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Nachsitzen
verstößt gegen alle Regeln der
Sch[SUP]w[/SUP]ulgemeinschaft!
Jedes Mal, wenn er diesen Spruch sah, musste er grinsen. An den ehemaligen Direktor konnte er sich kaum mehr erinnern ... Geiger, hieß der, oder? Überall im Schulhaus hatte er laminierte Zettel mit solchen Sprüchen angebracht. So eben auch hier im Klo, über dem Pinkelbecken. Erreicht hatte er damit nur, dass sich irgendwelche Deppen einen Spaß draus machten, sich selbst zu verewigen. Als ob einen, der das Klo verunreinigt, die Schulgemeinschaft interessiert ... Schwulgemeinschaft ... nicht gerade sehr kreativ. Im Mädchenklo hing ein anderer schlauer Spruch.
„Da ist auch was reingekritzelt“, hatten ihm Melissa und Sandra erzählt. BOAH! Echt krass: ... (Entfernt wegen rassistischen und frauenfeindlichen Inhalts. die Moderation). Er hatte da zwar eine Ahnung, aber so sicher war er sich nicht, dass er wusste, was das bedeutete.
Bastian schüttelte den letzten Tropfen ab, verstaute alles wieder an seinem Platz und trat ans Waschbecken. Dann stopfte er sich eine Handvoll Gummibärchen in den Mund und wusch alles mit einem Schluck Cola hinunter. Noch ein kurzer Blick aus dem Fenster, auf die tiefhängenden, grauen Wolken. Der Wetterbericht hatte Schnee vorhergesagt.
Er nahm den halb gegessenen Döner, den er sich nach der 6. Stunde vorn in der Nürnberger Straße gekauft hatte, drückte die Tür mit dem Ellbogen auf und trat in das Treppenhaus des Baron-von-Münchhausen-Gymnasiums Fürth. Es war Freitag, 14:15 Uhr, und Bastian musste nachsitzen.
Er hatte noch Zeit. Für 15:00 Uhr hatte ihn die blöde Kuh bestellt, an einem Freitag Nachmittag. Er hatte gehofft, seine Eltern würden ähnlich empört reagieren, aber die hatten den Brief von Frau Maierhöfer nur abgenickt: „Wenn du mal ’nen Job hast, kannst du auch nicht ständig zu spät kommen. Da gehst du schön hin. Dann bist du eben dieses Mal zum Training zu spät.“
Unter dem elektronischen Vertretungsplan standen noch ein paar Schüler, die er kannte, und er gesellte sich dazu, plauderte ein bisschen, ließ sich ausgiebig bedauern.
"Schau mal, Basti. Am Montag fällt Mathe aus ... Oh shit! Physik als Vertretung."
Da fiel ihm doch gleich noch so ein Spruch ein: PHYSIK IST EIN ARSCHLOCH ... hatte er selbst mal in der Pausenhalle an die Wand gekritzelt, und jemand hatte ergänzt ... UND MATHE IST IHR BRUDER. Das hatten die Putzfrauen aber schnell wieder weggemacht.
Physik was sein Untergang. Man musste kein Hellseher ein, um zu wissen, dass er wegen einer 6 in Physik die 9. Klasse noch mal machen würde. Garantiert! Schuld daran war Frau Barthelmess, die einzige Person in seinem Leben, für die er wirklich tiefen, inbrünstigen, glühenden Hass empfand.
In der zweiten Schulwoche hatte sie an einem Dienstag Nachmittag, in der 10. Stunde, neuen Stoff gemacht ... den radioaktiven Zerfall ... nur um dann am darauffolgenden Mittwoch, in der ersten Stunde, darüber eine Ex zu schreiben: Schnitt 4,92.
„Ich weiß gar nicht, was ich mit euch machen soll. Ihr seid einfach zu blöd fürs Gymnasium“, hatte sie beim Herausgeben gesagt.
Das gab einen regelrechten Aufschrei bei den Eltern, einen Aufstand. Seine Mutter war die Klassenelternvertreterin und im Elternbeirat, und sie hatte etwas von I.N.T.E.R.V.E.N.I.E.R.E.N. gesagt. Er wusste zwar nicht, was das bedeutete, aber es hatte ihm Hoffnung gemacht. Dann war sie mit einer Liste, auf der alle Schülereltern unterschrieben hatten, beim Direktor. Das muss ein kurzer Termin gewesen sein. Beim Abendessen hatte sie empört berichtet; irgendetwas wie „sei rechtlich in Ordnung,“ „nicht anfechtbar“, „läge in der Hand der Lehrkraft“, hatte er gesagt. Da könne er gar nichts tun. Aber er würde noch mal mit Frau Barthelmess reden. Und natürlich war gar nichts passiert; außer, dass Frau Barhtelmess jetzt noch fieser zu ihnen war.
