf, dessen verwitterte Markierungen schon zwei Blöcke weiter mit dem Asphalt konturlos verschmolzen.
Straßenlaternen warfen milchige Kegel in die Dämmerung, enttarnten die neblige Kühle des fortschreitenden Jahres und zeichneten wässrige Ovale auf Bürgersteige und Straßen. Von den halb entlaubten Bäumen taumelte der erschöpfte Spätsommer. Nass schimmernde Blätter schlingerten müde im Wind, fielen, tauchten in das bronchiale Gewirr der Zweige und Äste, und klatschten unten neben die grünen und schwarzen Plastikmülltonnen auf klammen Asphalt im dünner werdenden Feierabendverkehr, in dessen vorbeihuschenden Scheinwerfern die bunten Rückstände des Sommers fast grotesk wirkten.
Sie folgte einem der herbstlichen Stürze, sah torkelnde Aufschläge im Gewirr der schwarzen Äste, verlor zwischen den armdicken Knorren den Kontakt, schätzte seinen Fall, erwog die Abweichung durch Wind, erfasste den dunklen Schatten wieder unterhalb der Krone um ihn dann irgendwo zwischen den rostverkrusteten Fahrradständern zu verlieren.
Sie blickte auf des Haus gegenüber, wo Dämmerung die unregelmäßig erhellte Front korrigierte, aus der nun zunehmend dünne Lichttrapeze auf die Bürgersteige schlugen. Die am Tag schmutzige Fassade ringsum erlosch.
Ein Negativ, es ist wie ein Negativ. Sie lächelte, als sie an den Fotokurs dachte. Vor zwei Monaten. Im staubigen Spätsommer. In dieser riesigen Stadt. Neue Menschen wollte sie kennen lernen. Nicht, dass sie nicht auch Spaß am Fotografieren hatte, aber so das Zusammensein mit anderen, zu lernen, sich auszutauschen, das war doch besser. Heute abend wäre der Kurs.
Ihr gefiel die Dunkelheit, gefiel dieses Negativ besser als das Positiv des Tages, wo sie immer diese schmutzige Fassade sehen musste, den rissigen Putz an der Eingangstür, die leblosen Fenster mit den sortierten Gardinen – Leichentücher, die schonungslos überfüllten Mülltonnen, die abblätternde Farbe der beige verseuchten Briefkästen. Man sah jetzt überall das Leben, die Hauswand gegenüber wurde in dieser Einstellung grobkörniger, eine Schwarzweißaufnahme. Unterbelichtet, retuschiert durch die Nacht. Übrig blieben lebhaft eingerahmte, warme Vierecke. Gelbes Wohnzimmerlicht, weißkochendes Küchenlicht, dick beschirmtes Spießbürgerlicht, Kinderlachenlicht durch bunte Mobiles, Kartonfiguren und Fensterbilder, schütteres Licht aus den blinden Scheiben der Badezimmer, Kristalllicht aus trübglasigen Haustüren, das wie durch Kandis auf die Stiegen sickert. Wie man wohl so eine Scheibe herstellt? Und ob man aus Kandis, aus süßem Kandis so etwas machen könnte? Sie musste lächeln. Eine Scheibe aus Kandis. Was für Kinder, dachte sie.
Ein Kind weinte.
Sie lauschte in die dunkle Wohnung. Es kam von oben, war nicht die Stimme ihres Kindes. Es musste das Baby der Familie über ihr sein. Es weinte oft, fand sie. Die Leute kannte sie nicht. Die Mutter hatte einmal im Discount vor ihr an der Kasse gestanden und der Mann hatte ihr im Treppenhaus immerhin mal einen verqualmten Gruß zugebrummt. Sie hatte ihm zugenickt. Oben klapperte jetzt das Besteck ins gefüllte Spülbecken. Dumpfe Schläge fettiger Abendbrotmesser, zuckerrestigen Teebechern, nutellabemaltem Kinderbesteck übertönten für einen Moment den kindlichen Protest gegen den Abschied vom Tag. Familiengeräusche.
Dann war es wieder still.
Vielleicht war der Junge über ihr eingeschlafen. Das passierte bei Kindern. Das passierte ja oft, hatte sie vorher gehört. Und auch ihrem Kleinen passierte es dann manchmal. Während des Weinens. Plötzlich klappen die Lider herab, die Blende schließt sich und ein nur den Kindern erlaubter Ausdruck zufrieden seliger Ruhe entspannt die Züge.
Die schwarzen Lücken in der Front gegenüber ergaben sich jetzt lückenlos der Dunkelheit. Wie ein Gebiss, eine Zahnreihe, dachte sie. Vielleicht bekam das Baby einen Zahn und weinte deshalb so oft. Unsinn, so weit war es noch nicht. Darüber hatte sie gelesen, hatte sich informiert, wollte wissen, wann es bei ihrem so weit sein würde, würde vorbereitet sein. „Bernsteinkette, hilft ihrem Baby beim Zahnen“. So ein Unsinn käme ihr jedenfalls nicht ins Haus.
