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Nacht im Park
Nacht im Park
Es war meine erste Nacht auf der Straße. Ich ging langsam den Bürgersteig entlang, im schwachen Licht der wenigen Straßenlaternen. Ein beharrlicher Nieselregen dauerte schon über eine Stunde an. Ich schob das dicke Bündel Zeitungen, das ich bei mir trug, unter mein Sakko, klemmte es mir dort unter den Arm. Die obersten Seiten waren schon ganz feucht und wellig.
Die Feuchtigkeit drang auch in meine Schuhe und dort in die Socken.
Ich kam an einem Mann vorbei, der, in einige zerlumpte Wolldecken gehüllt, in einem Hauseingang saß und auf die Straße hinausblickte. Er hatte mich schon seit einer Weile kommen sehen und musterte mich. Als ich auf seiner Höhe war, grüßte er freundlich. Ich grüßte zurück. Der Mann mochte um die fünfzig sein, unrasiert, faltig. Er saß aufrecht da, an die Wand gelehnt, eine dicke, verfilzte Wollmütze auf dem Kopf. Eine Hand ruhte auf seinem Schoß, die andere behielt er unter den Wolldecken.
Ein Lächeln spielte in seinem Mundwinkel, als er mich ansah.
"Wie siehst du denn aus?"
"Ist ein alter Anzug", murmelte ich.
"Bist ganz neu hier, was Junge?"
Ich nickte. "Ich wollte eigentlich in den Park."
"Dir eine Bank suchen, was?"
"Ja."
Er brach in dröhnendes Gelächter aus, das schnell zu einem tiefen, kehligen Husten wurde, der ihn einige Augenblicke kostete, um wieder zur Ruhe zu kommen. Daraufhin erschien auch seine zweite Hand und mit ihr eine Flasche Markenwhisky. Ein tiefer Schluck, dann noch einer, dann bot er mir die Flasche an. Ich lehnte dankend ab.
"An sowas hättest du denken sollen, Junge. Aber dafür ist es erstmal zu spät."
Er beugte sich vor und deutete den Weg hinab.
"Dort gehst du jetzt lang, dann die zweite links und ein Weilchen geradeaus. Da findest du wenigstens erstmal einen warmen, trockenen Platz. Sonst wirst du hier kaum Spaß haben."
Mit einem Räuspern wickelte er sich wieder in seine Decken.
"Würd dich ja hierbehalten, aber ich erwarte noch Besuch."
Sein Lachen begleitete mich noch eine Weile, bis ich um die besagte Straßenecke bog.
Der warme, trockene Platz, von dem er gesprochen hatte, bestand aus einigen Wellblechverschlägen und zwei brennenden Mülltonnen in einem Hinterhof. Ich war nicht alleine dort. Ringsum stand ein gutes Dutzend Männer an den Mülltonnen, einige saßen auf Kartons und Pappen auf dem Betonboden.
Ich näherte mich einer der Mülltonnen. Die Männer rückten wortlos zur Seite, um mir einen Platz am Feuer freizumachen. Ein großer Farbiger mit einem breiten Pflaster auf der Stirn, eine grobe Wolldecke wie einen Poncho umgehängt, nickte mir zu.
"Mein Name ist Memphis. Du bist zum ersten Mal hier bei uns."
"Das stimmt." Ich nickte, "Wenn ich ehrlich bin, hatte ich es mir irgendwie anders vorgestellt."
Ein breites Grinsen enthüllte kräftige, gelbe Zähne.
"Das sagen sie fast alle am Anfang. Du mußt dich erstmal etwas einfinden, dann wird das schon."
Er stemmte die Hände in die Hüften.
"So wie du aussiehst, hast du sicher ein ganzes Paket Zeitungen dabei."
Ich holte das Bündel unter meinem Arm hervor.
"Allerdings, woher..."
"Nur so eine Ahnung", das Grinsen wurde noch breiter, "schmeiß es einfach in die Tonne, zu was anderem ist das hier nicht gut. Es sei denn, du willst die noch lesen."
Die anderen Männer am Feuer grinsten und stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen an. Ich blätterte kurz durch die Seiten.
"Naja, die sind alle schon etwas älter."
Ich begann, die Zeitungen in die Flammen zu werfen.
"Ursprünglich wollte ich ja in den Park."
"Dort ist es auch sehr schön." Memphis kratzte sich am Kinn. "Nur nicht zu dieser Jahreszeit, es regnet einfach zu viel. Deswegen sind wir auch alle hier."
Ich betrachtete die zerlumpte Kleidung der anderen.
"Ihr seht aus, als wärt ihr schon ewig hier."
Die Männer nickten gutgelaunt.