Mit einem leisen BLING ging der Fernseher aus, der den Vertretungsplan projizierte. Bastian sah aufs Handy. 14:45 Uhr. Langsam wurde es Zeit.
Er verabschiedete sich von den anderen und schlenderte in Richtung der breiten Treppe davon, die hinauf in den ersten Stock führte. Noch ein Biss in seinen Döner, angewidertes Kauen. „BÖÄH!“ Kalter Döner schmeckt einfach Scheiße. Ein großer Mülleiner stand fünf Meter entfernt, und Bastian sah sich kurz um ... niemand zu sehen ... dann täuschte er rechts an, ging links vorbei, und stieg zu einem 3-Punkte-Wurf hoch. Er verfehlte den Eimer um einen guten Meter, und nun lag der Döner schön verteilt um den Mülleimer herum. Den Dreck einfach liegen lassen, das traute es sich dann doch nicht, also bückte er sich um die größeren Teile aufzuklauben. Dabei fiel sein Blick hinein.
Das Gewimmel war ekelig; fast konnte er die kleinen Zähnchen mahlen hören, als sich die Maden über die Essensreste hermachten. Ja Pfui Teufel! Er hatte genug gesehen, wandte sich ab und stieg die Treppe hinauf, vorbei an der Statue von irgend so einem Typen, der versuchte sich selbst die Haare auszureißen. Bescheuert. Oben angekommen, bog er nach links ab. Am Ende des Gangs war das Lehrerzimmer und gegenüber die A28. Dort sollte er sich um 15:00 Uhr einfinden.
Lange musste er nicht warten. Die Tür des Lehrerzimmers öffnete sich und Frau Maierhöfer trat heraus, in Begleitung von Frau Telfer. Die war OK. Er hatte sie letztes Jahr in Englisch gehabt. Die beiden Frauen gestikulierten heftig, und er hörte noch ein „So machen wir’s, und nicht anders. Basta und Ende der Diskussion.“ Frau Telfer zwinkerte ihm kurz zu.
„Na Bastian, wird’n langer Nachmittag, oder? Trotzdem schönes Wochenende.“
Bastian grinste, doch bevor er etwas erwidern konnte, kam Frau Maierhöfer auf ihn zugeklappert.
„So, auf geht’s“, sagte sie, „bringen wir es hinter uns.“
Sie sperrte die Tür auf. Ihr Parfum erschlug ihn fast und er fühlte sich versetzt in das Auto seiner Großeltern, in dem immer zwei, drei von diesen roten Duftbäumchen hingen.
„Setzt dich, wo du willst, Sebastian“, er konnte es nicht ausstehen, wenn man ihn Sebastian nannte, „nimm mal was zum Schreiben raus.“
Frau Maierhöfer ging zum Pult, legte dort einen Stapel Papier ab und kam zu ihm zurück. Sie ließ ein Buch vor ihn auf den Tisch plumpsen:
„OK. Du fängst vorne an mit Abschreiben und um fünf kannst du aufhören.“
Bastian nahm das Buch in die Hand und traute seinen Augen nicht: die Bibel? Fassungslos starrte er Frau Maierhöfer an:
„Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder? Verstößt das nicht gegen irgendeinen Paragraphen im Grundgesetz?“
„Das ist keine Demokratie hier, und beim nächsten Mal machst du da weiter, wo du heute aufhörst“, schnaubte sie und dampfte ab in Richtung Pult. Dort setzte sie sich hin und begann, Arbeiten zu korrigieren. Arschloch, dachte er sich. Er seufzte, nahm Stift und Papier zur Hand, schlug das Buch auf und fing an:
1. Mose 1, Vers 1: „Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.“ ... die Zeit verrann ... sie dehnte sich wie Kaugummi ... wurde immer länger.