Unten bog ein Jogger um die Straßenecke und schnaubte warme Atemfahnen in die Abendluft. Im Licht der Laternen blinkten schmale Streifen reflektierenden Stoffs auf dem Trainingsanzug ihr hinauf.
Sie dachte an Thomas.
Thomas aus dem Kurs. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden. Er gefiel ihr. Sein charmantes Jungengesichtlächeln mit den dunkel blitzenden Augen, seine ruhige Art zu sprechen. Oft hatten sie gemeinsam im Labor vor den verwesten Momenten gesessen, die sich langsam aus dem Papier heraus reinkarnierten. Nah, ein bisschen mehr als nötig - meinte sie - hatten sie die Köpfe über die Unterwassergeburten gedrängt. Schlingerten beide für Augenblicke auf unsicheren Gewässern, schiffbar geworden durch die Unverbindlichkeit der gemeinsamen ästhetischen Arbeit, dem chemischen Prozess, der sich vor ihren Augen abspielte.
Du riechst gut, hätte sie damals fast gesagt. So unaufdringlich wahrnehmbar frisch, weich, manchmal auch ein bisschen herb, wenn sie unter diesem duftigen Mantel einen Tupfer Rasierwasser bemerkte. Sie stellte sich die Badezimmerszene vor. Verchromte Nassrasierer im Zahnputzbecher, Rasiergel, ein winziger Rest klebt an der Öffnung, ein weißverschäumtes Thomasgesicht, mit den dunklen Augen darin.
Das war der Tag, an dem sie Thomas in ihre Zukunft dachte. Zum ersten Mal. Sie konnte sich das damals nicht erklären, sie blickte auf die Veränderung der Konturen vor ihren Augen, sah das sich zunächst schemenhaft herausschälende Motiv, bemerkte, wie ihr ganzer Körper seinen Geruch inhalieren wollte. Sie wünschte sich eine Berührung durch diese Hände mit den feingliedrigen Fingern, die auf den Tasten eines Klaviers gleiten könnten, Künstlerhände. Sie sah ihr Gesicht in diesen Händen, durch Linsen gebrochen, fokussiert, gespiegelt und berührt von ihm.
Er hatte sie gut getroffen, eine Außenaufnahme, an dem Tag der Exkursion an die Küste. Sie auf der Deichkrone vor dem bewegten Himmel. Wolken, die an der Unterseite von der Sonne schneeweiß strahlten. Darüber windzerfetzter bleierner Küstenhimmel. Er hatte die Horizontlinie niedrig gesetzt, ohne ihn jedoch vor dem Motiv, sie, dominant wirken zu lassen. Sie blickte ihn von der Seite an und hörte ihn durch die Zähne sagen: „Ist ganz OK, hätte Dich aber noch näher ranholen können“.
Sie war verbittert, als er ihr das Foto schenken wollte. In einem Anflug von Wagemut schluckte sie die Enttäuschung herunter und fragte ihn, ob Sie ihn dafür einladen dürfe, noch etwas gemeinsam zu trinken und riskierte, ihr Kind ein, zwei Stunden später abzuholen.
Er nahm sie mit in eine Kneipe in der Innenstadt nahe der Volkshochschule. Sie war nie dort gewesen. Wohl eine Art Szenekneipe. Blank gescheuerte Holzmöbel, Wohnzimmerstubenlicht, handgemalte Karten, Rohrstühle an wachsbekleckerten Rundtischen, Baguette „zwei fuffzig“.
Sie plauderten über den Kurs, über Verschlusszeiten, Fotografieren im Gegenlicht, Lichtsetzung im Allgemeinen, Filmempfindlichkeiten, Brennweiten, Belichtung bei schnellen Objekten, Blaustich bei Außenaufnahmen.
Es war eine lebhafte Unterhaltung in der Thomas sie immer wieder mit Fachkenntnissen und Tricks überraschte. Eigentlich unterforderte ihn der Kurs. Nach dem Semester wolle er ein halbes Jahr durch die Welt reisen und Bilder machen. Eine Mappe anfertigen und sich vielleicht für ein Grafik-Design Studium umschreiben. „Muss hier mal weg“, sinnierte er über sein Bierglas.
Bis dahin hatte sie gehofft. Auf einen Moment der Stille, einen unversilbten Augenblick, der das Gespräch aufschüttelte, entrümpelte. Hatte gewünscht, was man sonst so vermeidet, ein unangenehmes Schweigen, in dem peinlich berührende Blicke gleiche Gedanken hätten offenbaren und scharf stellen können.
Es kam nicht mehr dazu. Thomas kam nicht mehr. Jedenfalls nicht in der nächsten Woche und auch nicht in der übernächsten. Dann war er wieder da. In der Pause plauderten sie wie immer. Er sagte nicht, wo er gewesen sei, nichts zu dem gemeinsamen Abend. Warum auch.
Sie sahen beide aus dem Fenster. Er tippte mit schnellen Fingern etwas in sein Handy. „Und, was steht bei Dir heut’ noch an“, murmelte er über sein Handydisplay gebeugt.