"So ist es, mein Freund", sagte Memphis und breitete die Arme aus, "wir hier sind der harte Kern, von Anfang an dabei. Du bist zu den richtigen Leuten gekommen."
Die umstehenden Männer klopften mir auf die Schultern, einer lieh mir sogar einen zerschlissenen Wollmantel. Man kam miteinander ins Gespräch, es wurde viel gelacht und eine Flasche Rum machte die Runde. Memphis versprach, mir etwas besseres als den Park zu zeigen, sobald der Regen vorbei wäre.
Der Regen hörte bald auf und Memphis und ich machten uns auf den Weg. Nach kurzem Fußmarsch, während dessen Memphis mich bat, ihm das Reden zu überlassen, erreichten wir unser Ziel. Es war eine kleine U-Bahnstation. Ich muß wohl sehr erstaunt ausgesehen haben, denn Memphis stieß mich an und lachte.
"Das ist noch ganz neu, das wird dir gefallen."
Wir betraten den kleinen U-Bahnhof. In einer Nische am Bahnsteig lag eine zerlumpte Gestalt, die grüßend die Hand hob - wir grüßten zurück.
Es dauerte nicht lange, bis eine aus drei Waggons bestehende U-Bahn heranrasselte. Niemand ausser uns fuhr in der Bahn. Die grelle Innenbeleuchtung flackerte.
In einem der Abteile machten wir uns breit, Memphis legte die Füße auf die Sitzbank, ich tat es ihm gleich.
An der nächsten Station stiegen zwei Uniformierte hinzu - blaue Jacken mit der Aufschrift "Security". Die beiden Männer ähnelten sich wie Zwillinge. Kantige Gesichter, breite Schultern. Sie bauten sich vor uns auf.
"Ich nehme an, ihr habt keine Fahrkarten", sagte einer und zog die Mundwinkel nach unten.
"Wir haben kein Geld, also können wir auch keine kaufen." Memphis verschränkte die Arme vor der Brust und entspannte sich auf seinem Sitz. "Also fahren wir umsonst mit der Bahn."
Ich beschloß, seinem Rat zu folgen und blieb stummer Beobachter. Allerdings konnte ich mir ein Grinsen kaum verkneifen, als die beiden U-Bahnwächter Schulter an Schulter nähertraten, mit zu Schlitzen zusammengepressten Augen.
"Ihr dreckiges Pennerpack fliegt gleich aus dem Zug!"
Memphis polterte zurück:"Und wo sollen wir dann hin? Hier ist es wenigstens warm! Wir haben nichts, garnichts!"
Ich sah ihn mit weit offenem Mund an.
"Das ist mir egal, such Dir Arbeit, ich tu auch nur meinen Job!"
"Ich kann nicht mehr arbeiten!" Memphis sprang auf und fuchtelte mit den Armen. "Der Staat hat mich kaputtgemacht, ich hab Schulden, ich kann nicht mehr."
Er überschüttete die beiden mit einem Wortschwall, als müsste er gar nicht luftholen, erzählte von seinem kaputten Rücken, seinen fünf Kindern, die hungerten, daß er Alkoholiker wäre und auf Drogenentzug sei. Er appellierte an ihre Menschlichkeit und bat, wenigstens einmal ein Auge zuzudrücken.
Jetzt grinsten wir alle, auch die U-Bahnwächter.
Trotzdem flogen wir an der nächsten Station raus. Sie packten uns fest, nicht brutal und schleuderten uns aus der offenen Tür. Auf dem Bahnsteig fing eine dicke Gummimatte unseren Sturz auf.
Wir lagen nebeneinander auf der Matte und lachten ausgelassen.
"Mann, warum hast du denn so eine Show abgezogen?" fragte ich.
"Ich kannte die beiden Jungs, so ist es irgendwie noch lustiger."
"Memphis", sagte ich,"soviel Spaß hatte ich lange nicht wie heute Nacht."
"Siehst du, und du wolltest dich die ganze Nacht im Park rumtreiben, dabei gibt es hier noch viel mehr zu sehen."
Ich sah auf die Uhr in der Halle - es war vier Uhr morgens. Ich mußte gähnen.
"Warum kann man eigentlich nur nachts hierherkommen?"
Memphis zuckte mit den Schultern.
"Schätze, wegen der Atmosphäre. Zum Glück ist ja Wochenende."
Lachend verließen wir das Gebäude und verabschiedeten uns herzlich.
Als ich an den Kassen vorbeikam, mußte ich wieder lachen. Da lagen sie in den Regalen - die "Nacht im Park-Starterkits" für fünf Euro. Ein dicker Stapel Zeitungen. Ich passierte den Zubehör-Shop, den ich das nächste Mal nicht verschmähen würde. Jetzt wollte ich nur noch schlafen. Ich stieg in mein Auto und fuhr nach Hause.