Irgendwann lachte Frau Maierhöfer herzhaft und Bastian zuckte zusammen:
„Is the qualification of employees more importanter then his full character“, las sie vor, und dann noch mal lauter, ungläubiger: „ ’... more importanter then his full character?’ What the fuck!“, grunzte sie verächtlich und Bastian konnte hören, wie ein Stift mit einem kurzen, präzisen Ruck übers Papier geschickt wurde. „Setzen 6“, murmelte sie und nahm das nächste Blatt zur Hand. Inzwischen stank das ganze Zimmer nach diesem scheußlichen, süßen Parfum. Aus irgendeinem Grund musste Bastian an den Mülleimer denken und seine Mundwinkel kräuselten sich.
„Darf ich was trinken?“
„Nee! Getränke sind im Klassenzimmer nicht erlaubt.“ Sie stand auf, verließ das Zimmer und kam kurz darauf mit einer dieser Schäfchentassen wieder zurück, die sie vor sich auf das Pult stellte. Bald mischte sich der Geruch von Kaffee zu dem ihres Parfums.
„Ich dachte, trinken ist hier nicht erlaubt.“
„Jetzt werd’ nicht frech und schreib weiter.“
„Und am fünften Tage sagte Gott: Die Erde bringe hervor Tiere und Gewürm, ein jedes nach seiner Art. Und so geschah es und Gott sah, dass es gut war.“
Irgendwann zwickte es in Bastians Eingeweiden. Wie hatte Dr. Sauer das genannt? Reizdarm. „Scharfes Essen solltest du gänzlich vermeiden; das verträgt dein Verdauungssystem überhaupt nicht.“ Es zwickte wieder, länger und schmerzhafter, und dieses Mal meldete sich Bastian:
„Frau Maierhöfer, darf ich aufs Klo, bitte?“
„Can you say this in English, please?“
„Can I go to ... „
„May I, Sebastian, MAY. Why is that so difficult?“
„MAY I go to the men’s room, please?“ Oh bitte, ich muss echt.
„Of course, but don’t take too much time.“ Bastian stand auf und ging. Stimmte schon, er konnte sie nicht leiden, aber wenn er geahnt hätte, dass das die letzten Worte waren, die er aus dem Mund von Frau Maierhöfer hören sollte, dann hätte er sich zumindest verabschiedet.
Als er wieder zurückkam, war der Platz am Pult leer. Wahrscheinlich ist sie mal ins Lehrerzimmer. Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah aus dem Fenster. Draußen war es dunkel geworden und es hatte tatsächlich begonnen zu schneien. In zwei Wochen war Weihnachten. Seine Eltern hatte er so lange bearbeitet, bis sie frustriert nachgegeben hatten und ihm seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen würden: einen eigenen Fernseher ... in seinem Zimmer. Goil!, freute er sich.
Das musste gefeiert werden: mit einer Handvoll Gummibärchen und einem ordentlichen Schluck Cola.
So träumte er eine Weile vor sich hin, bis ihm irgendwann auffiel, dass Frau Maierhöfer immer noch nicht zurück war. Na die ist aber lang weg. Er zog schnell das Handy aus der Tasche und riskierte einen Blick auf den Startbildschirm. Wenn sie jetzt reinkommt, dann nimmt sie mir das Handy übers Wochenende ab. Er gab seinen Code ein, 16:50 Uhr und eine Nachricht von Jockel:
„Was ist los? Kommst du nicht zum Training?“
Sollte er sich trauen? Besser nicht. Nur noch 10 Minuten. Das würde er jetzt auch noch schaffen.
Er schrieb noch ein paar Zeilen aus der Bibel ab, dann war er fertig, packte Stift und Mäppchen weg und sah sich um. Wo bleibt die nur? Verärgert lehnte er sich zurück und fing an, nervös auf dem Tisch zu trommeln. Irgendwann ... inzwischen brodelte es in ihm ... stand er auf. Bin ich hier bei Versteckte Kamera? Sollte er warten? Ihr sein Geschreibsel und die Bibel aufs Pult legen und gehen ... und dafür am Montag einen fürchterlichen Anschiss riskieren? Bastian entschied sich für einen Mittelweg. Er zog sich die Jacke an, hängte seine Sporttasche um und trat ans Pult.
Sie war tatsächlich dabei zu korrigieren. „2. Schulaufgabe aus dem Englischen“, las er, „10C“, und rechts oben einen schöne, runde, rote 6. Die armen Schweine. Auf dem Tisch stand noch die Tasse Kaffee, halb ausgetrunken, Lippenstift am Rand, von wegen Schäfchen. Vom Lehrerstuhl aus gesehen stand da:
„Smile. You can’t kill them all.“
Unglaublich! Er legte seine Papiere und die Bibel aufs Pult, ging zur Tür, öffnete sie und sah hinaus in den Gang.
Als erstes fiel ihm auf, wie dunkel es vor der Tür war. Der Hausmeister hatte schon das Licht abgeschaltet. Nur eine Notbeleuchtung war noch an, und aus der angelehnten Lehrerzimmertür schien noch Licht und schnitt einen hellen Keil über den dunklen Gang. Bastian stand eine Weile so da, in der offenen Tür von A28, wieder unschlüssig, wie es nun weiter geh’n sollte.
„Hallo! ... HALLOOOHOHH!“ Er lauschte eine Weile in die Stille ...
„Frau Maierhöfer, sind Sie da?“
Aber Frau Maierhöfer antwortete nicht; auch sonst niemand. Und wer sollte nach fünf am Freitagabend auch noch in der Schule sein? Außer Frau Maierhöfer natürlich, die war Mitglied der Schulleitung und hatte einen Schlüssel fürs Haus. Plötzlich hatte er Angst:
„Frau MeierHÖFER!“, dieses Mal lauter, und dann noch mal, richtig laut!
Aus den Tiefen der langen, kalten Gänge kam nur das Echo als Antwort zurück. Bastian schluckte. OK. Das war’s. Ich hau ab. Hoffentlich sind die Türen noch auf. Er setzte sich in Bewegung und war gerade bei dem hellen Streifen Licht angekommen, der durch die angelehnte Lehrerzimmertür drang, da hörte er drin ein Geräusch.
„Frau Maierhöfer?“, diesmal fragend, „sind Sie da drin?“
Natürlich wusste Bastian, dass es Schülern streng verboten war, das Lehrerzimmer zu betreten. Andererseits? Vielleicht war Frau Maierhöfer etwas zugestoßen. Vielleicht hatte sie gerade einen Herzinfarkt. Vielleicht wird sie gerade von einem Werwolf gefressen. Bei dem Gedanken musste Bastian grinsen:
„Ach, was soll’s.“
Er berührte die Klinke der Lehrerzimmertür, und ... in dem Moment ging drin das Licht aus. Angst ballte sich in seinem Magen zu einem Klumpen zusammen und mit einem Mal war sein Mund ganz trocken. Er dachte noch an die Flasche Cola, als er die Tür langsam aufzog.
„Frau Maierhöfer“, diesmal nur ein Flüstern. Er lugte um die Ecke des Türstocks.
Inzwischen hatten sich seine Augen an die Dämmerung gewöhnt, und in dem spärlichen Licht, das die Straßenlaternen spendeten, konnte er Tische erkennen, Stühle, ein Infobrett, eine lange Reihe Schließfächer, die sich über die komplette Stirnseite zu erstrecken schien. Der hintere Teil des Raums lag in tiefer Dunkelheit. An der Stelle, wo man normalerweise den Lichtschalter erwarten würde, war nur glatte, kalte Wand. Oh Mann! Was mach’ ich hier eigentlich für’n Scheiß?
Gerade wollte er sich zurückziehen, da hörte er wieder ein Geräusch, eine Art Schaben. Aus den Augenwinkeln nahm er dort hinten eine Bewegung wahr, nicht viel, nur die Ahnung eines Schattens in den Schatten. Der Klumpen in seinem Magen stieg hinauf in seine Kehle. Die kleinen Härchen an seinem Nacken stellten sich auf und kratzen an seinem T-Shirt ... ein ganz und gar unangenehmes Gefühl. W A S W A R D A S ? Eine Stimme in seinem Inneren rief, nein, schrie ihm zu: Verpiss dich! Lauf, was du kannst ... so schnell und so weit weg wie nur möglich! Aber da war auch noch eine andere Stimme, die flüsterte: Schau doch mal nach. Na komm. Du willst es doch auch wissen. Ein paar Momente lang tobte der Kampf in ihm, und dann war die Schlacht gewonnen ... von der zweiten, der leisen Stimme. Wenn ich diese Geschichte am Montag erzähle, bin ich für den Rest des Schuljahres der Superheld. Der Gedanke verlieh ihm Mut.
Bastian machte zwei, drei Schritte in den Raum hinein, den Blick fest auf das Schwarz gerichtet, aus dem immer noch dieses leise Schaben kam, und jetzt, da Bastian ein wenig näher war, glaubte er gar, ein leises Schmatzen vernehmen zu können. Noch ein Schritt ... und es schmatzte wieder ... das waren seine SCHUHE! Auf dem Boden war etwas Klebriges, und jedes Mal, wenn er einen Schuh hob, war dieses Schmatzen zu hören. Wie Kaugummi fühlte es sich nicht an. Bastian blickte hinunter und ärgerte sich über sich selbst. Vielleicht hätte er doch intensiver nach dem Lichtschalter suchen sollen. Dann spürte er einen Gegenstand unter seinem Schuh. Ganz langsam, und ohne seinen Blick von besagter Stelle abzuwenden, bückte er sich und hob ihn auf.
In diesem Moment knackten seine Knie. Bastian hielt die Luft an. Stille. Plötzlich ein Rascheln, ein Schleifen, das schnell lauter wurde. Etwas kam auf ihn zu: ein schleimiges, kriechendes Etwas. Bastian kreischte ... oder heißt es ‚krisch’? ... Na egal ... Bastians Kreischen zerriss die Stille des Baron-von-Münchhausen-Gymnasiums Fürth. Er machte kehrt und rannte in Richtung Tür. Einen Moment lang war er in Panik, denn er konnte sie nicht gleich finden, doch dann ertasteten seine Finger das kühle Metall des Griffs. Er riss sie auf und stürzte hinaus auf den Flur, bog links ab, rannte am Sekretariat vorbei in Richtung Treppe. „Scheiße!“ In der Rechtskurve rutschte er aus und knallte der Länge nach hin. Als er sich hoch stützte, bemerkte er, dass auch hier jemand etwas Klebriges verschüttet hatte.
Am Treppenabsatz war noch eine Lampe an und dort hielt er inne. Er versuchte, sein Schnaufen in den Griff zu bekommen und kam sich plötzlich recht kindisch vor. Das hast du dir doch alles nur eingebildet, flüsterte die zweite Stimme. Noch immer hielt er den Gegenstand umklammert, den er im Lehrerzimmer aufgelesen hatte. Seine Hand öffnete sich. Er blickte hinunter und glotze das Ding verständnislos an. Die Ränder waren nass und irgendwie ausgefranst; im Licht der Notausgangslampe glitzerte es rosarot und Bastian brauchte einen Moment, bis er kapierte: Was da auf seiner Hand lag, war ein Finger, genauer gesagt, ein Daumen ... ohne Hand und Nagel, aber ganz klar ein Daumen.
Mein Gott ... jemand ... etwas ... hatte Frau Maierhöfer gefressen.
Dann fiel ihm auf, dass seine Hand rot war, und nicht nur die. Seine ganze Vorderseite, sein Shirt, auch seine Schuhe, waren rot verschmiert. Ist das Blut? Er starrte abwechselnd auf den Daumen und an sich hinunter, bis das Gefühl der Panik einem anderen Gefühl wich: Er würde gleich kotzen. Dann rannte er ... Nein! flog ... die Treppe hinunter in Richtung Klo. Etwa auf halber Höhe bemerkte er, dass er es nicht schaffen würde. Seine Kehle und dann sein Mund füllten sich, aber er presste tapfer die Lippen zusammen. Und dann tat er etwas so Mutiges, etwas so Außergewöhnliches, etwas, von dem er nie gedacht hätte, dass er dazu fähig sein würde: Er schluckte alles wieder hinunter! Unten angekommen hechtete er wie ein Torwart auf die Klotür zu. Sein Magen verkrampfte sich zu einer Faust, und dieses Mal ... das spürte er ... würde er es nicht zurückhalten können.
Die Tür konnte er noch aufreißen, dann kotzte er einen brockigen Strahl stinkender, brauner Flüssigkeit in den Toilettenraum. Alles ... Cola, Döner, Gummibärchen ... platschte gegen das Porzellanwaschbecken und den Spiegel. Er hielt kurz inne um Luft zu bekommen. Kalter Schweiß klebte an seine Stirn, und seine Beine fühlten sich taub an. Doch dann wurde ihm wieder schlecht. Als es in ihm hochstieg wie in einem Kanalschacht während eines Sommergewitters, ließ er die Klinke los und wollte einen Schritt nach vorn machen, und nach rechts, zu den Toilettenabteilungen. Doch er rutschte auf dem mit Kotze besudelten Boden weg und ruderte hilflos mit den Armen. Dann fiel er nach vorne und seine Stirn knallte mit einem saftigen PLONK auf den Rand des Waschbeckens. Ihm wurde endgültig schwarz vor Augen und er sank zu Boden. Seinem Magen war das egal.
Als er wieder aufwachte, wusste er erst mal nicht, wo er war, geschweige denn, wie lange er dort gelegen hatte. Doch der beißende Gestank in seinem Gaumen und seiner Nase brachte ihn recht schnell in die Wirklichkeit zurück. Er setzte sich auf, griff sich den Rand des Waschbeckens und zog sich hoch.
„Scheiße Mann!“, fast hätte er laut losgelacht. Die Gestalt, die ihm da aus dem Spiegel entgegengrinste, schien geradewegs aus einem Horrorfilm entsprungen zu sein. Haare klebten an seinem Schädel und auf seiner linken Wange, um Mund und Nase, war die Soße bereits getrocknet und hatte eine braune Kruste gebildet. Die stattliche Beule auf seine Stirn schillerte in den Farben der Flagge Gabuns: gelb, grün und blau. Er sah sich um. Na da wird die Putzfrau sich aber freuen. Dann fiel ihm ein, was ihn eigentlich in den Toilettenraum geführt hatte, und sein nächster Gedanke war: Ich muss mich setzen. Er wankte in ein Abteil, drehte das Schloss und setzte sich auf den Klodeckel.
Etwas hatte Frau Maierhöfer gefressen.
Eine Weile saß er so da und versuchte, die in ihm aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen, da hörte er, wie etwas ... jemand? ... die Klotür öffnete. Er wünschte sich inständig, es wäre die Putzfrau, aber die Sauerei, die er im vorderen Teil des Klos veranstaltet hatte, störte den Neuankömmling offenbar überhaupt nicht. Da war ein Schieben ... oder war es ein Ziehen? ... und mit einem leisen Knurren schaffte sich etwas an seiner Tür vorbei, hielt kurz inne ... das spürte er genau ... und machte dann weiter in das angrenzende Kloabteil. Entsetzt lauschte Bastian den Geräuschen, die von dort zu ihm herüber drangen: ein Reißen und Schlitzen; ein Knacken, als ob Äste zerbrochen würden, dann wieder ein saftiges Schmatzen und noch andere Töne, für deren Ursprung sich Bastians Gehirn weigerte Bilder zu produzieren.
Plötzlich wurde der Klodeckel mit einem lauten PENG! nach oben geschlagen. Ihm entwischte ein erschrockenes AHH!, das glücklicherweise in dem kurzen Echo des Knalls unterging, aber ein paar Sekunden lang war es so still, dass man die sprichwörtliche Stecknadel hätte fallen hören können. Wenn er sich jetzt verriet ... da war er sich sicher ... dann war es aus. Doch das ... was auch immer es war ... schien keinen Verdacht zu schöpfen und die Geräusche wurden nasser, wurden zu einem gierigen Schlucken, einem Saufen. Es ist ein Kamel, dachte Bastian irre, ein Kamel, das seit Wochen nichts mehr getrunken hat. Dann ein satter und befriedigter Rülpser, und nach einem lang anhaltenden Schleifen ... als ob man vom Wohnzimmer aus dem Kaminkehrer zuhört ... kehrte wieder Stille ein im Jungenklo. Und diesmal blieb es still. Bastian wartete, bis er sich hundertprozentig sicher sein konnte, das einzige atmende Wesen im Raum zu sein, dann stand er mit wackeligen Beinen auf, stieg auf seinen Klodeckel, griff die obere Kante der Trennwand und zog sich hinauf. Vorsichtig spähte er hinüber ... und seine Augen weiteten sich:
Der Klodeckel stand offen. Das Weiß des Porzellans war über und über mit roter Farbe beschmiert, und Bastian konnte in dem Rot weiße Klümpchen und Haare erkennen. Graue Splitter klebten an der Schüssel und innen am Klo. Der Siphon war trocken; er schaute das Rohr hinunter bis zu der Biegung, wo es in dem gekachelten Fußboden verschwand. Ansonsten war das Abteil leer.
Sein Gehirn raste und die Erkenntnis war zum Greifen nahe, da krachte etwas von unten gegen den Klodeckel, auf dem er stand ... und gleich noch mal. Um ein Haar wäre er heruntergestürzt, aber inzwischen hatte er verstanden, und stellte sich geistesgegenwärtig mit seinem ganzen Gewicht mitten drauf. Es krachte wieder, der Deckel hob sich ein paar Zentimeter, Bastian auch, und dieses Mal war ein besorgniserregendes KRACKS! zu hören. Er stützte sich rechts und links mit den Armen ab, sah hinunter und erschrak. Unter seinem Gewicht beulte sich der Deckel bedenklich aus und ein Sprung lief diagonal darüber. Absteigen war eine ganz schlechte Idee; beim nächsten Schlag, allerdings, splitterte der Deckel auch schon und er rutschte mit beiden Füßen in das Klo. Die scharfen Kanten zerkratzten ihm Schienbeine und Waden, doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu dem, der gleich folgen sollte. Etwas packte seinen linken Fuß und es fühlte sich an, als ob er in einen Gartenhäcksler getreten wäre. Sein Schmerzensgebrüll hallte bis in den einsamsten Winkel des Schulhauses. Dann hatte er sich wieder im Griff, stellte den rechten Fuß auf den Rand des Klos und drückte sich mit aller Kraft nach oben. Er zog etwas heraus.
Ungläubig starrte er das große, braune, schleimige Ding an, in dessen weichem Maul sein linker Fuß vollständig verschwunden war. Mit harten Widerborsten krallte es sich im Abflussrohr der Toilette fest und ließ sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Und die Erde bringe hervor Tiere und Gewürm und so geschah es, und Gott sah, dass es gut war ... Danke lieber GOTT! Er spürte, wie in dem schleimigen Maul etwas ruckte und wieder schoss ein glühender Schmerz sein Bein hinauf. Dann reagierte er und schob das Ding gegen die scharfe, splitterige Kante des Klodeckels. Oh ja, das tut weh. Kann mal jemand Greenpeace anrufen? Ich foltere eine gerade entdeckte neue Spezies. Schreien konnte es offenbar nicht, aber das Wesen wand sich vor Schmerzen und noch einmal drückte Bastian mit aller Kraft zu. Dann war sein Bein frei und er riss es heraus. Sein Sneaker blieb verschwunden und sein Fuß war bis hinauf zum Knöchel mit Schnitten und Rissen übersäht. An einer Stelle schimmerte der Knochen durch. Er blutete stark.
Aus der Schüssel drang ein drohendes Blubbern. Bastian stöhnte auf, aber er riss sich zusammen und stieg runter. Vor der Tür seines Abteils konnte er nasse, rote Schleifspuren sehen. In seiner Toilette war ein lautes PLATSCH! zu hören und Bastian humpelte zur Tür, betrat die dunklen Gänge seiner Schule, beseelt nur von einem Gedanken: Ich muss hier raus!
Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte er es ins Erdgeschoss. Am Ende des langen Gangs war die Glastür, die auf den Pausenhof führte.
Draußen schneite es jetzt stärker. Dicke, weiße Flocken, die langsam zu Boden taumelten. In den Häusern freute man sich auf das Abendessen, Kinder schrieben Wunschzettel, Männer nahmen ihre Frauen in den Arm.
Auf dem Pausenhof saß die Dunkelheit und sah eine Weile dem Jungen zu, der da mit den Fäusten von innen gegen das Sicherheitsglas hämmerte, Panik in den Augen, stumme Schreie auf den Lippen. Dann wurde es ihr langweilig. Teilnahmslos wandte sie sich ab und gesellte sich zu den zwei Eichhörnchen, die auf den Ästen einer alten, verkrüppelten Buche Fangen spielten. Sie sah nicht mehr, wie der Junge sich plötzlich umdrehte und um sich zu schlagen begann. Auch nicht, wie er stürzte und mit einem Ruck im dunklen Gang verschwand.
21:30 / In der Notrufzentrale Fürth klingelte das Telefon:
„Hallo, meine Name ist Johannes Enzer. Ich möchte meinen Sohn als vermisst melden. Er ist heute nach dem Training nicht heimgekommen.
xxx
sunny16: Die Geschichte hat ein alternatives Ende bekommen
http://www.wortkrieger.de/entry.php?314-Pumpkin-Tribute-Nachsitzen-ein-alternatives-Ende
die Qual der Wahl,
Thomas